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4. Kapitel.

Das Leichenbegängnis entbehrte, gemäß der letztwilligen Verfügung des Herzogs, jeglichen Prunks. Schon vor Jahren hatte er den einfachen, aber kostbaren Sarg aus schwarzem Marmor fertigen lassen, der seinen Leichnam bergen sollte. Er war ohne allen Zierat, zeigte nur in Goldbuchstaben den Namen Geburtstag und Jahr, daneben einen freien Raum für Todestag und -jahr und darunter die Worte: »Gott sei mir gnädig!« Mit einer stillen Feier wurde er in die Gruft gesenkt, in der alle Vorfahren ruhten.

Unnötigen Aufwand und Gepränge hatte der Herzog in seinem letzten Willen untersagen können, nicht aber, daß aus allen Teilen des Landes Abordnungen und Volk herbeigeströmt kamen, um dem Landesherrn die letzte Ehre zu erweisen. Der Adel war von seinen Landsitzen herbeigeeilt und neben ihm sah man bäuerliche Gesichter und Trachten und Kleinbürger, die in Röcken aus Vorväterzeiten ankamen. Der Herzog hatte wohl mit strenger, vielleicht zuweilen auch harter Hand regiert, nun aber, da er gestorben war, kam es doch vielen zum Bewußtsein, wie sicher man unter seiner Obhut gewesen, wie alles gewachsen und gediehen war, und nicht ohne Sorge blickten sie auf den hochaufgeschossenen Jüngling, der, heute noch ein Minderjähriger, binnen kurzem an die Stelle des alten, erfahrenen Mannes treten sollte. Und dazwischen gab es Regentschaft, Weiberherrschaft, denn der Herzog hatte in seinem letzten Willen die Frau Erbprinzessin unter Ausschluß des nächsten Agnaten zur Regentin eingesetzt.

In Majorsuniform mit schwarzumflortem Portepée stand der junge Herzog in kerzengerader Haltung vor dem Thron. Er war sehr ernst und auch ein wenig befangen, aber beides kleidete ihn gut, und wie er sich mit dem jungen Gesicht von dem leuchtenden Purpur des Krönungsmantels abhob, fanden alle rundum, daß er hübsch und sympathisch sei. Neben dem Herzog stand die Regentin in tiefer Trauer und ebenfalls sehr ernst, wie es sich für diese Stunde ziemte. Sie fühlte voll Befriedigung, daß sie, zusammen mit dem Sohn eine wirkungsvolle Gruppe bildete und beglückwünschte sich zu dem Gedanken dieser improvisierten Huldigung.

Minister, Hofchargen, Adel, Beamtentum und Offiziere waren defiliert, hatten ehrfurchtsvoll die Knie gebeugt und sich über die schmale Jünglingshand geneigt, die sich ihnen zum Kusse darbot, hatten nicht weniger ehrerbietig, ja vielleicht tiefer als dem Jüngling der Regentin gehuldigt, deren Auge schon heute Unterwerfung forderte, als Adalbert durch eine seltsame Geste den harmonischen Eindruck des höfischen Vorgangs störte. Es kamen nämlich bäuerliche Dorfschulzen, deren Ehrfurcht es nicht genügen wollte, die übliche Kniebeuge zu machen, und so knieten sie demütig vor die Stufen des Thrones hin, wie sie wohl am Sonntag in der Kirche zum Gebet hinknieten. Da errötete der junge Herzog in großer Verlegenheit, stieg zwei Stufen herab, streckte den Dorfschulzen beide Hände entgegen und sagte mit erstickter, beinahe bittender Stimme:

»Nein, steht auf, Ihr sollt nicht vor mir knieen!«

Rundum allgemeines Staunen und verständnisloses Blickewechseln. Die Dorfschulzen, unfähig zu begreifen, was der Herzog meinte, überwältigt von der Gnade, daß er ihnen die Hände entgegenstreckte um sie aufzuheben, beharrten dabei, daß es sich für sie nicht anders zieme, als vor ihm zu knieen, und weil sie dabei hochrote Köpfe bekamen und ungeschickte Bewegungen machten und der Herzog mit seinen ins Leere ausgestreckten Händen auch ein wenig absonderlich wirkte, gewann die ganze Szene einen grotesken Anstrich. Die Regentin biß sich auf die Lippen, um ihren Unmut zu verbergen, die Hofschranzen lächelten insgeheim und fanden das Benehmen des Herzogs ebenso unpassend wie amüsant, und die alte Oberhofmeisterin stellte in plötzlicher Ernüchterung fest, daß Hoheit doch ein schlecht erzogener junger Mann sei.

