Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.
Das sterbende Kind

Zwischen hohen Ahornbäumen, nicht allzu weit von der Waldwiese entfernt, lag ein altes Bauernhaus mit niedrigem großen Dach und kleinen Fenstern. Dort schimmerte um Mitternacht ein roter Lampenschein aus einem der Fenster, und Uku, die Eule, die das winzige rote Lichtlein in der Ferne sah, machte sich auf und flog über die Felder dorthin.

Das Licht zog sie an und erfüllte sie zugleich mit Ingrimm. Es war nun einmal ihre Meinung, daß es in der Nacht dunkel zu sein hätte, nur der Schein des Mondes oder der Sterne war ihr lieb. Daß aber in den Behausungen der Menschen bisweilen diese stillen roten Feuer aufglommen, die ihr Licht auf die Blätter der Bäume warfen oder weit in das Land hinein, wie rötliche Wege, die durch die Luft führten, machte Ukus Blut vor Erbitterung pochen. Aber doch vermochte sie sich nicht abzuwenden, und besonders, wenn die Nacht weiter und weiter dahinzog, und solch ein Lichtschein wollte nicht erlöschen, nahm ihre Unruhe und Begierde überhand, und sie mußte herzufliegen, fast gegen ihren Willen, um das Licht zu sehen.

So langte sie auch in dieser Nacht in den Ahornbäumen dicht vor dem erleuchteten Fenster an und schrie laut und klagend auf, und noch einmal und wieder, so daß alle Tiere, die des Nachts leben, erschrocken aufhorchten und mit dunklen Augen in die Nacht lauschten. Denn der Schrei der Eule in der Finsternis der schlafenden Bäume hat etwas unbeschreiblich Trauriges und zugleich klingt er grimmig und erbost. Er scheucht die Gedanken der Wesen auf und jagt sie durch die Nacht, die traurigen zuerst, und läßt ein verzagtes Sinnen in den Gemütern zurück.

Aber Uku wußte hiervon nichts, sie erzürnte sich im Grunde nur über das Licht und versuchte wieder und wieder durch ihre kurzen klagenden Rufe kundzutun, daß der Frieden der Nacht und ihre eigene Ruhe durch den roten Schimmer gestört wurden; sie sah auch nicht in die Stube des Hauses hinein und wußte nicht, was drinnen vor sich ging, und weshalb immer noch die Kerze brannte, obgleich Mitternacht schon vorüber war.

Im Zimmer lag auf seinem Bett ein Kind und starb. Es war ein kleiner Knabe mit dunklem Haar und einem nicht eben schönen Gesicht, seine Haare waren rauh und vom Fieber feucht, und die Züge seines Gesichtes bleich, wie auch seine Hände, die merkwürdig ruhlos über die Decke tasteten, als ob sie mit einem unsichtbaren Spielzeug umgingen. Der Knabe erfreute sich bei seinen Spielkameraden keiner Beliebtheit, weil er sich ihnen nicht anpassen konnte und verschlossen und schweigsam war.

Seine Mutter saß am Bett und schaute ihn unverwandt an. Eine Mutter will nicht wissen, ob ihr Kind schön oder unschön ist, sie liebt es so, wie es ihr gegeben worden ist, und fragt nur danach, ob es froh oder traurig ist, ob es ihm wohl ergeht oder ob es leidet, nicht aber nach seinem Wert; denn alles, was eine Mutter liebt, ist in ihren Augen so viel wert wie ihre Liebe, und es gibt nichts in der Welt, was wertvoller wäre als die Liebe einer Mutter. Und so bewegte das Gemüt der Frau, die am Bett ihres Sohnes saß, in dieser Nacht allein die Sorge, ob ihr Kind genesen würde oder ob es sterben müßte.

Da hörte sie die Eule in den Bäumen vor ihrem Fenster rufen, und ein furchtbarer Schreck durchfuhr sie, so daß sie, am ganzen Körper zitternd, aufsprang und ihre Hände auf ihr gequältes Herz preßte, das ohnehin vor Angst nicht mehr ein noch aus wußte. Die arme Frau ahnte nicht, daß draußen Uku nur das Kerzenlicht anschrie, sondern sie glaubte, was die Leute ihr erzählt hatten, daß ein kranker Mensch sterben müßte, wenn die Eule nachts vor seinem Fenster riefe. Das ist eine alte Sage, an die viele Menschen glauben. Sie ist dadurch entstanden, daß bei Kranken des Nachts Licht zu brennen pflegt, das die Nachtvögel anlockt. Aber die Eulen haben nichts mit der Verkündigung des Todes zu tun. Wenn die bedrängte Mutter in ihrer Not gewußt hätte, weshalb Uku in den Ahornbäumen schrie, so würde ihre Angst geringer gewesen sein; nun aber zitterte sie vor Schmerz und Entsetzen, denn sie glaubte, die Eule kündete ihr den Tod ihres Kindes an.

Nach einer Weile hatte sich Uku mehr und mehr an den Lichtschein gewöhnt, er blendete sie nicht mehr, und sie beruhigte sich etwas. Da die Fenster geöffnet waren, erkannte sie nun die Mutter am Bett ihres sterbenden Kindes, allein in der Nacht und in dem großen, dunklen Haus. Uku wurde deutlich, daß der Tod dort Einzug hielt, sie schwieg betroffen und schaute angstvoll hinab. Sie sah, daß das Kind sich im Fieber hin und her warf, und als es ärger und ärger wurde, klagte die hilflose Mutter laut auf und schrie zu Gott empor um Barmherzigkeit; denn sie hatte nur diesen einen Sohn und sonst auf der Welt nichts.

