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15. Kapitel.

Robespierre saß in seinem Zimmer vor seinem Schreibtisch und las Briefe, die sorgsam geordnet in kleinen Schachteln um ihn her standen. Er hielt die Blätter, die teils mit feiner Frauenschrift, teils mit großen, männlichen Zügen bedeckt waren, dicht vor die kurzsichtigen Augen, ließ sie zeitweise sinken, als müßten seine Gedanken langsam schlürfen, was da stand. Sein fahles Gesicht hatte sich, während er las, leicht gerötet, und ein Ausdruck großer, befriedigter Eitelkeit lag über ihm. Es waren Huldigungsbriefe, nichts als Huldigungsbriefe, die er da hielt und sorgsam geordnet aufbewahrte, Huldigungsbriefe von Frauen, die es reizte, den Unnahbaren aus seiner Zurückhaltung herauszulocken, ernsthaften Männern, die ihm ihren Dank für seine Freiheitsliebe und seine Unbestechlichkeit ausdrückten, fanatischen Sansculotten aus der Provinz, die ihn in Litaneien anhimmelten, als beteten sie in einer republikanischen Maiandacht:

»Robespierre, Säule der Republik,

Schirmherr der Patrioten,

Unbestechlicher Genius,

Begnadeter Jakobiner,

Der du alles siehst, alles vorhersiehst, alles enthüllst, du, den keiner täuscht und keine verführt,