Als sie später unter vier Augen allein waren, hatte die Regentin mit ihrem Sohn eine scharfe Auseinandersetzung, die auch durch die französische Sprache, deren sich beide bedienten, nicht milder wurde. Die Frau Erbprinzessin sprach nämlich, seit sie Regentin hieß, nur noch französisch mit ihrem Sohne, nannte ihn »Sie« und hatte ihm bedeutet, daß das bis jetzt üblich gewesene »Frau Mutter« durch »Madame« zu ersetzen sei.

»Was fällt Ihnen ein, mein Sohn! Derartige Verstöße gegen die Etikette dürfen nie wieder vorkommen. Das Zeremoniell für alle Handlungen des Fürsten ist streng vorgeschrieben und kann nicht umgangen werden ohne schwere Konsequenzen nach sich zu ziehen. Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern sagen, daß Sie sich heute durchaus nicht wie ein Fürst benommen, ja, daß Sie sich lächerlich gemacht haben!«

Adalbert entgegnete mit all dem Überschwang, den er von Thurnes übernommen hatte:

»Mag die Menge sagen, daß ich mich lächerlich gemacht habe. Ich aber sage Ihnen, Madame, daß ich Recht habe, denn ein freier Mann kniet nicht vor einem andern. Ein freier Mann kniet nur vor Gott!«

Die Regentin nahm ihre Lorgnette und sah den Sohn durch das Glas an, als wäre er ihr ein fremdes Wesen. Sagte dann in leichterem Ton als vorhin:

»Ich entsinne mich solche Dinge in Büchern gelesen zu haben. Sie gehören in Bücher, wo sie sich hübsch ausnehmen. In der Wirklichkeit aber schickt es sich, daß der Bauer vor seinem Fürsten kniet. Seien Sie nicht schwach und geben Sie sich diesen Leuten gegenüber keinen falschen Sentiments hin, sonst ist es ein für allemal um den Respekt geschehen.«

Und Adalbert wiederum voll Überschwang:

»Mag der Respekt dahinfahren, ich verlange ihn nicht. Ich will von meinen Untertanen geliebt werden!«

Die Sache fing an die Regentin zu langweilen.

»Das steht ebenfalls in Büchern und ist rührend zu lesen. Regierungskunst aber lernt man nicht aus Büchern, sondern schöpft sie aus der Erfahrung derer, die vor uns regiert haben!«

Der Herzog entgegnete nichts mehr. Er hüllte sich in ein hochmütiges Schweigen. Was wußte seine Mutter mit ihren überjährigen Ansichten von Fürsten und Fürstenpflichten, wie Jean Jacques sie verstand?! Die Regentin war klug, hatte nicht nur aus enttäuschter Fraueneitelkeit, sondern auch aus dem Instinkt heraus eine gewisse Abneigung gegen Melchior Thurnes, ahnte wohl, daß diese überflüssigen und, wie es ihr schien, gefährlichen Sentiments des Sohnes vom Erzieher herkamen und beschloß, diesen bei passender Gelegenheit zu entfernen. Nicht gleich, nicht in den nächsten Wochen oder Monaten, denn die Regentin wollte während des Trauerjahres alles beim Alten belassen. Das sah gut aus, schläferte Argwohn und Zweifel ein, die sich jetzt vielleicht da und dort regten, und ließ der Regentin Muße, genau zu bedenken, wie nach Ablauf des Trauerjahres allmählich alles nach ihrem Willen geändert werden und gehen sollte. Vorläufig genügte es ihr schon, Regentin zu sein und zu heißen, statt dieses lächerlichen »die verwitwete Frau Erbprinzessin«, das immer wie ein uneingelöstes Versprechen geklungen und sie als ein Wesen hingestellt hatte, das weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft besaß.

Zunächst beschäftigte sich die Regentin aber nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, mit außer- und innerpolitischen Plänen, sondern dachte nur daran, ihr Leben, soweit es anging, nach dem Vorbild Versailles umzumodeln. In bescheidenen Grenzen natürlich, denn die Finanzen des Hofes war geordnet, aber bescheiden, und wollte man nicht Unzufriedenheit im Lande erregen, so mußte man mit der Ausschreibung neuer Steuern oder der Einführung ähnlicher Lasten vorsichtig sein. Aber sobald das Trauerjahr zu Ende war, wollte die Regentin das Lustschlößchen Annenruh, das ihrer Schwiegermutter gehört hatte, in »Monplaisir« umtaufen und sich dort eine Art Klein-Trianon errichten.

