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Prinz Karl genoß keines guten persönlichen Rufes wegen ausschweifender Sitten, ob dies nun begründet oder nicht. Doch war er nicht ohne feinere Bildung, im Umgang liebenswürdig, und zeigte sich hier als entschlossen und hilfsbereit. »Sie wollen nach Berlin, wirklich? Alle Achtung vor so viel Mut und Treue! Nun, da geb' ich Ihnen ein offenes Schreiben mit, unter dem Vorwand, weshalb ich seit 20 Stunden umsonst auf Bescheid warte, ob ich nicht zu meinem allergnädigsten Bruder nach Berlin kommen dürfe. Sie haben ben Auftrag, sich persönlich nach Sr. M. Gesundheit zu erkundigen.«

Mit dem Schreiben dieses Inhalts ausgerüstet, machte sich also der vielen vom Ansehen bekannte ehemalige Abgeordnete auf den Weg. Vorsichtshalber trug er außer dem Audienzfrack einen breiten Schlapphut mit schwarz-rot-goldener Kokarde und ließ sich zuvor den meisten Bart abscheren. Als in Berlin auf dem Bahnperron ausstieg, traf er erstens seinen Vetter Bismarck-Bohlen, zweitens eine Blechschüssel, zu Spenden für die edeln Barrikadenkämpfer bestimmt, über welche patriotische Mahnung ein Mann der Bürgerwehr mit Argusaugen wachte nebst einem geschulterten Gewehr. Der Herr Vetter zog zaudernd die Börse, der Schönhauser Recke aber schnarrte laut: »Du wirst doch für die Mörder nichts geben und dich nicht vor dem Kuhfuß da fürchten?« Denn er hatte in dem Posten, der sich zornig umwandte, einen Freund erkannt. »I Jotte doch, Bismarck!« rief Kammergerichtsrat Meier erstaunt. »Wie seh'n Sie denn aus? Nette Schweinerei hier!«

Der übelberüchtigte Demokratenfresser und Städtevertilger warf sich in eine Droschke und stieg auf der Schloßfreiheit aus. Die Schloßwache, aus Bürgerwehr bestehend, ein ungewohnter Anblick für ein preußisches Auge, ließ ihn mürrisch nicht durch. Von mißtrauischen Blicken gemustert, ging er nach Meinhards Hotel und schrieb dort dem König, was er auf dem Herzen hatte. Dieser gebiete noch unumschränkt im Lande, wenn er sich nur von Berlin entferne, außer den großen Städten sei alles königstreu. Diesen auf grobem Papier rasch hingekritzelten Brief trug der kühne Royalist zum Prinzen Radziwill in die Wilhelmstraße hinüber, der freien Zutritt im Schlosse hatte, vielleicht wegen seiner polnischen Herkunft, da die Polen bei dem ganzen Berliner Putsch eine treibende Kraft abgaben und sich natürlich mit ihren eigenen Hocharistokraten wie den Radziwills und Lichnowskis, gut halten wollten. Die Radziwills, von denen ein weibliches Familienglied in zarten romantischen Beziehungen zum Prinzen Wilhelm gestanden hatte, bewahrten treuste Anhänglichkeit an die Hohenzollern. Vom Fürsten Lichnowski, den einst Ancillon als Normalprodukt der hohen Diplomatenschule anpries, ließ sich nicht das gleiche sagen.

»Ja, mein teurer Bismarck«, erzählte Fürst Bogislaw, »im tiefsten Vertrauen gesprochen, das Benehmen des Fürsten war sonderbar. Droben im Schlosse schüchterte er den König durch Alarmnachrichten ein, die Truppen seien zu schwach und hätten keine Munition, drunten auf dem Platze ging er unter den Bürgern umher, angeblich um ihnen gut zuzureden. Man behauptet aber, er habe dort deutsch und polnisch verschiedenes verbreitet, das Volk solle nur aushalten, der König habe den Mut verloren.«

»Und steifte denn kein Minister Seiner Majestät das Rückgrat? Nicht Bodelschwingh?«

»Daß ich nicht wüßte! Im Gegenteil gibt es da eine Version ... darüber kann Sie vielleicht Prittwitz aufklären ... Und General Gerlach kann Ihnen sagen, daß Seine Majestät gar nicht den Abmarsch der Truppen befahlen, was ja auch ganz widersinnig wäre.«

»Was!« fuhr Bismarck auf. »Welcher Verräter –«

»Pst, ein trauriges Mißverständnis. Ich weiß nur, daß die nächste militärische Umgebung sofort den König aufsuchte, der zufällig, einem natürlichen Bedürfnis zu genügen, abwesend war. Als er zurückkam, fragte man, ob Allerhöchstderselbe den Abmarsch befohlen habe. Er verneinte bestürzt und rief, als man ihm vom Fenster aus den ganzen Schloßplatz voll Zivilisten und in der Ferne die abziehenden Truppenkolonnen zeigte: ›Das kann nicht sein!‹ Nun, man wird ja später Näheres erfahren. Ich bringe jetzt Ihren Brief hinüber, warten Sie hier.«