Schütze uns!«

Er schloß eine Sekunde lang die Augen und genoß den Triumph, den ihm solche Worte bereiteten, wühlte mit der Hand in andern Briefen, las die drollig-naiven Zeilen einer jungen Witwe, die ihm ihre Hand und vierzigtausend Francs Rente anbot, lächelte über eine englische Miß, die ein wenig beleidigt tat, daß er ein kostbares Geschenk zurückgewiesen hatte, das sie ihm, dem Feind ihres Landes, ehrfurchtsvoll zu Füßen legen wollte. Ein halbes Dutzend oder auch ein Dutzend solcher Briefe las er, obgleich er sie fast auswendig wußte, dann legte er den Kopf hintüber an die Lehne seines Stuhls und ließ sich nachkostend von der Erinnerung an das Gelesene umspülen, wie von süßen Zephirlüften. Seltsames und wundervolles Gefühl für einen Menschen, der bis über sein dreißigstes Jahr hinaus nicht gewußt hat, wie Liebe und Verehrung tut, und dem sie nun mit einem Male von unbekannten Händen dargebracht werden, von Menschen, die nichts anderes begehren, als daß er sei, wie er ist und sich von ihnen verwöhnen und anbeten lassen! Die Zeit, da er zu Thurnes' Bedauern tief im Schatten Marats gestanden, war vorbei, Danton und er beherrschten das Land, und wenn auch Dantons Temperament und seine gewaltigen äußeren Mittel die Menge fortrissen, so wandten sich doch die Blicke immer häufiger, immer sehnsuchtsvoller auf den schmächtigen Mann mit dem fahlen Armutsgesicht, von dem man, im Gegensatz zu den andern Revolutionsmännern, wenig und nichts Skandalöses zu erzählen wußte. Nicht mit einem kühnen Sprung, nein, Schritt für Schritt trat er aus dem Schatten heraus, wurde vielleicht vom Vertrauen und dem Wunsch der andern mehr herausgedrängt als er selber ging, denn trotz alles sansculottischen Geschreis und aller Vergewaltigung im Namen der Freiheit wuchs in immer breiteren Kreisen das Verlangen nach Ruhe, nach Ordnung und einer anderen Sittlichkeit als die der nackten Vernunft. Die Revolution, die vor wenigen Jahren wie eine trunkene Bacchantin dahingestürmt war, wurde alt und müde, der Rausch war verflogen, und in das getrübte Bewußtsein fiel ab und zu ein Lichtschein der Wirklichkeit. Man glaubte nicht so recht an eine Weltordnung, deren Glück darin ruhte, daß die Letzten die Ersten sein sollten und umgekehrt, man war der Greuel, des Blutvergießens und der ungeheuren Korruption des kommunistischen Regiments überdrüssig und sehnte sich nach der reinen, starken Hand, die aus diesem Wirrsal von Vernichtung und Leid herausführen sollte. Konnte das einer der Männer, die selber an aller Korruption teilgenommen und sich die Taschen mit dem Gut der Vertriebenen und Gemordeten gefüllt hatten? Konnte es einer von ihnen, der alles verhöhnte, was dem Volke je heilig gewesen, einer von ihnen, der die Kirchen schloß, die Hostien in den Kot warf und den Gottesdienst verbot? Nein, sie alle waren nicht berufen oder waren es nur nach Ansicht der Ultraradikalen, die den Rausch vom Jahr 1789 immer noch nicht ausgeschlafen haben wollten. Die andern aber, die in dem befreiten Lande auch wirklich frei und friedlich leben wollten, die meinten, daß eine Republik ein Staat sein müsse und nicht ein Bandenwesen, sahen auf Robespierre und grüßten ihn als eine Hoffnung. Marat hatte geplündert und fremdes Eigentum ins Leihhaus geschickt, Danton hatte aus trübsten Quellen vier Millionen ergattert, die er in Saus und Braus an üppiger Tafel mit Weibern vertat, – Robespierre aber lebte als bescheidener, kleiner Zimmerherr bei einfachen, braven Leuten und predigte Reinheit nicht nur für die andern, sondern hielt sich selber von allem fern, was seinen Namen beflecken konnte. Der Konvent ging freilich aus guten Gründen zur Tagesordnung über, als Robespierre den Antrag stellte, daß jedes Konventsmitglied und jeder Bürger Rechenschaft ablegen sollte über das Vermögen, das er während der Revolution und durch sie erworben hatte, aber die Kunde von diesem Antrag, bei dem der Konvent erblaßt war, drang doch aus dem Konventsaal hinaus in die Stadt und erhöhte das Ansehen des Mannes, der ihn hatte stellen können. »Der Unbestechliche« nannten ihn die einen voll Ehrfurcht, die andern mit spöttischem Lächeln, als wäre seine Unbestechlichkeit ein Mangel an liebenswürdigem Menschentum; aber in einer Zeit, da jeder käuflich war, leuchtete dieser Name wie ein goldener Ehrenschild. Und noch etwas anderes führte ihm Anhänger zu. Er war verschlossen, geheimnisvoll und Geheimnisvollem zugetan, und das Geheimnisvolle übt immerfort einen mächtigen Reiz aus, selbst auf Gemüter, die es scheinbar abgetan haben. Man wußte wohl, wo der Unbestechliche wohnte und daß er unbestechlich war, aber weiter wußte man nichts von ihm. Wie lebte er? Hatte er wirklich keine Geliebte? Trank er wirklich nur Wasser, das mit ein paar Tropfen Wein rotgefärbt war? Nahm er wirklich Huldigungen, die man ihm in seiner Wohnung darbringen wollte, schweigsam, fast verlegen entgegen? Hatte er in der Tat keine Leidenschaften, sondern nur Tugenden? Niemand wußte genau Bescheid, und die Legende begann zu dichten, weil die Wirklichkeit schwieg. Eines aber wußte man, weil er es nicht verhehlte, sondern im Konvent wie im Klub immer wieder betonte, er war kein Atheist. Er glaubte an ein höheres Wesen, an eine Vorsehung, an die Unsterblichkeit der Seele, und sein Bestreben ging dahin, dem Volke den Kult der Gottheit wiederzugeben, wenn auch einer anderen, sanfteren Gottheit, als jener, deren sich die Tyrannen als Helfershelfer bedient hatten. Hier und dort flüsterte man auch, daß er zur Gemeinde der Théot gehöre, daß er gläubig auf den Messias warte, der das verweinte Land erlösen sollte, und so stand er vor dem Volke da als der Unbestechliche, der Gläubige, der Gottsucher …

Immer größer war sein Einfluß geworden, immer rascher nahm er den steilen Anstieg zur Macht. Wie er jetzt mit beiden Händen voll zitternder Wollust in den Briefen wühlte, sie heraushob, zu einem Hügel schichtete, um bald diese, bald jene herauszuziehen, stieg es aus all diesen Blättern, aus all diesen feinen, starken oder ungeschickt gemalten Zeichen wie Weihrauchwolken empor, die ihn umnebelten wie das Aroma der Kräuter, die an den Orakelstätten des Altertums verbrannt wurden, um den Sinn der Sibylle visionär zu verwirren.