Allerdings war man, wie es leider der Provinz immer passiert, hinter der Mode um ein gutes Stück zurück. Im wirklichen Klein-Trianon ging es schon nicht mehr so fröhlich her, wie vor Jahren, und wenn die Regentin nach Versailles hindachte, wurde sie ernst und ihre Stimme mitleidig. »Die armen Majestäten! Wer hätte vor fünfzehn oder zwanzig Jahren gedacht, daß die Verhältnisse in Frankreich je so unerquicklich werden könnten! Diese ewige Finanzmisere, diese ewigen Mißernten und strengen Winter! Und immerfort war der dumme Pöbel aufsässig gegen das Herrscherpaar, gerade als ob Ludwig oder Marie Antoinette dafür könnten, daß die Ähren auf dem Felde taub standen oder die Winterkälte von Tag zu Tag stieg. Als ob die armen Majestäten es nicht schwer genug hätten! Als ob es für die gute Königin nicht schon schlimm genug wäre, daß sie immer mit einem neuen Finanzminister rechnen mußte, der, so verschieden er auch von seinem Vorgänger sein mochte, stets dasselbe Programm präsentierte: »Größte Sparsamkeit.«

Die Regentin dachte natürlich nicht daran, sich jemals dem künftigen Herrscher gegenüber für irgend etwas zu verantworten und überlegte schon jetzt klar und kühl, wie sie sich auch für spätere Jahre der Zügel der Regierung versichern konnte. Vielleicht, so dachte sie, ist es ganz klug, den Magister bis auf weiteres zu behalten. Er wird Adalbert in seinen Träumereien und seiner Versponnenheit bestärken, und das ist am Ende nicht so übel, wie es aussieht, denn mein Sohn hat sicherlich keine Eigenschaften zum Regieren, und da ist es besser, wenn man den Ehrgeiz in ihm gar nicht erst weckt, ihn bei seinen Neigungen und einer Scheinherrschaft läßt, indes hinter ihm im Stillen eine starke Hand die Regierung führt. Allerdings mußte dem jungen Herzog allmählich ein gewisser Schliff der großen Welt beigebracht werden, damit solch peinliche Vorkommnisse wie bei der Huldigung nicht mehr vorkämen, solchen Schliff aber konnte er natürlich nicht von Melchior Thurnes empfangen. Die Regentin beschloß, den Abbé mit dieser Aufgabe zu betrauen, auch sollte er oder ein freundlicher Kammerherr in einiger Zeit den jungen Herzog in jenes holde Reich einführen, das ihm bis zur Stunde noch verschlossen geblieben und nach dem er, wie es schien, bis jetzt auch kein Verlangen getragen hatte.

Kurze Zeit nach Adalberts Mündigkeitserklärung wurde auf dem Schloßplatz das Reiterstandbild des verstorbenen Herzogs enthüllt. Die Feier verlief, wie all diese Feiern verlaufen, mit Ansprachen, Trommelwirbel und Tusch, und als nun die Hülle von dem Denkmal fiel, blickten alle gespannt und dann wie hingerissen zu der erzenen Gestalt auf dem marmornen Sockel empor. Allen war es, als wäre der Mann da oben nicht nur ein Standbild, sondern als weilte er noch lebendig unter ihnen, denn der Künstler hatte ihn ohne alle Steifheit, ohne alle heldische Verklärung aufgefaßt, sondern gerade so, wie ihn das Volk hundert- und aberhundertmal im Leben gesehen hatte. Auf hochbeinigem Gaule saß er, stämmig und straff wie er in jüngeren Jahren gewesen, die linke Hand hielt die Zügel des dahinsprengenden Pferdes, mit der ausgestreckten Rechten wies er nach einem fernen Ziele, und das etwas seitlich gewandte Gesicht schien zu befehlen: »Mir nach!« Wie ein Strom des Lebens und der Kraft ging es von diesem Erzbilde aus, riß in einem Wirbel alle zu dem Toten hin, daß sie nur noch an ihn dachten und vergaßen, daß ihm gegenüber sein junger Enkel stand. Adalbert wandelte plötzlich eine Schwäche an, die er sich nicht erklären konnte, alles verschwamm im Nebel vor seinen Blicken, aber durch den Nebel hindurch glitzerte dies Auge auf ihn herab, und wie er den Blick auch hartnäckig senkte, so fühlte er doch, wie es ihn verfolgte und bedrohte. Immer dichter ward der Nebel, der junge Herzog griff wie hilfesuchend mit den Händen ins Leere, schwankte, und schien einen Augenblick dem Umsinken nahe. Riß sich aber wieder gewaltsam zusammen, wie vor Jahren, da er neben dem Großvater in der Kirche stehen mußte, und hielt nun aus bis die Truppen abgezogen waren und die Menge anfing sich zu zerstreuen.