Der Fürst kam nach einer Weile wieder, tiefernst. »Seine Majestät wollen Ihnen nicht antworten, sagten auch nichts über den Inhalt Ihres Schreibens, haben aber den Zettel sorgfältig eingesteckt, als wolle er ihn als Andenken bewahren. Dies erste Zeichen aus dem Lande draußen, daß er nicht verlassen sei, tat ihm sicher wohl.« –

Durch Zeitungsblätter aus Berlin, nach Potsdam durchgeschmuggelt, durch Augenzeugen, zwischen der Hauptstadt und dem Heerlager hin und her pendelnd, machte Otto sich ein vollständiges Bild der Ereignisse. Jetzt beim Besichtigen der Innenstadt gingen ihm Einzelheiten durch den Kopf. Leutnant Prinz Hohenlohe versicherte, der eigentliche Berliner Bürger habe sich gar nicht beteiligt. Er sei mit verwundeten Kameraden mitten durch eine Barrikadenbesatzung geritten, die vor dem herrischen Zuruf »Platz da!« bereitwillig auseinanderstob. Der Untertänigkeitstrieb wurzele noch tief im Volke.

An Stelle von Savigny war ein gewisser Dr. jur. Bornemann zum Justizminister ernannt, Camphausen als Präsident der Handelskammer sollte nach Erlaß vom 20. als Minister eintreten. Die Berliner schwebten aber in Unruhe wegen etwaigem neuen Vorrücken der Truppen auf die Stadt. Dies sei unbegründet, verbürgten sich Graf Schwerin, Flügeladjutant v. Below u. a. durch Maueranschlag. Die Bürgerwehr schickte Patrouillen zum Kreuzberg und gen Schöneberg, stellte Unrichtigkeit des Gerüchts fest. Man verhaftete Alarmisten auf der Friedrichstraße. Gleichwohl bemächtigte sich solche Aufregung der Gemüter, daß eine an der Ecke der Besselstraße errichtete Barrikade viel Nachahmung fand. Die Schutzwache des Anhalter-Tor-Bezirks forderte alle guten Bürger auf, den Behörden jene Aufwiegler zu überliefern, »die das Vertrauen zwischen Regierung und Volk stören wollen«. Wie ehrlich dies Vertrauen, bestätigte die Genugtuung der Haude- und Spenerschen Zeitung über die Besetzung des Prinz-Wilhelm-Palais als Volkseigentum. »Nur dies, wir sagen es offen, konnte Befriedigung und Besänftigung herbeiführen.« Aber wer nun zufrieden zur Ruhe ging oder sich in öffentlichen Lokalen belehrte und belebte, den trieb alsbald ein Lärmruf auf die Straße, Prinz Wilhelm sei im Anzug auf Berlin. Der böse Hannibal vor den Toren! »Das Schönhauser Tor ist erstürmt!« verbreitete sich schon am Halleschen, am Schönhauser wußte man, die Truppen drängen durchs Hallesche ein, der Prinz sei mit Geschütz auf der Frankfurter Chaussee angelangt. »Heraus, zu den Waffen!« Die Patrouille des Handwerkervereins, zuerst auf dem Platze, kreuzte sich mit anderen bewaffneten Abteilungen, binnen einer halben Stunde wuchsen erneut Barrikaden aus dem Boden, an vielen Punkten stärker als in der Schreckensnacht des Kampfes. Zureden und Beschwichtigen half nichts. Durch Stadt und Vorstädte wälzte sich ein brausendes Menschenmeer, hunderttausend Kehlen schrien auf einmal, überall ein Schlagen von Hacken, Picken, Hämmern, Äxten. Doch weder Schüsse noch Trommelwirbel ließen sich hören, Torwachen mit der Kunde, alles sei ruhig, brachten endlich die Haufen auseinander.

Am Morgen räumte man die Barrikaden weg. Erst am vorigen Abend zog die reitende und Fußartillerie der Garde trübsinnig ab, bei der ein Hauptmann Reibnitz sich durch Verteidigung von Monbijou besonders ausgezeichnet hatte. Man erbat Schutz von der Bürgerwehr beim Abzug, was Stadtverordnetenvizevorsteher Seidel gnädig zugestand. Noch heute brüteten erhitzte Köpfe Unsinn aus. »Die Russen rücken auf Berlin an.« Pathetisch trösteten Straßenredner: »Von den Sklaven des Moskowiter Barbaren fürchtet nichts ein freies, wehrhaftes Volk, geführt vom freien, echtdeutschen, ritterlichen König.« Den Spott darüber brüllten biedere Bürgersleute nieder, die ihren geliebten Monarchen nicht mit dem grausamen Prinzen Wilhelm verwechseln ließen. Traten nicht gestern Majestät in Begleitung von Prinz Albrecht auf den Schloßplatz, redeten leutseligst Umstehende an, reichte ihnen allergnädigst die Hand, sprach dero volle Zufriedenheit zu den »Erfolgen« aus? Vieltausendstimmiges Hoch antwortete.