Macht, Macht! …

Er fühlte, wie sie langsam auf ihn zuschritt, die Arme nach ihm streckte, ihm den Purpurmantel bot, um ihn vor alles Volk als den Erwählten hinzuführen, den ihm die Vorsehung bestimmt hatte …

Sie sprach zu ihm aus jedem dieser Briefe, sie zeigte sich ihm in den Blicken, die ihm auf der Straße folgten, sie war über ihm, als der Konvent unter der Forderung seiner Rechtlichkeit erblaßte, sie rauschte um ihn wie der Flügelschlag von Adlern, wenn das Volk ihn im Theater mit Händeklatschen und Jubel empfing, wie es kaum je den Tyrannen empfangen hatte …

Macht, Macht! …

Ja, sie war ihm geworden, sie gehörte ihm; er wußte es seit jenem unvergeßlichen Abend, den er in dem kleinen Hause der Rue Contrescarpe erlebt hatte. O, diesen Abend wird er nie vergessen, auch nicht, wenn alles erfüllt ist, auch nicht, wenn er die Sendung vollbracht hat, zu der er berufen ist, denn nichts kann je so süß, so erschütternd, so hinreißend sein, wie diese erste Botschaft war.

Macht, Macht! …

Wie so oft, hatte er sich an einem Abend mit der andern Gemeinde bei Théot eingefunden, hatte, an der Wand im Hintergrund lehnend, von den übrigen kaum bemerkt, der Sibylle gelauscht, die Bibelworte verkündete und Worte sprach, deren Sinn nur die Eingeweihten verstanden. Vom Reich, das kommen sollte, sprach sie, von dem Propheten, den sie erwarteten und dessen Schritte sie durch die Straßen von Paris irren hörte … Mit einem Male kam dann die große Erleuchtung über sie. Sie schnellte von dem Sitz empor, auf dem sie bislang zusammengesunken gesessen, breitete die Arme verzückt gen Himmel, und ihre dunklen Augen glänzten wie in überirdischem Glanz. Nicht als ob sie selber, sondern als ob ein anderer aus ihr spräche, klang ihre Stimme: »Ich höre seine Schritte nicht mehr. Sie sind verhallt, untergegangen im Lärm der Straßen und der Sünden.« Eine große, schmerzliche Bewegung bemächtigte sich der Gemeinde, aber schon fuhr Théot mit einer Stimme fort, die zwischen jauchzendem Aufschrei und Ehrfurcht schwankte:

»Ich höre die Schritte nicht mehr, der Prophet hat seine Stätte gefunden. Dies Haus hat er begnadet, er steht mitten unter uns. Er hält das Schwert und die Palme, hebet die Augen und bekennet euch zu ihm!«

Ein Schauer lief über die Gemeinde, keiner wagte aufzublicken, denn allen war es, als schwebe Göttliches über ihnen. Robespierre stand blaß, bebend, mußte sich einen Augenblick tastend festhalten, weil er sonst umgesunken wäre. Dann sank er langsam in die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen, als könne er die Fülle nicht ertragen, die auf ihn niederströmte. Nun wußten alle, wer der von Théot verheißene Prophet war, und voll Ehrfurcht küßte man seine Hände, einen Zipfel seines blauen Rockes. Die Frauen brachten ihm kleine Medaillen mit dem Bild der Gottesmutter oder einem geheimnisvollen Zeichen, die er durch eine Berührung seiner Hand weihen wollte, und die Soldaten, die ins Feld mußten, baten um seinen Segen. Wie ein Gott stand er da, und wie in einem göttlichen Rausch war er heimgekommen, der seitdem nicht mehr völlig von ihm gewichen war.