Da warf sich Uku in ihre lautlosen Flügel und flog auf die Waldwiese und weckte den Elfen.

»Elf,« sagte sie, »es stirbt ein kleiner Mensch, kannst du nicht der Mutter helfen?«

Der Elf sah betrübt auf und schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Macht über den Tod und darf nicht zu den Menschen sprechen«, sagte er. »Wenn das Kind sterben soll, so ist es in Gottes Rat beschlossen.«

Uku schwieg. Es war ihr wirklich nahegegangen, die Mutter vor Schmerzen in laute Klagen ausbrechen zu sehen. Sie dachte an die Zeit, in der sie selber noch um ihre Jungen in Angst und Liebesnot gewesen war, und verstand das Herzeleid der Mutter. Deshalb fragte sie jetzt noch einmal:

»Kannst du keine Hilfe bringen, Elf? Du hast schon so viel getan, daß es uns oft erschienen ist, als vollbrächtest du Wunder der Liebe. Hilf dem kleinen Menschen! Er wirft sich auf seinem Lager hin und her, und der Tod wird ihm schwer, aber mir war so, als stürbe seine Mutter den Tod hundertmal für ihn.«

»Wenn ich dem Kinde mein Leben geben könnte, so würde ich es tun, aber ich kann es nicht«, beteuerte der Elf.

»So tröste die Mutter!« rief Uku, »du bist gütig, und deine Worte sinken oft ins Herz wie ein Lied.«

Der Elf sah lange stumm vor sich hin, und seine Trauer nahm zu. Endlich sagte er ernst:

»Eine Mutter kann niemand über den Verlust ihres Sohnes trösten, Uku. Eher ist es möglich, eine Welt aus ihren Sünden zu erlösen als eine Mutter aus dem Schmerz um ihren Sohn. Ein Jüngling kann ein Mädchen vergessen, das er liebgehabt hat, eine Schwester kann die Liebe zu ihrem Bruder verraten, und selbst ein Freund soll den Verlust seines Freundes verwinden können, aber den Schmerz einer Mutter um ihren Sohn heilt niemand. So ist es bei den Menschen bestellt.«

»So fliege mir zulieb hinüber, Elf, und versuche es, ich bitte dich. Gehst du nicht in der Gestalt eines Engels einher, begleitet von Licht? Warum sollte es das Herz einer Mutter nicht erleichtern, dich zu sehen, da du doch uns alle gesegnet hast? Erlöse sie von ihrem Gram, bedenke, auch dich verlangt danach, einmal erlöst zu werden.«

Da breitete der Elf seine Flügel aus und flog davon, und Uku atmete tief auf und dachte: Nun wird alles besser werden.

Als der Elf auf dem verlassenen Hof im nächtlichen Land ankam, war das Kind gestorben. Er flog ins Zimmer hinein und ließ sich zu Häupten des Bettes nieder, über das die Mutter sich in ihrem Schmerz geworfen hatte. Sie bedeckte den erkaltenden Körper ihres Kindes mit dem ihren und preßte ihr Angesicht auf das erloschene Augenpaar des toten Knaben. Die stille Nacht nahm ihre Klage auf; in dem kleinen armen Raum, in dem sie wohnte, flackerte das Licht der erlöschenden Kerze an den weißen Wänden. Zuweilen hob sie ihr verhärmtes Gesicht, das von Leid entstellt war, und sah mit leeren Augen, die von keinen Tränen gekühlt wurden, in die Nacht hinaus. Nie hatte der Elf so viel Hoffnungslosigkeit und Anklage in den Augen eines irdischen Wesens gesehen, ihn kam ein Zittern an, und er brach in Schluchzen aus.

Da war es, als sein Schluchzen erklang, als lauschte die Mutter auf. Ein krampfhaftes Beben durchschüttelte ihren ganzen Körper, und während sie mit starren Augen auf dies leise Schluchzen lauschte, das von weit her zu kommen schien, brach es wie mit einer alten Erinnerung aus ihren heißen Augen hervor, glitzerte auf wie Nachttau und tropfte nieder, und eine unfaßbar wohltuende Erleichterung löste den brennenden Druck in ihrer Brust. Ihre Klage und ihr Geschrei verstummten, sie sank still in sich zusammen und weinte. Es war, als hätte eine alte Erdengnade Einzug in ihr Gemüt gehalten.

Der Elf wunderte sich und sann und sann. So hatte Uku recht behalten, aber er ahnte nicht, welche Wohltat er gebracht hatte; ihm war nur, als sei durch ein Wunder den Schmerzen der Mutter ein Ausweg geschaffen worden, die Bahn zum Himmel zu finden.

»Ich kann nicht helfen«, dachte er traurig, denn weil er ein Blumenelf war und kein sterblicher Mensch, so wußte er nicht, daß er den einzigen Trost gebracht hatte, den die Menschen in ihren größten Schmerzen annehmen können.


 << zurück weiter >>