Welche »Erfolge« er meinte, blieb ungewiß wer mochte darüber nachsinnen! »Solange sich Majestät der Bürgerwehr anvertraut, hat das Volk nichts zu fürchten«, klang zweideutig, man konnte übersetzen: solange wir ihn als Pfand im Gewahrsam halten, kann uns nichts geschehen. Nicht ohne Tücke warf sich die Presse in die Brust, der Bürger treue Gesinnung habe sich gerade in der Alarmnacht bewährt; denn wenn ihr guter Glaube an den König wankend würde, wie leicht hätte man sich dann an ihm vergriffen! Doch ihm sei kein Haar gekrümmt worden!

Nun herrschte ungetrübter Frohsinn, alle Häuser und Paläste mußten beleuchten zur Illumination. Über dem Palais Prinz Wilhelms erschien die Transparentinschrift: »Das Eigentum der Nation ist dem Schutze der Bürger anvertraut.« Die Kasernen erklärte man ebenso großartig als Nationaleigentum. Die Gymnasiasten der oberen Klassen zogen in Wehr und Waffen auf die Straße. Wunderschön ... zum Weinen vor Rührung oder zu Lachtränen. Die Leichenwagen der Gefallenen stattete man »zweckmäßig« mit revolutionärem Schmucke aus, alle Stadtbeamten traten an, sich dem Zuge anschließend. Trauerflore um den Hut, schwarze Schleifen um den Arm bezeugten bei Leidtragenden, daß sie angeblich jemand im Kampfe verloren. Gebrüder Oppenheim, Stralauer Straße 14, gaben diese düsteren Merkzeichen sogar gratis ab, diese uneigennützigen Patrioten, statt sie im Ramschausverkauf an den Mann zu bringen mit 50 Prozent Rabatt. Welche Opferwilligkeit! Die »Gemeinnützige Baugesellschaft«, Chausseestraße 74, lud alle Arbeitslosen zu sich, da ihr das gütige Ministerium reiche Baubeschäftigung übertrug. (Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt.) Die Arbeiter brummten: »Det is janz scheene, aber man bloß de Frühstücksstulle, wir lassen nich locker, bis wir ooch Eisbein mit Sauerkohl uf unsere alten Tage haben.« Andere meinten, arbeiten sei vorerst eines befreiten und freien Mannes unwürdig, jeder müsse von der Revolution vollständig ernährt werden »für so ville Verdienst um det fette Bürgerpack, denn wir haben die Sache befummelt«. Edel ist der Mensch, hilfreich und gut ... solange die zahlungsfähige Moral nicht Zahlungen leisten muß.

Der 21. März ward immer denkwürdiger. Um 9 Uhr vormittags lief eine Proklamation um: »An die deutsche Nation! Eine neue glorreiche Geschichte hebt mit dem heutigen Tage an. Ihr seid fortan eine einige, große Nation, stark, frei, mächtig. Preußens Friedrich Wilhelm stellt sich im Vertrauen auf euren heldenmütigen Beistand und eure geistige Wiedergeburt an die Spitze des Gesamtvaterlandes. Ihr werdet ihn mit den altehrwürdigen Farben deutscher Nation noch heut in eurer Mitte erblicken. Heil und Segen dem konstitutionellen Fürsten, dem König der freien, wiedergeborenen deutschen Nation!«

Diesen lieblichen Unsinn, schon vergilbt von Wind und Wetter, las Otto noch an einigen Mauerecken. Er lachte bitter in sich hinein. Geschwindigkeit ist keine Hexerei, über Nacht Deutschland einig, stark und mächtig durch ein Stück Papier! Rosige Auferstehung durch Zugrabetragen Preußens! Stäke nur ein Quentchen Vernunft hinter dem Wortschwall! Da aber weder die guten Preußen noch die deutschen Brüder einen König der Deutschen von Berlins Gnaden wünschen, so stürzen die Dilettanten Preußen und Deutschland gemeinsam ins Verderben. Auch ohne die plumpe Hinabzerrung der Krone durch klobige Fäuste bleibt der politische Wahnsinn unverzeihlich. Mit Narrenspossen befreien von was? Den Satan austreiben mit Beelzebub? Die bestehende Ordnung war verbesserungsbedürftig, doch sie lebte, diese neue Unordnung trägt den Keim frühen Todes auf den hektischen Wangen. Konstitutionell is jut, die wahren Draht- und Kulissenschieber hier wie draußen wollen einfach die Republik. Eine deutsche Republik mit unseren Sitten und Eitelkeiten, welch unschöner Traum! Um uns statt von einem menschlich hochgesinnten und hochbegabten Hohenzollern, wie dieser arme Monarch, von einer Rotte alberner Einfaltspinsel oder boshafter Schufte regieren, d. h. terrorisieren zu lassen. Einheit! Organisationslose Uneinigkeit, schlimmer als je zuvor! Deutschland ist zurzeit nicht zu retten, so laßt uns wenigstens Preußen retten ... durch eine tüchtige Tracht Prügel.