Macht, Macht! …

Er schloß die Augen, war wie im Fieber, und wie im Fieber ließ er sein früheres Leben an sich vorüberziehen, besah es, belächelte es, fand es unverständlich, als hätte nicht er, sondern ein Fremder es erlebt. Macht, – er hielt sie, er, der als armselige Waise bei Verwandten herumgestoßen worden war! Er sah sich wieder als Schüler im Colleg Louis le Grand, wie er zitternd vor Schüchternheit und Unterwürfigkeit dem jungen Ludwig XVI., der das Kolleg besuchte, mit einem Gedicht hatte huldigen müssen, demselben Ludwig, den er vor kurzem samt seiner Frau aufs Schafott geschickt hatte. Er hörte das höhnische Gelächter, das bei seiner ersten Rede erschallt war, überzählte im Geiste wieder die spärliche Ausstattung, mit der er nach Paris gekommen war, das bißchen Wäsche, die schlechten Kleider, den fadenscheinigen, dunklen Rock, den er als Deputierter der Nationalversammlung haben mußte … So arm war er in diese Stadt gekommen, und arm war er geblieben, wenn er jetzt auch, dank seines rechtmäßigen Einkommens gute Wäsche und den schönen, veilchenblauen Rock trug, den er besonders liebte. Reichtümer konnte er nicht sammeln, wie die andern, die schamlos vom Ruin des Landes lebten; dafür aber harrte seiner Macht, wie sie keinem anderen verheißen ward … Mit dieser Macht würde er die große Reinigung vollbringen, würde Jean Jacques' Reich aufrichten und den Tempel der neuen, sanften Gottheit, als deren Prophet Théot und ihre Gemeinde ihn gegrüßt hatten. Er sprang auf, lief hastig im Zimmer hin und her, riß Rock und Weste auf, lockerte das sorgsam gefältete Jabot und meinte doch, vor Hitze ersticken zu müssen. Sein Kopf brannte, seine Gedanken flogen, um ihn her schwankte und drehte sich alles in regenbogenfarbigen Lichtern. Dann warf es ihn plötzlich in seinen Sessel zurück, er verdrehte die Augen und knirschte mit den Zähnen. Als er nach einigen Minuten zu sich kam, war sein Kopf wieder kühl, und ein wenig verwundert sah er auf die Briefe, die vor ihm gehäuft lagen. Er ordnete sie wieder sorgsam in die Schachteln, die er verschloß, und nahm ein Bündel Akten zur Hand, die der Erledigung harrten. Doch bei allem, was er jetzt tat, und ob es auch das Trockenste oder Alltäglichste war, lag etwas über ihm, das ihn von sich selber über die andern erhob, und das die Blicke der anderen zu ihm herzwang. Er war sich seiner Sendung bewußt, und dies Bewußtsein war so stark, daß es auch auf andere übersprang …

Neben der Gefolgschaft standen freilich die Widersacher, vor allem die überzeugten Atheisten, die nicht wieder unter den Krummstab und zum Beichtstuhl kriechen wollten. Sie mißtrauten den unbestimmten Andeutungen über die neue Religion und hielten es für ersprießlicher, sich zu gar keiner zu bekennen. Thurnes, der einst voll Begeisterung Robespierres Herold gewesen, wandte sich jetzt achselzuckend von ihm ab. Er sagte zu Adalbert:

»Danton hat Recht gehabt! – Robespierre ist wirklich eine alte Jungfer! Ich verstehe nicht, daß er sich nicht schämt, den alten Kohl von Vorsehung und Unsterblichkeit der Seele wieder aufzuwärmen! Man kann kein vernünftiges Wort mehr mit ihm reden, und ich gehe ihm so viel als möglich aus dem Weg!«

»Tue es nicht!« bat Adalbert. »Wir wollen uns nicht in eine Debatte über diese Dinge einlassen, die ja doch zu nichts führen würde, aber glaube mir, er kommt dem Bedürfnis einer großen Menge entgegen, wenn er ihr wieder einen inneren Halt, einen Ausblick auf höhere Dinge gibt.«

»Höhere Dinge – Unsinn! Wie soll das ein höheres Ding sein, was ich nicht beweisen kann! Schweige mir still von all dem Gewäsch, von dem ich daheim in meiner Jugend genug gehört habe! Ich brauche keine Vorsehung, ich brauche keine unsterbliche Seele, ich bin meine eigene Vorsehung, trage selber die Verantwortung für mich, und wenn ich tot bin, bedarf ich keines Richters, der sich anmaßt, zu beurteilen, ob ich Recht oder Unrecht getan habe. Hat er sich im Leben nicht um mich gekümmert, braucht er sich nach meinem Tode auch nicht um mich zu kümmern!«