Die Herzogin Mutter war über den kleinen Vorfall tief bestürzt. Er hatte einen schlechten Eindruck gemacht, das konnte sie sich nicht verhehlen. Schwächlich und kränklich war der junge Herrscher erschienen, doppelt schwächlich, da dicht hinter ihm sein Vetter Karl Leopold stand, der von der Militärakademie in Berlin gekommen war, die Uniform der Ziethenhusaren trug und mit der hohen Bärenmütze und der scharlachroten Uniformbrust aller Blicke auf sich gelenkt hatte. Dem höfischen Kreise war er noch besonders aufgefallen durch eine merkwürdige Art des Grußes, bei der er, als wäre er eine Marionette, mit einem Ruck den Kopf senkte und mit einem zweiten Ruck wieder steif aufrichtete. Einige wenige fanden diese Art absonderlich, die meisten aber flüsterten ehrfurchtsvoll »das hat er auf der Militärakademie gelernt!«, und die meisten jungen Hofherrn waren entschlossen, sich diesen Berliner Gruß anzugewöhnen. Noch eine andere Sorge bedrängte die Herzogin-Mutter. Wenn Adalbert etwa doch kränker wäre, als man seinem frischen Aussehen nach vermuten konnte? Wenn dieser Schwächeanfall etwa nicht nur ein flüchtiges Unwohlsein, sondern ein Anzeichen tieferen Leidens wäre? Sie erschrak bei dem Gedanken und ließ, trotz Adalberts Sträuben, den Hofmedikus kommen, der den jungen Herzog gründlich untersuchen mußte.

Er stellte fest, daß alle Organe heil waren und daß der kleine Schwächeanfall nur ein Zufall gewesen sei, wie er bei jungen Leuten häufig vorkomme, hauptsächlich wenn sie (der Hofmedikus lächelte diskret) so weltabgewandt lebten, wie Seine Hoheit es bis zur Stunde getan …

Die Herzogin-Mutter atmete auf und beschloß, daß nun der freundliche Kammerherr unverzüglich seine zarte Mission zu beginnen habe. Adalbert erwies sich bei diesen kleinen Abenteuern ganz anders, als der Kammerherr und die Herzogin-Mutter, die sich stets genauen Bericht erstatten ließ, vermutet hätten. Er war weder schüchtern noch albern, sondern entwickelte Kühnheit und ein Temperament, das sowohl die Beteiligten wie die Unbeteiligten höchlich verwunderte. Aber es war nur Strohfeuer, das rasch verflackerte, denn obwohl er flink eine zarte Angelegenheit an die andere reihte, sein Herz lag still in der Brust. Die Herzogin-Mutter sah verwundert auf den Sohn, der bald ein Träumer, bald ein Genießer schien, und vergebens versuchte sie diese Widersprüche in seinem Wesen zu verstehen oder zu erklären. Aber sie war nicht die Frau, um lange seelischen Zwiespältigkeiten nachzuhängen, und so beschloß sie bei sich, den Sohn baldmöglichst zu verheiraten. Keinesfalls durfte man Adalbert die Wahl überlassen, denn bei aller Flatterhaftigkeit war er ja noch so unerfahren, so jung, daß er leicht irgendeiner Berechnenden oder Ehrgeizigen in die Hände fallen konnte, die das mühsame Lebenswerk seiner Mutter zerstörte. Hielt doch die Herzogin-Mutter nach wie vor die Regierung in Händen, wenn auch jetzt statt ihres Namens der des Sohnes unterzeichnete und im Staatsrat die Minister sich aus Höflichkeit zuerst an ihn und dann erst an die ehemalige Regentin wandten. Dies alles war ja nur Form und Schein, – in Wahrheit herrschte nach wie vor die Mutter, herrschte nicht nur, weil sie es wollte, sondern auch, weil der Sohn ihr gerne alles überließ, was sie nun schon verstand und was für ihn Neuland war, obendrein ein Neuland, das ihm unsäglich kompliziert vorkam.