Hinter sich hörte er ein »Volkslied« trällern, in 80 000 Exemplaren gedruckt und verteilt in die Provinzen. Die Studenten übten es ein, sie exerzierten täglich im Kastanienwäldchen vor der Universität und versandten jugendlichen Quatsch an die Kommilitonen nach Königsberg, Halle, Greifswald, Breslau, Bonn. Mit den Waffen in der Hand stürmten sie am 21. Schlag 10 Uhr in die große Aula, wo der neue Minister Graf Schwerin eine zündende Ansprache hielt. Elender Volksschmeichler! murrte Otto, der Tropf meint's gut, doch er wird Sturm ernten, wo er Wind sät. Schwerin gewann es über sich, die akademische Jugend zu feiern, »die sich so glanzvoll in den Tagen des Ruhmes bewährte«. ( Le jour de gloire est arrivé, sie haben schon das Lexikon der Marseillaisesinger.) »Der König hält für seine Pflicht (!), euch von den Fortschritten zu unterrichten, die er zu nehmen gedenkt.« (Nicht mal Deutsch radebrecht die Rasselbande.) »Seine Majestät wollen sich an die Spitze des konstitutionellen Deutschlands stellen« (wo wohnt das?). »Höchstsie wollen Freiheit und Konstitution und haben schleunige Bildung eines deutschen Parlaments beschlossen« (wo? das faule Frankfurter ist ja schon »gebildet«) »und werden sich an die Spitze des Fortschritts stellen« (wo schmierige Fäuste ihn hinstellen) »und rechnen auf den Schutz des Volkes.« Ein Preußenkönig mit seiner Armee! Und der Trottel Schwerin fragt noch die eingelernten grünen Papageien: »Ist das nicht auch eure Meinung?« Tausendstimmiges Y–a! »Die Akademiker müssen sich um den deutschen König scharen. Er ist unsere Seele, er und der Fortschritt, die Freiheit sein Gedanke. Die verantwortlichen Minister hoch!« Er läßt sich selbst hoch leben! O läppisch Sammelsurium klingender Phrasen! Der große Volksfreund Graf Mirabeau – pardon, Schwerin – verabschiedet sich hocherhobenen Hauptes, umrahmt von Rektor Müller und Prorektor Hecker, Namensverwandten des süddeutschen Skandalmachers; beide säbelumgürtet und Pistolen aus der Rocktasche baumelnd. Auch ein Professor Dove scheint eine brenzliche Freiheitsleuchte, nach ihm und anderen Lieblingsprofessoren benennen sich die verschiedenen Rotten des Studentenbataillons, damit die weiland Pariser »Sektionen« Marat, Danton und Konsorten hübsch nachgeäfft werden. Am schwarzen Brett sah Otto angeschlagen: »Alle Hörsäle sind zu Versammlungs- und Wachtzimmern der Rotten bestimmt.« Der würdige Rektor ließ den »Herren Kommilitonen« Erfrischungen allerart reichen, um sie bei flotter Revolutionsstimmung zu erhalten. Zum Totlachen oder zum Totschießen!

Er stellte sich den lächerlichen Umzug schwarzrotgoldener Herrlichkeit vor. Der König im Schloßhof am Eingang der Wendeltreppe zu Pferde in Uniform des 1. Garderegiments mit dem Helm, die »deutschen« Farben als Binde um den Arm, dito alle anwesenden Prinzen und Minister! Unermeßlicher Jubel! O gewundener Aufruf an mein Volk: »Es ist keine Usurpation, wenn ich mich zur Rettung deutscher Freiheit und Einheit berufen fühle, ich schwöre zu Gott, daß ich keinen Fürsten vom Thron stürzen will, nur Deutschlands Freiheit will ich schützen, sie muß geschirmt werden mit deutscher Treue auf Grundlage aufrichtiger deutscher Verfassung!« Die Worte »deutsch« und »Freiheit« müssen recht oft vorkommen, damit sich Gedankenlose was dabei denken, ohne zu wissen, was man darunter verstehen soll. Einheit ohne Beseitigung der Welfen und des Kurhessischen Wüterichs und bei Verbrüderung mit der Revolution, die ihnen den Tod schwur! Als ob die Fürsten solcher Zukunftsmusik trauen würden, angestimmt von einem gefangenen König, der sein Sprüchlein hersagt, wie seine Wärter es vorleiern.