Da es ihm vorkam, als ob Adalbert eine Einwendung machen wollte, setzte er spöttisch hinzu:

»Nun ja, dir liegen solche Sachen ja im Blut! Aber ich sage dir, es wird nicht eher Ruhe auf der Welt, bis der letzte Pfaffe an den Gedärmen des letzten Königs aufgehängt ist!«

Er lästerte und fluchte noch eine Weile in dieser Weise fort, und Adalbert verglich unwillkürlich im Stillen diesen rabiaten vernachlässigten, zum Krüppel geschossenen Sansculotten mit dem ernsthaften sauberen und stattlichen Magister, mit dem er daheim die langen Gespräche über das Glück der Menschheit geführt hatte. Die Lästerungen und Flüche störten ihn nicht, obgleich etliche sich an ihm und an seiner Abkunft vergriffen. In all den Jahren hatte er sich an diese überhitzte Ausdrucksweise gewöhnt, doch erschrak er, als Thurnes unvorsichtig brüllte:

»Das sage ich dir, wenn Robespierre aus seinem Dusel nicht aufwacht, wenn nicht alles nur ein Übergang ist, für den er später Buße tut, dann wünsche ich von Herzen, daß er enden möge, wie Marat geendet hat!«

»Um Himmels Willen, nicht so laut!« bat Adalbert, denn sie standen auf der Straße, und jeder, der vorüberging, konnte sie hören. Thurnes dämpfte auch den Ton, nicht aber die Tonart, und halblaut auf Pfaffen, Religion und Verdummung schimpfend, ging er heim zum Mittagessen. Da war er dann ein lieber, guter Familienvater, küßte seine Frau, schaukelte den kleinen Horace Jean Paul auf den Knien, der seiner Ansicht natürlich ein Wunderkind war, und schwur dazwischen, daß er sich lieber in Stücke hauen lassen würde, als jemals einen Pakt mit der Verdummung schließen, die aufs Neue umgehen und die Zukunft seines Wunderkindes bedrohen wollte.

Adalbert sah ihn nun mit Absicht seltener, denn all ihre Gespräche endeten in heftigen Disputen und in Flüchen aus Thurnes' Munde. Obwohl Adalbert nach wie vor keiner ausgesprochenen Partei angehören wollte, hatte er sich von dem Lehrer seiner Jugend in allem immer weiter entfernt, so daß es jetzt kaum je einen Punkt gab, auf dem sie sich friedlich treffen konnten. Diese Trennung tat ihm weh, und voll Schmerz bedachte er, wie traurig es war, daß trotz des jahrelangen Kampfes um die Freiheit die Geister unfrei waren wie zuvor. Wehte denn in den Lästerungen von Thurnes nicht der blutige Atem, der einst die Bartholomäusnacht entfacht hatte, und wenn Robespierre mit rollenden Augen den Atheismus verdammte, so war es doch dieselbe Gesinnung, die einmal den schrecklichen Krieg zwischen Liga und Bund entzündet hatte. Immer wieder Haß und Kampf und Mord um eine Kniebeuge, ein Symbol, ein Zeichen, – selbst Jean Jacques hatte aufgefordert, daß man die Ketzer, die nicht an seine Naturreligion glauben wollten, aus seinem Reiche ausstoßen sollte. Immer wieder hieß es: »Hast du eine andere Überzeugung als die meine, so bist du ein Verbrecher und mußt gerichtet werden!« Lebte denn nirgends auf der Welt ein Mann, der sprach: »Glaube was du willst und laß auch deinen Nächsten glauben oder leugnen, was ihm beliebt!«? Da er sich die Frage stellte, wurde er rot wie ein Mensch, dem eine peinliche Antwort wird. Ein solcher Mann hatte gelebt, hatte gesagt, daß in seinem Laud jeder auf seine eigene Fasson selig werden könne, – Friedrich von Preußen. Mußte der ihm gerade jetzt einfallen, er, den er gehaßt hatte um Trencks Martyrium willen?! Trenck – was war Trenck geschehen gegen das, was hier seit Jahren, täglich geschah und noch geschehen würde! Trenck wandelte lebendig und fröhlich auf Erden, hier aber hatten Zehntausende unter der Hand des Henkers geendet und Zehntausende, vielleicht Hunderttausende zitterten Tag für Tag vor dem Schicksal, das der nächste Morgen bringen konnte. O, nur nicht denken, nicht vergleichen, nicht rechten, sonst war alles zu Ende! Sonst stürzten er und das Gebäude seines Lebens ins Bodenlose, wie die alte Weltordnung hineingestürzt war …