Über Melchior Thurnes wäre es allerdings fast zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Adalbert und seiner Mutter gekommen. Am Tage nach der Mündigkeitserklärung meinte die Herzogin-Mutter, nun wäre es hohe Zeit, Thurnes zu entlassen, denn ein regierender Herzog brauche keinen Erzieher mehr. Aber Adalbert widersprach, bestand darauf, daß Thurnes bleiben müsse und verweigerte die Entlassung so hartnäckig, daß die Herzogin-Mutter es klüger fand, nachzugeben, als um eines schließlich nebensächlichen Menschen willen, in ernsten Streit mit dem Sohn zu geraten. Da Adalbert einsah, daß er, der Herrscher, nicht gut einen richtigen Erzieher zur Seite haben könne, ernannte er Thurnes zum Schloßbibliothekar und gestattete ihm auch Eintritt in das Geheimarchiv für den Fall, daß er die Herausgabe irgendeines historischen Werkes beabsichtigte, zu dem er Quellen im Geheimarchiv finden könnte. Die beiden alten Geheimarchivare waren natürlich entsetzt über diese unerhörte Begünstigung eines Neulings, beruhigten sich aber bald, denn es fiel Thurnes nicht ein, das Geheimarchiv zu betreten. Er lachte bei dem Gedanken, daß er in diesem Wust von Akten und Dokumenten, die sich immerfort um dies kleine Herzogtum drehten, etwas ausspüren oder finden sollte, das ihn interessierte. Adalbert lachte mit ihm. Sowohl die Ernennung zum Bibliothekar, wie der Zutritt zum Geheimarchiv waren ja nur Vorwände, um Thurnes zu halten und ihm eine bedeutsame Stellung zu geben. Sein wirkliches Amt war, den jungen Herzog immer mehr mit den Gedanken zu erfüllen, die sie beide liebkosten und deren Verwirklichung immer näher zu rücken schien. »Aus dem Westen kommt das Glück! Im Westen rührt sich das Volk immer mächtiger, verlangt immer nachdrücklicher, daß seine Leiden beendet und seine Ketten gesprengt werden! Noch zögert der Tyrann, noch widerstrebt er und will nicht gewähren, was er doch über ein kurzes wird gewähren müssen. Das Volk fordert die Einberufung der Reichsstände, – seit mehr als hundertfünfzig Jahren hat man sie ihm vorenthalten! Sobald die Reichsstände einberufen sind, flammt das Signal auf! Die Reichsstände werden offenbaren, was seit Jahrhunderten gefrevelt worden ist, die Reichsstände werden dem Volke geben, was des Volkes ist und die Tyrannenmacht vernichten!«

So prophezeite und jubelte Melchior Thurnes, und weil er mit seiner Seele und trotz des Geheimarchivs auch schon mit einem Fuße in Paris war, kümmerte er sich nicht um die Abenteuer des jungen Herzogs, die er sonst vielleicht als eines Rousseau-Schülers unwürdig verurteilt hätte. Dagegen versuchten er und Adalbert, wie man das Volk im Lande zur Mündigkeit erziehen und für kommende Ereignisse vorbereiten könnte, fanden aber zu ihrer eigenen Betrübnis nicht den rechten Weg. Sie dachten wohl allerlei aus, das Adalbert dann vorsichtig im Ministerrat vortrug, oder auch unter vier Augen mit seiner Mutter besprach, die dann ebenso charmant lächelte, wie sie früher gelächelt, wenn sie ihm ein Schokoladenbonbon in den Mund gesteckt hatte. Auch im Ministerrat hörte man ihn ehrfurchtsvoll an, schien beglückt über seine Anregungen, denen man »sobald es die Umstände erlaubten« folgen wollte. Aber die Umstände erlaubten es offenbar nie, und all die schönen Pläne blieben eben Pläne.

Eine Neuerung aber nahm Adalbert vor, die seiner Mutter gefiel: die Armee trat gänzlich in den Hintergrund. Selten nur und ungern hielt er Paraden ab, machte, wenn er Kritik übte, auch keine glückliche Figur und vermied es, mit den oberen Chargen und Offizieren persönlich in Fühlung zu bleiben, wie sein Großvater es stets getan hatte. Die Wirkung seines Beispiels blieb auch nicht aus. Das allgemeine Interesse für militärisches Wesen begann allmählich zu schwinden. Die Offiziere machten ihren Dienst lässiger, die straffe Manneszucht in den Kasernen begann zu schwinden. Adalbert kümmerte sich nicht darum. Es ging ihm mit militärischen Dingen, wie es Thurnes mit dem Bücherstaub ging –, sie hatten beide genug geschluckt und wollten nun ihr Leben nach ihrer tiefsten Neigung leben.

