Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Solange die Armut, wenigstens von einiger Entfernung aus gesehen, noch in poetischer Beleuchtung erscheint, ist sie verhältnismäßig leicht zu ertragen. Jedenfalls spielte Mrs. Wellingford, von der jedermann wußte, daß sie bessre Tage gesehen, ihre Rolle als Frau, welche sich durch eine Mißheirat aus ihrem eigentlichen Kreise verbannt, mit Würde und Grazie. Solange ihre Uebersiedelung von der fünften Avenue in eine der Mietkasernen am Broadway einen Anstrich von Heroismus hatte, ärgerte sie sich nicht ernstlich über die junge Dame, die in der Etage über ihr beständig das Pianoforte mißhandelte, und ein andrer Mitbewohner des Hauses, welcher vor dem Schlafengehen gymnastische Uebungen vornahm und beim ersten Morgengrauen anfing, Flöte zu blasen, machte ihr mehr Spaß als Verdruß. In dem Kopfe eines Menschen, der so wunderliche Gewohnheiten hatte, mußte es sonderbar genug aussehen, und man unterhielt sich über ihn bei Tische und sprach von Mr. Orpheus, wie Alma ihn getauft hatte, als ob er ein vertrauter Freund des Hauses sei. Als aber der Winter weiter vorschritt und es immer klarer wurde, daß Mrs. Wellingfords ehemaliger Kreis fest entschlossen war, sie unbeachtet zu lassen, verlor Mr. Orpheus merkwürdigerweise den Reiz des Komischen und wurde täglich unerträglicher. Schließlich sah sich Harry einmal genötigt, bei nächtlicher Weile seine Bekanntschaft zu machen und gegen seine störenden Gewohnheiten Einspruch zu erheben. Die junge Dame, welche täglich zehnmal die »Mondscheinsonate« vom Leben zum Tode brachte und Schumanns herrliche »Träumerei« so spielte, daß man sich dabei hätte die Haare ausraufen können, empfing ebenfalls einen Besuch, aber sie war weniger nachgiebigen Charakters als Orpheus und zeigte sich so entschlossen, ihre Rechte zu behaupten, daß Wellingford, wie er sich selbst sagte, völlig geschlagen den Rückzug antrat.
Es ist immer schwer für jemand, der einmal zu befehlen gehabt hat, die Rolle eines Bittenden zu spielen, und Alma welche in ihrem Kreise sicherlich wieder emporgekommen wäre, wenn sie sich hätte entschließen können, ein ihr gelegentlich begegnendes Nasenrümpfen mit Sanftmut hinzunehmen und zu kleinen diplomatischen Kunststücken zu greifen – war zu stolz, um langsam Stufe für Stufe an der Leiter wieder hinaufzuklimmen, auf deren Höhe sie noch vor kurzem gestanden. Einige Damen, namentlich solche, welche mehr an der äußeren Grenze des fashionabeln Zirkels standen, hatten zwar Besuch bei ihr gemacht, waren aber mit so kühler Liebenswürdigkeit aufgenommen worden, daß sie gewiß nicht wiederkamen, denn Alma, welche die gesellschaftliche Stellung einer Dame auf den ersten Blick genau abzuschätzen wußte fühlte sich durch den Besuch von Leuten, die sie früher ungestraft begönnert hätte, in die Rangklasse derselben herabgedrückt. Sie fing an, Hunger und Durst nach den Dingen zu empfinden, die sie noch vor Jahresfrist verachtet hatte und ihr Gehirn beschäftigte sich Tag und Nacht mit der Frage, auf welche Weise sie die Bewunderung der Welt wieder gewinnen könne.