Es wurde immer einsamer um ihn her, denn auch Théroigne sah er jetzt absichtlich immer weniger. Das Beisammensein mit ihr war kein Vergnügen, denn seit Marat dem Dolch einer Frau erlegen war, hatte sich die Stellung der politischen Frau wesentlich verschlechtert. Man ließ das ganze Geschlecht für die Tat der Einen büßen, zudem in Robespierres Rechenexempel nur die säugende, nicht aber die am Kampf der Männer teilnehmende Frau paßte. Théroigne schnaubte vor Wut, lästerte die neue Regierung kaum weniger als Thurnes und betonte bei all ihren zornigen Ausfällen stets »dein Robespierre«, gerade als ob Adalbert verantwortlich gewesen wäre, daß man die Frauen allmählich wieder an den Herd und in die Kinderstube zurückdrängte. Die politischen Frauenklubs wurden verboten, als eine Frauendeputation sich, wie zu Marats Zeiten, der Regierung als Schutztruppe zur Verfügung stellen wollte, gab man ihnen höhnisch zur Antwort, daß die Republik keinen Bedarf an Jungfrauen von Orleans hätte.

»Und im Konvent schwingen sie schon wieder die alten Redensarten von der Frau, der sanftere Pflichten obliegen als sich in den Streit der Männer zu mischen, und deren Aufgabe erfüllt ist, wenn sie dem Gatten die sorgenvolle Stirne glättet und jedes Jahr ein Kind kriegt!«

Sie lachte höhnisch.

»Und dafür hat man sich abgekämpft, dafür hat man die Bastille gestürmt und ist nach Versailles gezogen, dafür hat man sich von den Aristokraten mit Schmutz und Hohn bewerfen lasten, dafür ist man im fremden Land im Gefängnis gewesen –

Sie weinte wieder das heftige stille Weinen, das ihre innere Zerstörtheit verriet. Er versuchte sie zu beruhigen, wollte ihr tröstend zureden, daß all diese strengen Maßregeln sich allmählich mildern würden, aber sie glaubte ihm nicht, und er war froh, als sie gegangen war. O, dies ewige Gezänke um Meinungen und Parteien! Jeder sprach von sich, seiner Partei, seiner Überzeugung, und all diesen kleinen Egoismus nannten sie großartig »Das Staatswohl!«