Im Schlosse, das in den letzten Lebensjahren des alten Herzogs ziemlich still und ungesellig gewesen, blühte jetzt eine neue Fröhlichkeit auf. Die Herzogin-Mutter fand, daß ihr junger Sohn Gesellschaft und Frohsinn um sich haben müsse, und so gab es unablässig Bälle, Feste, Maskeraden. Zu längerem Besuche fand sich auch die Schwester der Herzogin-Mutter ein, aus deren immer noch größer gewordenen Kinderschar Friederike als die hübscheste von sieben Töchtern hervorragte. Sie zählte erst fünfzehn oder sechzehn Jahre, sah aber mit ihrer schmalen Taille, dem hochgeschnürten Busen, dem mächtig in die Höhe gespannten gepuderten Haar und der Mouche am linken Mundwinkel schon vollkommen wie eine junge Dame aus, und wußte sich, wenn es sein mußte, auch so zu benehmen, obgleich sie es nicht allzu gerne tat, was ihr trotz aller äußern Damenhaftigkeit nicht nur böse Worte sondern auch zahlreiche Ohrfeigen von der Mutter eintrug. Die Schwester der Herzogin-Mutter hatte nicht, wie jene, das große Los eines Erbprinzen gezogen, sondern einen Grafen aus der letzten hoffnungslosen Seitenlinie eines regierenden Häuschens geheiratet, der als preußischer Oberst in irgendeiner kleinen Garnison lag. Der Herr Oberst und seine Frau hatten viele Kinder, aber wenig Geld, und Sorgen und Wochenbetten hatten die Gräfin müde und zugleich gereizt gemacht, und all ihre Kinder, die großen wie die kleinen, zitterten vor ihrer Hand, die man im Gesicht hatte, ehe man sichs versah. Die Frau Oberst war zu Hause meist unzufrieden, unzufriedener aber noch, wenn sie auf Besuch bei der Schwester war und sah, wie diese alles im Überflusse und dazu nur den einzigen Sohn hatte. Nur die Frau Oberst und Friederike waren zu längerem Besuch gekommen, damit die Frau Oberst sich einmal von ihrem großen Haushalt ein wenig erholen und Friederike sich nach Herzenslust austanzen, vielleicht sogar einen Freier ertanzen konnte. Hübsch genug war sie, wenn auch mehr frisch als hübsch, aber sie war immerfort lustig und glückstrahlend, obgleich sie eigentlich, wie ihre Mutter sagte, nicht die geringste Veranlassung dazu hatte. Sie freute sich über alles und über jedes kleinste Ding, über ein freundliches Wort, das man ihr sagte, über ein Stückchen Torte, das sie unerwartet geschenkt bekam, über einen Vogel, der schön sang oder auch nur, wenn die Sonne besonders hell schien. Mochte die Mutter in ihrer grämlichen Art auch zehnmal prophezeien, daß für Friederike genau wie für ihre Schwestern nichts im Leben bliebe als das goldene Kreuz und die weißen Glacéhandschuhe einer armen Stiftsdame, – Friederike lachte, und glaubte nichts von solch düstern Worten und lief gleichsam zwischen den Ohrfeigen hindurch, wie zwischen Regentropfen, die rechts und links niederfallen.

Karl Leopold, den die Militärakademie und andere weniger ernsthafte Beschäftigungen längere Zeit vom Hofe fern gehalten hatten, war erstaunt, als er auf einer kleinen Tanzerei Friederike wiedersah:

»Donnerwetter, Friederike, du hast dich merkwürdig verändert! Du bist ja beinahe hübsch geworden!«

Sie fragte lachend und etwas schnippisch:

»Bist du immer so geistreich?«

»Nein, nur wenn ich ein hübsches Mädchen sehe!«

»Also alle Tage, denn für dich ist ja doch jedes Mädchen hübsch – –«

»Ich schwöre, daß das Verleumdung ist …«

Sie neckten sich noch eine Weile, lachten, schauten einander in die Augen, dann aber trat die Herzogin-Mutter zu ihnen, die das Geplänkel schon die ganze Zeit über durch ihre Lorgnette betrachtet hatte. Charmant lächelnd, aber in einem Ton, der deutlich Mißbilligung verriet und jeden Widerspruch erstickte, sprach sie zu Karl Leopold:

»Ja, Durchlaucht, die Comtesse ist nun kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Dame. Wollen Durchlaucht das bedenken und sich vielleicht entschließen, sie nicht mehr zu duzen.«