Der Rummel ging los, voraus zwei Generale mit Schwarzrotgold, dahinter die Revolutionsminister, gefolgt von zwei Bürgerschützen zu Fuß neben dem Stadtverordneten Gleich, der ein dreifarbiges Banner schwenkte. (Gleich und gleich gesellt sich gern, passender Name für wüste Gleichmacherei.) Jetzt der König mit Prinzen und Generalen. An der Schloßfreiheit vorbei zur »Königswache«, wo die Bürgerwehr salutierte. Der Monarch hielt sein Roß an und sprach die geflügelten, unglaublichen Worte: »Ich kann nicht genugsam in Worte kleiden, was ich euch danke, glaubt's mir!« (Otto knirschte vor Wut über so viel Torheit oder Heuchelei.) Prompt quittierte ein Bürgergardist: »Es lebe der Kaiser von Deutschland!« Doch bei diesem Punkt blieb der König unerbittlich ängstlich und wahrheitsgetreu, er rief unwillig: »Nicht doch, dies will, dies mag ich nicht!« Hierauf ging's an der Blücherstatue vorbei, der alte Marschall Vorwärts mochte sich nicht wenig wundern. Aus der Behrenstraße in die Linden zurück, am Opernplatz schloß sich der Polizeipräsident an und eröffnete nun den Zug, der vor der Universität wieder hielt. Dort bildeten bewaffnete Studenten Spalier in Reih und Glied, drei Chargierte trugen alsbald das Reichsbanner vor, der König zügelte sein Pferd unfern des Friedensdenkmals und sprach die kleinen Worte gelassen aus:

»Mein Herz schlägt hoch, daß es meine Hauptstadt, in der sich so kraftvolle Gesinnung bewährt. Der heutige Tag ist groß, unvergeßlich, entscheidend. In Ihnen, meine Herren Studierenden, steckt eine große Zukunft.« (Recht so, nur immer den Milchbärten nach dem sabbeligen Mund reden!) »Wenn Sie am Ziel Ihres Lebens auf dasselbe zurückblicken, so bleiben Sie des heutigen Tages eingedenk!« (Wollen's hoffen, die einen sind dann loyale Beamte, die anderen wohlbestallte Inhaber von Kanzel oder Katheder, die dritten Rechtsverfertiger mit Klienten, die vierten Ärzte mit Patienten! All die Kulturblüten begießt das sauberste Philisterium, immer wird mit Wasser gekocht, oft mit schmutzigem.) »Die Studierenden machen den größten Eindruck auf das Volk und das Volk auf die Studierenden!« (Na ob! Zwei Begriffe ohne Inhalt ziehen vor einander den Hut.) »Ich trage Farben, die nicht mein sind, doch ich will damit nichts usurpieren, keine Krone, keine Herrschaft, ich will Deutschlands Freiheit und Ordnung, das schwöre ich zu Gott«, wobei er die Rechte gen Himmel hob. (Freiheit und Ordnung in gleichem Atem! Dunkel ist der Rede Sinn.) »Ich tat, was in deutscher Geschichte oft geschah, daß Fürsten, wenn die Ordnung niedergetreten, sich selbst an die Spitze des ganzen Volkes stellten. Ich glaube, daß der Fürsten Herzen mir entgegenschlagen und der Wille des Volkes mich unterstützen werden.« (Fürsten und Volkswille, Hund und Katze, Feuer und Wasser!) »Merken Sie sich's, schreiben Sie's auf, daß ich nichts will als deutsche Freiheit. Sagen Sie es der abwesenden studierenden Jugend, es tut mir unendlich leid, daß nicht alle da sind.« (Was sollen die Bürschchen denn sagen? Daß »unendlich« viel geschwätzt wird? – Zarte Schonung für die Kleinstaaten, als ob jemand, der uns fürchtet und haßt, an Freundschaftsbeteuerung glaubt! Solch widerspruchsvolles Zeug pflegten Cromwell und Bonaparte von sich zu geben, wenn sie ihre Absicht verhüllten und alle Dummriane einseiften. Wär' es doch hier so! Doch der arme Herr weiß selbst kaum, was er deklamiert, und läßt sich von falscher Begeisterung der Umgebung fortreißen, bis er selber an den Firlefanz glaubt. Als ihm anständige Erwählte der Nation die Kaiserkrone boten, ekelte es ihn; wenn heut unanständige Schlingel ihn auf den Schild heben, scheint er minder prüde. So sind die Menschen, Erfolg ist ihr Gott, Macht geht vor Recht.)