Robespierre eilte indessen mit raschen Schritten dem Gipfel der Macht zu. Seinem Willen beugte sich der Konvent wie die Stadtverwaltung, gegen ihn gab es keinen Widerspruch, vor seinem Blick erzitterten alle. Im Triumph war er über Danton emporgestiegen, den das Revolutionstribunal als Verräter erkannt und verurteilt hatte, und mit dem Triumph wuchs sein Machtgefühl und der Glauben an seine Sendung. Doch je höher er kam, umso größer wurde sein Mißtrauen, und weil es ins Unheimliche wuchs, lief das Mißtrauen der anderen ihm nach. Ja, er war unbestechlich, unantastbar, unempfindlich für Gold oder Frauenschönheit, aber sie spürten doch seine schwache Stelle aus und merkten an seiner überheblichen Priesterhaftigkeit, wohin er strebte. Daß er ein Prophet, ein neuer Religionsstifter sein wollte, wäre ihren nüchternen Köpfen, die der nackten Vernunft dienten, zwar nie eingefallen, aber eben weil sie hier klar waren und weil sie, genau wie er, wie jedermann im Lande, ständig vor Verrat zitterten, merkten sie die Gelüste, die sich in ihm regten, und wie es ihn drängte, den veilchenblauen Rock mit dem Gewand der höchsten Würde zu vertauschen. Doch sein verschwommener Blick hielt sie alle wie das Auge eines Bändigers in Bann, daß sie sich nicht zu regen wagten, und wo immer sein verschwommener Blick hinfiel, sah er Verrat, und sein Mund sprach das fürchterliche »Reiniget! Reiniget!« Da die Corday Marat ermordet hatte, schien es, als wäre das Leben von zweimalhunderttausend Menschen gerettet worden, doch diese Zahl wurde immer kleiner, und Adalbert schauderte, wenn er die Reihe der Häupter überdachte, die schon gefallen waren. Gefallen war das Haupt der Königin, gefallen das Haupt der Prinzessin Elisabeth, gefallen Philipp Egalité, gefallen einundzwanzig Girondisten, gefallen Hébert und Desmoulins, die Robespierre noch gestern seine Freunde genannt hatte, gefallen Danton, der Titan, der unbesieglich geschienen, gefallen Adam Lux, der einst Pflug und Bücher um Jean Jacques Reich verlassen hatte, gefallen Cloots, der ein Regiment ausgerüstet und nichts hatte sein wollen als ein Bürger der neuen Republik, gefallen Rolands Frau, gefallen die sanfte Lucile Desmoulins, gefallen Custine, Vater und Sohn, und ach, so viele andere Generäle, die eine Schlacht verloren hatten, gefallen mit Kindern und Enkeln der greise Malherbes, der Verteidiger Ludwig XVI., gefallen die alte Dubarry, die keinem Menschen mehr ein Leids getan hatte, gefallen ein unabsehbarer Zug von Frauen, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als einen vormals adligen Namen zu tragen, Greisinnen, Mütter, Bräute, halbwüchsige Kinder. Ganze Familien waren ausgerottet von dem schrecklichen »Reiniget! Reiniget!«, und auf dem Revolutionsplatz, wo die Guillotine stand, liefen Rudel von Hunden umher und leckten das Blut der Gerichteten auf.

»Reiniget! Reiniget!«

Der verschwommene Blick tötete aber nicht nur das Leben, sondern auch den Lebensmut. Wohl saßen auf den Galerien des Tribunals die Marktweiber behäbig mit ihrem Strickzeug, genossen es wie ein Schauspiel, wenn in das Klappern ihrer Stricknadeln hinein ein Todesurteil ertönte; wohl stand auf den Straßen eine wilde Menge, um die Opfer, die zur Guillotine gefahren wurden, zu schmähen und zu höhnen; wohl gab es Weiber, die nicht die Verkündigung, sondern den Vollzug des Urteils genießen wollten und für die der Volksmund das schreckliche Wort »Die Guillotinenleckerinnen« erfunden hatte; doch die Furcht eines jeden war so groß, die ständige Aufregung so zerreibend, daß sich die Selbstmorde häuften, weil der Tod durch eigene Hand weniger qualvoll erschien als dies Dasein unter dem Damoklesschwert. Das Leben in der Stadt erstarb, scheu schlichen die Menschen umher, versteckten sich in ihren Wohnungen, die ihnen doch keinen Schutz mehr boten, und nicht einmal die Freudenmädchen wagten sich nachts mehr auf die Straße. Gingen sie aus, so kleideten sie sich armselig, nahmen ein Kind auf den Arm und einen Korb zur Hand, damit man sie nur ja nicht für »verdächtig«, sondern für kleine, arme Patriotinnen halten sollte. Eines Tages aber sah Adalbert etwas, was ihn mit Grauen erfüllte, wie er es bis zur Stunde noch nicht empfunden hatte. In einer Straße, die weitab vom Revolutionsplatz lag, lief vor ihm her eine rote Fußspur, der Abdruck nackter Füße, die in Blut getreten waren. Da er diese Spur sah, wurde ihm schwarz vor den Augen, und er lehnte sich eine Sekunde lang an die Mauer eines Gartens, weil es ihm unmöglich schien, weiter zu gehen. Dann aber raffte er sich zusammen und, ob er wollte oder nicht, mußte er der schrecklichen Spur folgen, die sich blaß und immer blasser zeichnete, bis schließlich der Staub der Straße sie völlig überweht hatte. Ihm aber war es, als sähe er nun überall, durch die ganze Stadt hin, diese roten Fußspuren, und sie alle liefen auf das Haus des Schreinermeisters Duplay zu, hielten dort an und warteten. Auf was warteten sie? Adalbert wußte es, und weil er es wußte, fand er keine Ruhe mehr, bis er endlich, nach langem Erwägen, vor Robespierre stand …

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