Sie rauschte davon. Die jungen Leute sahen sich zunächst ein wenig verblüfft an, aber Karl Leopold gewann schnell die Fassung wieder, verneigte sich tief und zeremoniell vor Friederike und sprach nun mit ihr nur mehr in der dritten Person, nannte sie stets »verehrte Comtesse«. Sie erwiderte ebenso, und weil sie ganz anders empfanden als sie sprachen und weil ihre Augen einander verrieten, was sie dachten, machte ihnen diese kleine Komödie viel Spaß, beinahe mehr als das unbefangene vertrauliche Gespräch, das die Herzogin-Mutter gestört hatte. Dann trat Karl Leopold mit Friederike zum Tanze an, und sie paßten so gut zueinander, tanzten so schön, daß jeder rundum meinte: »Ein hübsches Paar!« und selbst die Herzogin-Mutter sich zu ihrer Schwester neigte, um sie auf die Tochter aufmerksam zu machen und gleich allen andern zu sagen: »Ein hübsches Paar!«

Friederikens Mutter nickte mißvergnügt. Ja, ein hübsches Paar! Man fand immer einen Habenichts, mit dem man ein hübsches Paar bildete. Das war nun einmal so im Leben, die Frau Oberst wußte es aus eigener Erfahrung, denn auch sie war einst mit dem armen gräflichen Leutnant ein hübsches Paar gewesen. Aber das Leben war kein ewiger Tanz, und wenn man das Haus voll unversorgter Kinder und den Kopf voll Sorgen hatte, kam einen ein Grausen an, wenn man auch die Tochter wieder als »hübsches Paar« sah, und wünschte sehr, daß sie einen besser dotierten Partner finden möchte …

Die Tänzer hatten gewechselt, Friederike stellte sich jetzt mit Adalbert zum Menuett an. Die Herzogin-Mutter betrachtete die beiden aufmerksam und vergaß sogar das Glas zur Hand zu nehmen, wandte sich dann zu ihrer Schwester und fragte:

»Habt Ihr eigentlich schon Heiratspläne für Friederike gemacht?«

Die Frau Oberst zuckte die Achseln. Wie sollte man Heiratspläne machen, wenn man nicht in der Lage war, auch nur einen roten Heller Mitgift aufzubringen. Die Herzogin-Mutter schwieg und blickte unverwandt auf den Sohn und die Nichte. Ja, das war die Schwiegertochter, die sie wünschte. Frisch und gesund, recht geeignet, um einem erlöschenden Stamm neues Leben zuzuführen, dazu arm, ohne Rückhalt an den Eltern, die ihrem Schöpfer Tag für Tag das große Glück danken würden, das der Tochter beschert war. Auch schmiegsam war sie, gewohnt zu gehorchen, gewohnt, nicht eben zart angefaßt zu werden, und dabei sicherlich ohne Herrschsucht, ohne Ehrgeiz. Sie würde eine gute Frau, eine gute Mutter werden und sich der Herzogin-Mutter fügen, wie der Sohn sich fügte …

Inzwischen hatte Karl Leopold schon wieder Friederike zum Tanze geholt, und die Herzogin-Matter runzelte ein wenig die Stirne. Sie kannte das Wesen des jungen Husaren und seine Gewissenlosigkeit und nahm sich vor, ein scharfes Auge auf die beiden zu haben. So tauchte sie denn unvermutet überall auf, wo die jungen Leute allein beisammen standen, wußte es bei Picknicks und Festen stets so einzurichten, daß Karl Leopold stets der Kavalier einer andern Dame war, während Adalbert Friederiken zugeteilt wurde. Schon begann man rundum in ihr die künftige Herzogin zu vermuten, sie mit Schmeicheleien und Ehrfurcht zu umdrängen, sie aber merkte kaum etwas davon, denn ihre Blicke suchten immer den, der neben einer andern Dame saß, und verstohlen zu ihr hersah, wie sie zu ihm. Gerade weil man sie immerfort trennte, weil die Herzogin-Mutter immer wieder Hindernisse zwischen die beiden schob, verlangten sie immer heftiger nach einander, wurde die Lust immer größer, aller Vorsicht, die aufgeboten wurde, einen Possen zu spielen und sich ungeachtet aller Künste der Herzogin-Mutter in einem traulichen Alleinsein zu finden. In ein paar Tagen ging auch Karl Leopolds Urlaub zu Ende, und wer weiß, wann sie ihn dann wiedersehen würde …

An solch einem Abend, einem schönen, warmen Herbstabend, an dem man bei Lampionbeleuchtung im Schloßpark speiste, während man den Nachmittag mit Ballspiel verbracht hatte, gelang es Karl Leopold das Mädchen für ein paar Augenblicke allein zu sehen. Hastig sprach er:

»Friederike, übermorgen muß ich fort!«

»Ich weiß, es ist sehr schade!«

»Und nicht eine Viertelstunde lang habe ich dich ungestört sprechen können, – ist das nicht schrecklich?«

»Schrecklich!«

Eine ganz kleine Pause.