Almas Begeisterung für die Wissenschaften war nur von kurzer Dauer gewesen und hatte trotz des Eifers, mit dem sie den Studien obgelegen, solange diese Begeisterung anhielt, nicht zu den erhofften bedeutenden Ergebnissen geführt. Sie hatte einige interessante geologische Thatsachen kennen gelernt, die sie im Gespräch mit den Freunden Harrys geschickt anzubringen wußte, und lieferte dadurch zu ihrer eignen Befriedigung und zur nicht geringen Verwunderung ihrer Zuhörer den Beweis, daß sie in der That eine gescheite Frau und würdige Gefährtin eines Gelehrten war. Aber ihre kleine Vergnügungsreise in das Reich der Wissenschaft hatte ihre Achtung für Harry sehr verstärkt und war ihr vielleicht eine Mahnung zur Bescheidenheit gewesen, und gerade daß sie nicht hoffen durfte, ihn und seine Arbeiten zu verstehen, flößte ihr den um so heißeren Wunsch ein, auf dem Felde ihrer ehemaligen Triumphe neue Siege zu feiern. Alma besaß ein unruhiges Temperament, das der Thätigkeit bedurfte, und mußte einen Brennpunkt des Interesses, einen Tummelplatz für ihre Lebenskraft haben. Harrys Freunde bewunderten zwar die schöne Mrs. Wellingford aufrichtig, aber ihre Huldigungen übten auf Alma dennoch nicht den angenehmen Reiz aus, welcher zu ihrem Glück gehörte. Im Innersten ihres Herzens fand sie alle diese Männer »schrecklich dumm« und machte sich heimlich lustig über ihren Anzug, ihre Sprache und ihr Behaben, während man doch nach ihrem Verhalten den gelehrten Herren gegenüber darauf gewettet haben würde, daß sie ihr als sehr angenehme Gesellschafter erschienen. Die meisten von ihnen waren kenntnisreiche Fachmänner, die ernste Interessen verfolgten, hauptsächlich von ihrem Berufe sprachen, sich schlecht anzogen und nicht das Wesen besaßen, welches den Mann von Welt kennzeichnet. Walther wäre wahrscheinlich ohne Mühe imstande gewesen, sie durch unverschämtes Anstarren in Verlegenheit zu bringen, in einem Ballsaal würden sie sicherlich die kläglichste Figur gespielt haben, und doch waren sie und ihresgleichen diejenigen, welche der Welt aus der Unbildung mit herausgeholfen, Maschinen erfunden und jene Geistesschlachten mit geschlagen hatten, welche dem Jahrhundert seine Richtung nach vorwärts gegeben.
Diese Einförmigkeit des Lebens machte Alma geneigt, jeden unerwarteten Zufall als ein Glück, eine Erlösung zu begrüßen. Besonders bereitete ihr der Besuch ihres ehemaligen Anbeters Cunningham lebhaftes Vergnügen. Voll Neid betrachtete sie seine herrlichen Pferde, und seiner mit spaßhaften Ausdrücken und Anekdoten reich gespickten Unterhaltung lauschte sie mit einer Aufmerksamkeit, welche ihn überzeugte, daß alles, was er sagte, bedeutend sei. In der That erschien es Alma nach den vielen gelehrten Gesprächen, die sie anhören mußte, wie eine Wohlthat, sich bei dem gar nicht belehrenden, sondern nur belustigenden Kauderwelsch, das Cunningham sprach, zu erholen. In dieser vergnügten Stimmung setzte sie sich sogar an das Piano, um die Begleitung der Sportlieder zu spielen, die er ihr früher häufig vorgesungen, und ihrer Aufforderung zufolge gab er schließlich die neuesten musikalischen Erzeugnisse des Rennplatzes zum besten. Mr. Cunningham war hingerissen. Er hatte Mrs. Wellingford nie so lebensprühend, so angeregt und witzig gesehen, und ermutigt durch ihre Freundlichkeit wagte er es, sie zu einer Fahrt durch den Park einzuladen.
»Habe da unten zwei ziemlich schöne Tiere stehen,« sagte er mit einer Handbewegung nach dem Fenster. »Laufen mit der Windsbraut um die Wette. Will den Kutscher nach Hause schicken – wir werden 'ne famose Fahrt miteinander machen. Islam kennen Sie ja von früher – werden's kaum glauben, daß er mir jährlich seine runden zehntausend einbringt. Lasse ihn nie rennen, wenn er nicht in Primalaune ist – dann nimmt er's aber mit dem Teufel selber auf.«
Alma trat, anstatt zu antworten, ans Fenster und blickte eine Weile hinunter auf die schlanken, glänzenden Tiere, welche mit den Hufen stampften und ungeduldig die Köpfe emporwarfen. Sie stellte sich vor, welch wonniges Gefühl es sein müßte, hinter ihnen zu sitzen, sie straff in den Zügeln zu halten, ihren Schritt zu regeln und sie ihrem Willen unterthan zu machen, während ihr der Wind frisch um die Ohren blies. Ihr ganzes früheres stolzes Selbst erwachte und es war ihr, als müsse sie, um dieser stürmischen Empfindung Ausdruck zu geben, entweder laut aufjauchzen oder jemand zum Kampfe herausfordern. Mr. Cunningham so weit aufzurütteln, war indessen nicht leicht. Selbst während Alma noch die Frage erwog, ob sie seine Einladung annehmen oder ausschlagen sollte, konnte sie sich der Bemerkung nicht verschließen, wie ganz verschieden er in jeder Beziehung von Harry war – und dennoch übte er in diesem Augenblicke einen unbestreitbaren Zauber auf sie aus.