Und dann schlugen die Studenten stramm die Waffen aneinander, das Volk schwenkte die Hüte mit schwarzrotgoldenen Devisen und brach in Jubel aus, umdrängte den König, dessen Pferd nur mühsam vorwärts kam. Am Schloß umarmte er Prinz Albrecht tiefergriffen, Geschrei und Hüte-in-die-Höhe-werfen »verkündeten die Liebe für Freiheit und Recht, das flammende Gefühl des Dankes für die Führer zu Tagen des Ruhmes«, was natürlich kein Auge tränenleer ließ. So las man's rührend in der Berliner Presse. Der einsame Wanderer hatte gut murmeln: »Und hängt ein Kalbsfell um die schnöden Glieder!« Sein Shakespeare hatte in Jack Cade und römischen Tribunen und Plebejern nicht zu kraß gemalt. An der Bahre der gemeuchelten Monarchie gelang vielleicht auch hier eine Leichenrede des Mark Anton, wenn man nur die rechten Fühler ausstreckte und die geeignete Stunde fand. Doch wann? Gleichviel, bei Philippi sehen wir uns wieder. Freilich erinnerte er sich unwillkürlich, als er zur Blücherstatue hinaufsah, daß jener dämonische Haudegen wirklich »für Freiheit und Vaterland« stritt, Studenten und Turner als Freiwillige Jäger hochhielt, den Linienoffizieren seinen Unwillen über Benachteiligung der Landwehr ausdrückte, den offiziellen Trinkspruch auf Schwarzenberg wagte, daß er »zu siegen verstand, obschon er drei Monarchen im Lager hatte«. Das Preußen der Befreiungskriege schien heut verschollene Sage. Junker Blücher würde heut als Revolutionär gelten wie Scharnhorst, Gneisenau, Stein. Nun ja, jeder rechte Kerl muß in seiner Weise Umstürzler sein, doch man kann es auch als Konter-Revolutionär.

In einiger Ferne zog am Standbild des Großen Kurfürsten, der hoch zu Roß sich über das Schloß seines Schöpfers Schlüter zu wundern schien, weil es so trübselig und grau aussehe, ein Freiheitsheld vorüber mit umgürteter Trikolorenschärpe und andächtigem Geleit begeisterter Anhänger. Wahrhaftig, der ehemalige Studiosus Schramm, jetzt wohlbestallter königlicher Assessor und Weltbefreier von eigenen Gnaden. Otto hörte hinter sich zwei biedere Ackerbürger an einem Laternenpfahl plaudern: »Nu seht mal Schramm! Is am 18. nachts nach Dessau ausgekniffen, un als er dort vom Rückzug der Truppen las, hat er gequatscht, dat sei 'ne eklige Polizeifalle. Nu haben se ihn im Triumphmarsch heimgeholt. So'n fauler Zauber, sagt Kalisch. Aber so jeht's in de Welt, der eene hat'n Beutel, der andere hat dat Jeld. Nu dut er dicke, als wär'n die Soldaten vor ihm verduftet.« Otto lächelte fein über diese Enthüllung demokratischen Ruhmes. Ob Schramm ihn wohl aus der Ferne wiedererkannt hatte?

Bismarck bummelte jetzt durch die Straßen, um sich die Kampfstätten anzusehen, wo noch viele traurige Spuren sichtbar blieben. Als er in die Jägerstraße abbog, wo ein Hauptgemetzel getobt hatte, flüsterte ihm ein Unbekannter im Vorübergehen zu: »Sie werden verfolgt.« In die Linden zurückgekehrt, hörte er eine Stimme hinter sich: »Kommen Sie mit!« Er drehte sich um und folgte einem Augenwink in die Kleine Mauerstraße. Der Unbekannte, den Hut in die Stirn ziehend, murmelte: »Reisen Sie sofort ab oder Sie werden verhaftet.«

»Kennen Sie mich?«

»Gewiß, Sie sind Herr v. Bismarck.« Der Unbekannte trollte sich schnell seines Weges. Der lange Recke schlenderte ruhigen Schrittes weiter. Es stimmte ihn nachdenklich, daß er überall die Polizei höchst freundlich mit den Aufständischen verkehren sah. Die Straßen zeigten übrigens eine auffallende Leere, Wagen fuhren nirgends, überall sah man nur kleine Trupps von Blusenmännern mit schwarzrotgoldenen oder roten Fahnen. Wo die Friedrichstraße eng die Linden querschneidet, gab es einen Triumphmarsch mit Musik für einen Barrikadenhelden, dem ein riesiger Lorbeerkranz über den struppigen Kopf hing. Am Brandenburger Tor stieß er mit einem konservativen Parteigenossen zusammen, der trübselig vorüberschlich und nur verstohlen grüßte. Ihn fragte er leise nach der Ursache, warum so wenig Polizei sichtbar sei. »Die fraternisiert mit dem Pöbel«, raunte der andere leise. »Der Polizeipräsident Minutoli ist höchst verdächtig. Er ist hier riesig populär. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