»Friederike, ich kann nicht so von dir fort! Ich muß dich einmal sehen, ohne daß ein Dutzend andere Menschen herumstehen und uns begaffen!«

Sie sagte nichts. Er beugte sich näher zu ihr hin.

»Wir können uns heute abend, wenn alles zu Bett gegangen ist, hier, im Park treffen, willst du?«

»Nein!«

Fast angstvoll stieß sie es heraus, sah sich nach allen Seiten um, ob man sie nicht belauschte. Aber die Herzogin-Mutter sprach noch eifrig mit dem Haushofmeister, und so blieben den beiden noch ein paar Minuten Zeit. Karl Leopolds Stimme war jetzt ganz leise, ganz weich und verführerisch wie ein dunkler Samtmantel.

»Um elf Uhr bei dem Dianabrunnen ganz hinten im Park. Kein Mensch sieht uns, es kommt nie jemand hin. Der Laubgang ist ganz einsam und sicher. Kommst du?«

»Nein!«

»Doch, du kommst!«

»Nein!«

Er sah sie noch einmal an.

»Doch, du kommst! Um elf Uhr erwarte ich dich!«

Noch ehe die Herzogin-Mutter ihre Weisung an den Haushofmeister beendet hatte, war Karl Leopold davongestoben, und Friederike stand allein und bog an einer Hecke ein Zweiglein zurück, das sich gar nicht vorgedrängt hatte.

Das ganze Schloß lag dunkel, nur in Friederikens Zimmer brannte noch ein wenig Licht. Die Kammerjungfer der herzoglichen Tante hatte der Comtesse schon den Schleier für die Nacht über das hochgetürmte Haar gebunden, damit die kunstvolle Frisur noch morgen und übermorgen tadellos wie heute blieb und hatte sich dann mit untertänigem Gruß und Knix empfohlen. Friederike lag halb ausgestreckt in einem kleinen, gepolsterten Armstuhl, befand sich in dem angenehmen Zwischenreich zwischen Wachen und Schlaf, hatte die Augen geschlossen und ein köstliches Gefühl der Ermüdung und Willenlosigkeit. Wie losgelöst von allem kam sie sich vor, in ihren Ohren klang leise die Tanzmusik von gestern abend, aber sie klang nur, wenn das Mädchen sich gar nicht regte. Bei der kleinsten Bewegung verstummte sie. Friederike blieb ganz still. Es war zu schön, so mit geschlossenen Augen hinzudämmern, nichts zu wissen, nichts zu wollen, nur den nahenden Schlaf zu spüren … Für ein paar Augenblicke war sie auch wirklich eingeschlafen, dann fuhr sie mit einem Ruck empor und war hell wach. »Du kommst!« »Nein!« »Doch, du kommst!« – Nichts anderes ging ihr jetzt mehr in den Sinn. Durch einen Spalt des Vorhangs, der das Fenster deckte, fiel ein Mondstrahl herein und lockte: »Ich leuchte dir! Komm nur, es ist ganz einsam draußen, und er wartet auf dich!« Nein, nein! Große Angst überfiel sie. Sie preßte die Hände an ihre Wangen, die brannten, als ob schon die mütterlichen Ohrfeigen darauf niedergeprasselt wären. Nein, nein! Mit einem heldenmütigen Entschluß: »Ich lege mich jetzt schlafen, und wenn ich morgen aufwache ist alles vorbei!« Sie fing an, sich auszukleiden, legte das Seidenfähnchen weg, wollte die Schnürbrust lösen. Hielt inne. »Du kommst!« Ein letzter Kampf zwischen Sehnsucht, Angst und Scham. Dann riß sie hastig einen dunklen Mantel mit einer Kapuze aus ihrem Schranke, warf ihn um, zog die Kapuze tief über das hochgekämmte Haar und lief durch ein Hinterpförtchen, das sie kannte und leicht öffnen konnte, atemlos, von Angst und Verwegenheit gejagt, hinaus in den dunklen Park zum Dianabrunnen.

*


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