»Ich kann Islam nicht widerstehen, Mr. Cunningham,« sagte sie, sich plötzlich umdrehend. »Er hat mein ganzes Herz wieder erobert, und wenn Sie einen Moment warten wollen, werde ich mich fertig machen.«
Von diesem Tage an wurden Mr. Cunninghams Besuche häufiger. Er kam zuweilen, wie zufällig, um ihr zu erzählen, welch »glücklichen Schlag« er wieder einmal gemacht, wie er der alten Dame, Mrs. Hampton, durch ein schlaues Manöver in Northern-Pacificaktien wieder einmal zu ein paar Hunderttausenden verholfen, oder wie er andre durch ausgelegte falsche Köder zu einer Grube gelockt, in die sie auch richtig gefallen waren. Alma, welche in früheren Zeiten diese Gespräche langweilig gefunden hatte, fühlte sich jetzt durch die Ziffern, welche ihr nach jedem Besuche Cunninghams durch den Kopf schwirrten, vollständig geblendet. Das Geld hatte Wert für sie bekommen, und wenn man von hunderttausend Dollar sprach, so dividierte sie diese Summe gleichsam unwillkürlich mit fünf und gelangte zu dem Resultat, daß Harry zwanzig Jahre brauchen würde, um eine solche Summe zu verdienen. Erwähnte Cunningham ganz beiläufig, er habe in der laufenden Woche zweimalhunderttausend Dollar erworben, so war es ganz unmöglich, sich nicht gegen eine Weltordnung aufzulehnen, nach welcher dem einen durch bloßen Glücksfall Summen in den Schoß geworfen wurden, zu deren Erwerbung ein andrer, bessrer Mann vierzig Jahre nützlicher und wertvoller Arbeit bedurfte.
Alma konnte nicht umhin, diese Gedanken auszusprechen, und aus der Heftigkeit und dem Eifer, mit der sie die Sache behandelte, schloß Mr. Cunningham, daß sie ihr ernstlich zu Herzen ging. Was war wohl natürlicher, als daß er ihr anbot, einige Tausende für sie zu gewinnen, wenn sie ihm die Erlaubnis dazu gab. Was die Einlage betraf, so sollte sie sich darum nicht sorgen; er könnte ihr dieselbe vorschießen. Sie sollte ihm nur gestatten, auf ihren Namen zu kaufen und er würde ihr dann eine Anweisung auf die Summe senden, die sie bei der Spekulation gewonnen. Irgendwelche Bedenken brauchte sie sich darüber nicht zu machen; es gereichte ihm zum besondern Vergnügen, seinen Freunden zu dienen, und in diesem Falle war das mit gar keiner Mühe und keinerlei Opfer für ihn verbunden. Er könnte ihr ein Dutzend Damen ihrer Bekanntschaft nennen, die niemals nach Newport ins Seebad hätten gehen können und keine so guten Partien gemacht haben würden, wenn er nicht ihr Portemonnaie durch glückliche Spekulationen gefüllt hätte. Die Sache war eine ganz gewöhnliche, täglich vorkommende, und niemand könnte, selbst wenn sie ruchbar würde, deshalb schlechter von ihr denken.
Alma lauschte diesen einschmeichelnden Reden mit einem Eifer, den sie kaum zu verbergen vermochte. Sie kannte zwar Harrys Widerwillen gegen das Börsenspiel, aber das war wohl nur eine seiner übertriebenen Ansichten, die ihren Ursprung in der puritanischen Einfachheit seiner Erziehung hatten. Er, der über eine Versteinerung in Entzücken geraten und sich eine Stunde lang mit einem Stück Quarz beschäftigen konnte, hatte es leicht, ihr Zufriedenheit in kleinen Dingen zu predigen und ihren Wunsch nach Geld und gesellschaftlicher Stellung zu verspotten. Sie war mit andern Neigungen geboren; die Natur hatte sie jedenfalls für eine glänzendere Stellung geschaffen. Wäre sie ein gewöhnliches, einfaches Geschöpf gewesen, so würde die bescheidene Lage, in der sie sich gegenwärtig befand, ihr wahrscheinlich genügt haben, und sie hätte nach nichts anderm gestrebt.