»Wissen Sie Näheres?«

»Nur daß Bodelschwingh ihm vor acht Tagen Besorgnisse ausdrückte, es herrsche eine dumpfe Gärung, und Minutoli ihn in eine Volksversammlung vor den ›Zelten‹ führte, die sehr gemäßigt verlief. Damit hat er den Minister eingeseift.«

»Gräßlich! Ja, wenn ein Polizeipräsident bei Rebellen in Ansehen steht, so ist das unnatürlich. Adieu! Ich fahre ab.«

»Daran tun Sie Wohl. Gott gebe, daß man mich nicht hörte! Drüben paßt ein Spitzel auf. Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Aha! dachte Bismarck, die Gefahr und die Warnungen kommen beide von hochlöblicher Geheimpolizei. Offenbar lebt hier alles unter rotem Terror. Hier kann ich doch nichts nützen und nur zwecklos meine Haut zu Markte tragen. Als er über den Leipziger Platz dem Bahnhof zuschritt, juchzte ein Straßenjunge, eine richtige Berliner Range, hinter ihm her: »Kick, dat is ooch en Franzos.« Offenbar erachtete der Bengel den unrasierten langen Kinnbart im sonst geschorenen Gesicht für etwas Französisches. Aber Bismarck dachte sich sein Teil über die ausländische Wühlerei und Beteiligung von Franzosen und Polen an dieser Revolte, die sich planmäßig zu einer Revolution auswuchs. Offenbar glaubten die einheimischen und fremdländischen Jakobiner sich schon mitten in der großen Revolution von Paris zu befinden. Nur die Guillotine fehlte noch, das Auftreten gegen die Person des Königs erinnerte aber lebhaft an den barschen Ton wider Louis Capet, die Sprache in den politischen Klubs an die seligen Montagnards. Wie man erst Leichen auf der Bahre und später alle Särge der gefallenen sogenannten Befreier (manche davon konnten nicht mal deutsch reden) am König vor dem Schloßbalkon vorbeitrug und ihn zwang, den Hut zu ziehen, schien ein Vorspiel blutiger Tragödie, dagegen der famose festliche Umzug, wobei man dem unglücklichen Schellenkönig eine schwarzrotgoldene Fahne in die Hand steckte und eine dreifarbige Binde um den Arm band, eine Satirposse. Bismarck zitterte vor Entrüstung, wenn er sich vergegenwärtigte, wie Prinzen, Minister, Generale mit dem dreifarbigen Abzeichen sich um die sogenannte Nationalfahne scharen mußten, die ein Bürger zu Pferde vorantrug. An den Straßenecken stand noch die schwulstige Proklamation angeschlagen, worin der so tief gedemütigte schwache Monarch sich als »Führer der deutschen Nation für die Tage der Gefahr« empfahl und »die alten ehrwürdigen Farben der Nation« annahm, deren Schwarzrotgold doch eigentlich nur in der Phantasie der verflossenen Romantiker und Turner existierte. »Preußen geht fortan in Deutschland auf.« Oho, das verbitten wir uns! dachte der stramme Altpreuße, indem er zu Rauchs Reiterstandbild Friedrichs des Großen aufblickte, an dessen Postament auch so ein Papierfetzen klebte.

Noch war sein Trotz nicht gebrochen. Als er erneut in Potsdam mit den beiden kommandierenden Generalen die Lage besprach, drängte er auf selbständiges Losschlagen. »Wie sollen wir das anfangen?« rief Prittwitz erregt. Da stellte sich der Zivilist an ein geöffnetes Klavier und klimperte die Noten des Signals: »Das Ganze avancieren!« Der alte Möllendorf brach sofort in Tränen aus und fiel ihm um den Hals. »Wenn Sie uns das besorgen könnten!«

»Jawoll, dideldum dittera«, parodierte Prittwitz bitter den Sturmmarsch Laufschritt marsch marsch. »Das ist das Rechte. Ich weiß, was Sie meinen, auf Berlin marschieren, es mit Sturm nehmen! Als ob daraus was werden könnte! Der eine rät dies, der andere das, und Herr v. Möllendorf kann nur zur Hälfte auf dem Stuhl sitzen und springt doch auf vor Exstase. Is ja alles Mumpitz, wir dürfen nich!«