Das Ergebnis aller dieser Ueberlegungen war, daß sie Cunninghams Vorschläge mit immer größerer Willfährigkeit aufnahm und daß man endlich dahin gelangte – vorläufig ohne jede praktische Absicht – zu überlegen, welches Papier man wählen würde, falls Alma Mr. Cunningham erlauben sollte, zu ihren gunsten zu spekulieren. Als der Versucher das Zimmer verließ, gab er ihr lachend die Versicherung, er werde die gewöhnlichen Maklergebühren für sich von ihrem Gewinn abziehen; aber sie möge sich nur auf seine gute Nase in solchen Dingen verlassen, er glaube ihr wenigstens zehn- bis zwanzigtausend versprechen zu können.
Diese Gespräche gaben Alma eine Empfindung von Gefahr und Wagnis, die nach so langem Mangel an Aufregung einen großen Reiz für sie besaß. Dennoch fühlte sie sich nach Mr. Cunninghams Entfernung von einer unbestimmten Bangigkeit ergriffen. Seine Worte beunruhigten sie, es hatte etwas Unheilverkündendes in seinem Wesen gelegen, und selbst seine außerordentliche Liebenswürdigkeit fing an, sie zu ängstigen. Hoffentlich hatte er ihre Worte nicht so verstanden, daß sie ihm wirklich die Erlaubnis gebe, etwas von seinem eignen Gelde in ihrem Namen anzulegen, und jedenfalls war es reine Einbildung, wenn ihr der Gedanke kam, sein vertraulicher Ton beim Abschied könne aus der Verminderung seiner Hochachtung hervorgehen. Alma wickelte sich ihr Kleid um die Füße und zog diese auf den Stuhl. Ein unbehagliches Gefühl beschlich sie und ein leises Frösteln ging durch ihre Glieder.
Sollte sie Wellingford von dieser Unterredung etwas mitteilen? Die Frage beschäftigte sie mehrere Stunden. Alma hatte ihrem Manne kein Geheimnis aus den Besuchen Mr. Cunninghams gemacht, und Harry, obwohl ihm ihre Ausfahrten mit jenem nicht recht zu gefallen schienen, hatte sich nicht weiter darüber geäußert. Aber er pflegte ja überhaupt Dinge, welche ihn eigentlich ärgern mußten, mit einer Gelassenheit aufzunehmen, die Alma oft reizte, und seine gehaltene Art und Weise, die sie vor ihrer Verheiratung so vornehm gefunden, machte sie jetzt oft ungeduldig. Harrys stille Zufriedenheit mit den Resultaten seiner Arbeit war ihr unbegreiflich und erfüllte sie mit geringschätzigem Mitleid. Wie konnte ein ehrgeiziger Mann sich damit begnügen! Durch sein Wissen und Können schützte er allerdings viele Menschen davor, sich in gefährlichen Unternehmungen zu Grunde zu richten, und verhalf andern dazu, Reichtümer zu erwerben, aber er selbst hatte nichts davon, als die Mittel zum täglichen Leben. Jedenfalls lag hier in seiner Natur ein Mangel, und war sie ihrerseits dann nicht berechtigt zu einem Versuche, seine und ihre äußeren Verhältnisse aufzubessern und ihm die Stellung und Geltung in der Welt zu geben, die nun einmal nur vom Gelde abhängt?
Wie man sieht, war Alma ganz unmerklich, Schritt für Schritt dazu gekommen, sich ihrem Manne gegenüber auf einen kritischen Standpunkt zu stellen. Sie machte ihn für ihre gegenwärtige unangenehme Lage verantwortlich, und wenn sie in den vielen müßigen und einsamen Stunden, die ihr jeder Tag brachte, ihrer Phantasie die Zügel schießen ließ, wurden anfänglich flüchtige Gedanken nicht selten zu wirklichen Befürchtungen und zur zweifellosen Gewißheit. So die Vorstellung, daß Harry unfähig sei, sich geltend zu machen und die sich darbietenden Gelegenheiten auszunutzen, und deshalb in Geldsachen ihrer geheimen Hilfe bedürfe. Diese Ueberzeugung gestaltete sich nach und nach zur fixen Idee und gewann einen bestimmenden Einfluß auf ihre Handlungen.
Das Ergebnis aller dieser Grübeleien aber war, daß Wellingford ebensowenig von der Meinung erfuhr, welche seine Frau von ihm hegte, wie von ihren wachen Träumen, deren Schauplatz Wallstreet und die Börse war.