»Was kann Ihnen denn geschehen, wenn Sie's auf eigene Faust tun? Das Vaterland dankt Ihnen und der Monarch schließlich auch.«

Prittwitz sann nach. »Wenn ich gewiß wüßte, ob Wrangel und Hedemann mitgehen! Zerwürfnis in der Armee wäre das schlimmste, wenn wir es denn schon mit der Insubordination wagen wollen.«

»Die Gewißheit schaff ich Ihnen, will ermitteln und vermitteln, einen Boten nach Stettin zu Wrangel schicken und selbst in Magdeburg bei Hedemann anfragen.«

»Gut, gut. Hätt' ich nur damals auf Bodelschwingh nicht gehört, dann säßen wir nicht jetzt in der Patsche.«

»Was meinen Exzellenz?«

»Nun, im Vertrauen, es darf nicht herumkommen – nach der Proklamation ›An meine lieben Berliner‹ (der Teufel hole sie!) brach ich gehorsam den Kampf ab, doch blieben Schloßplatz, Zeughaus, Breite Straße, Markgrafenstraße besetzt, alle Zugänge, die aufs Schloß einmünden bis zum Opernplatz. Da kam Bodelschwingh, ob ich nicht den Befehl verstanden hätte: ›Der Schloßplatz muß geräumt werden.‹ ›Was sinnen Sie mir an!‹ rief ich. ›Das hieße den König preisgeben.‹ Aber der Minister blieb dabei: ›Die Proklamation befiehlt, alle öffentlichen Plätze zu räumen. Ist der Schloßplatz dies oder nicht? Noch bin ich Minister und weiß auswendig, was meine Befugnisse sind. Ich ersuche Sie nochmals und fordere, daß Sie vom Schloßplatz abziehen.‹ Ich glaube fast, es war Eifersucht der Zivil- auf die Militärgewalt. Was konnte ich aber anderes machen als gehorchen?«

»Das will ich Euer Exzellenz sagen«, versetzte Bismarck finster. »Ich hätte dem nächstbesten Unteroffizier kommandiert: »Nehmen Sie den verdächtigen Zivilisten in Gewahrsam!‹ Das war die rechte Musik für solchen Text.«

Möllendorf lachte. »Sie sind noch jünger als Sie aussehen. Sie sind der richtige Unverantwortliche. Wenn man vom Rathaus kommt – Sie kennen das Sprichwort.«

Prittwitz zuckte die Achseln. »Sie sind Politiker, ich bin Soldat und einer allerhöchsten schriftlichen Weisung untertan, ausgelegt durch den verantwortlichen Premierminister.«

»Ausgelegt nach dessen Belieben! Ich habe Kunde, daß der König gar nicht damit einverstanden war.«

»Wie soll ich das wissen! Allerdings schickte man mir einen Offizier vom Schlosse nach, wo die Truppen geblieben seien, und da hab' ich mich zu der respektwidrigen Antwort hinreißen lassen: ›Die gingen mir durch die Lappen, wo alle mitreden!‹ Überhaupt hab' ich nicht leichten Herzens –« Er brach finster ab, und Möllendorf fiel ein:

»Die Wahrheit ist – und das haben manche gesehen, denn die Unterredung fand im Freien statt –, daß der arme Prittwitz blaurot vor Wut wurde und den Degen in die Scheide stieß mit der bewußten Aufforderung, die Blücher so sehr liebte.«

»Sie meinen wohl Götz v. Berlichingen?« rief der Schönhauser hocherfreut. Dieser Kernmann war seine Lieblingsfigur in der Literatur.

»Der von Goethe? Mag schon sein. Ich meine, wie der alte Marschall bei Belle-Alliance hörte, Grouchy greife ihn im Rücken an: ›Da steht er gerade recht, er kann mir –!‹« Alle lachten entzückt. »Das war so'n oller Preuße!«

»Das ist die höchste Poesie!« bekräftigte Bismarck. »Und ich danke Euer Exzellenz, daß Sie das rechte Wort fanden.«

»Ja, und dann hab' ich mein Pferd links gedreht und bin schweigend abgeritten, im Schritt wie zu einem Trauermarsch.« Alle schwiegen düster.

»Wenn wenigstens der Prinz von Preußen –« hub Bismarck wieder an.

»Pst!« Möllendorf sah sich vorsichtig um. »Er war auf der Pfaueninsel. Sein Adjutant, Herr v. Boyen, der Sohn des Feldmarschalls, hat alles vorbereitet, der hohe Herr geht nach England.«

»Gott schütze ihn! Über seinem Palais steht ›Nationaleigentum‹, es ist zum Herzbrechen«, murmelte der Schönhauser. »Also auf nach Magdeburg, ich empfehle mich zu geneigtem Andenken und hoffentlich auf frohes Wiedersehen!«

*


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