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Marianne sucht den verlorenen Werner und geht fast selbst verloren.

»Marianne, ist Werner bei euch?« rief Sophie, während sie mit einem Arm voll trockener Wäsche zum Haus ging.

»Nein! Er ist, glaub' ich, bei Frau Völklein«, sagte Marianne.

Sie war gerade mit Lotti in Verhandlung wegen zweier Hüte. Marianne war eine Putzmacherin und hatte eine Auswahl von Hüten, die sie aus Blättern geschnitten und mit Tannadeln zusammengesteckt hatte, Kopf und Krempe. Lotti kam als eine Mama, um für ihre Kinder Sonntagshüte zu bestellen. Die Modistin zeigte ihr allerlei Aufputz, und nach reiflichem Erwägen wählte Mama Lotti dunkelblaue Bänder, aus der Blüte einer grossen Klematis geschnitten, und für vorn ein Bouquet feiner, weisser Blümchen.

Sophie legte ihre Wäsche zusammen. Nach einer Weile aber sah sie Frau Völklein vom Hühnerstall kommen ohne Werner.

»Vielleicht ist er bei Fritz und Hans«, meinte die alte Frau.

»Nein«, sagte Mama, die auch hinzutrat. »Die beiden sind auf den See hinausgefahren; Werner ist nicht dabei.« Sie ging in den Garten.

»Marianne, Lotti!« rief sie; »lasst euer Spiel und seht, wo Werner ist. Ich mag nicht, dass er sich so ganz allein herumtreibt.«

Die beiden Mädchen liefen rufend ums Haus, durch den Garten, dann in die Buchenlaube, in die hinteren Anlagen und wieder zurück. Aber Werner war nicht zu finden.

Währenddessen war Sophie in den Stall gegangen. Jakob sagte, er habe den kleinen Werner den ganzen Tag nicht gesehen.

Als Marianne und Lotti zum See kamen, wo Werner manchmal Muscheln suchte, stand Mama auch da, nach allen Seiten ausblickend.

»Wo mag er nur sein –?« sagte sie, und Marianne fühlte, das Mama in Angst war.

»Frau Turnach«, suchte Sophie zu beruhigen, »er kommt gewiss gleich irgendwoher gelaufen. Kürzlich rief ich auch lang. Da stand der kleine Schlingel ganz nah hinter dem Waschhaus.«

Frau Turnach schüttelte den Kopf. Sophie wusste wohl, dass sie ans Wasser dachte.

»Werner ist nicht so unbedacht, wenn er allein ist«, fuhr Sophie fort. »Und dann – überall geht's ja ganz flach hinaus. Höchstens wird er wieder einmal recht nass –«

»Aber der Färbergraben –!« warf Mama ein.

Sophie und die Kinder sahen einander an. Werner war hoffentlich nicht zum Färbergraben gegangen –! Der Färbergraben war eine schmale Bucht am Ende der hinteren Anlagen. Das Wasser des Grabens, das von der nahen Färberei immer trüb und dunkel gefärbt war, hatte eine ziemliche Tiefe.

»Es nützt nichts, hier zu stehen«, sagte Mama, indem sie sich zum Garten zurückwandte. »Wir müssen uns besinnen, wo Werner sein kann!«

»Mama«, rief Marianne, »jetzt fällt mir etwas ein! Wahrscheinlich ist Werner bei Frau Höfler. Als ich vorgestern mit ihm Brot holte, gab sie ihm drei Zuckermandeln. Da hat er gesagt, er komme bald wieder. Soll ich schnell hinauf laufen?«

»Ja, geh!« sagte Mama. Alle waren etwas erleichtert. Es war wirklich gut möglich, dass Werner auf einmal Lust nach Zuckermandeln bekommen hatte.

Doch als Marianne in den Bäckerladen trat, sass da Frau Höfler ganz allein und las in einer Zeitung.

»Nein, dein Brüderlein ist nicht da gewesen«, sagte sie, »Es ist ein herziger Bub; sag ihm nur, er solle mich bald wieder besuchen. Da – das sei von der Frau Höfler –«

Die freundliche Frau nahm ein paar braune Bonbons aus einer Glasbüchse.

Marianne dankte und steckte die Bonbons ein. Aber draussen blieb sie ratlos stehen und sah die Strasse auf und ab. Wo konnte sie den kleinen Werner finden?

Da kam ihr wieder ein Gedanke, und sie bog mit neuem Mut in den nächsten Seitenweg ein. Wenn man da hinaufging an der Kirche vorbei und über den Bach, dann kam die Wiese, die Frau Völklein gehörte und zu der die Kinder etwa mit Jakob fuhren, wenn er Gras oder Heu holte. In der Nähe stand ein kleines Haus; die Kinder nannten es das Katzenhäuslein, weil da ein Mann und eine Frau mit fünf oder sechs Katzen wohnten. Das letztemal waren gar noch vier ganz kleine, junge dagewesen; Werner hatte sich gar nicht trennen können davon, und heute morgen hatte er wieder von den Kätzlein gesprochen. »So trinken sie!« hatte er gesagt und dabei versucht, mit seiner Zunge die Milch aus der Untertasse zu lecken. Gewiss war Werner zu den Katzen gegangen!

Als Marianne vor das kleine Haus kam, stand der Mann auf einer Leiter und pflückte Birnen von seinem Spalier.

»Guten Abend«, sagte Marianne höflich. »Ist nicht vielleicht mein Brüderlein da?«

Der alte Mann tat einen Schritt herunter und hielt die Hand ans Ohr:

»Dein – was?«

»Mein Brüderlein. Es ist blond und hat eine rot und weisse Schürze an«, sagte Marianne.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Kinder laufen viele vorbei. Ob grad eins eine rot und weisse Schürze hatte, weiss ich nicht. Da im Haus war keines.«

Damit griff er nach einer schönen gelben Birne und kümmerte sich nicht weiter um Marianne, welche traurig zu ihm hinaufsah. Zwei grosse Katzen, eine schwarze und eine rötlich getigerte, strichen, zutraulich schnurrend, um sie herum. Aber sie konnten ihr auch nicht sagen, wo der kleine Werner war.

Vor einem Hause etwas weiter oben stand eine Frau am Waschzuber. Marianne trat zu ihr.

»Haben Sie kein Büblein gesehen mit blonden Haaren und einer rot und weissen Schürze?«

»Ein Büblein? Ist es dein Brüderlein?« fragte die Frau freundlich und neugierig und wischte den Seifenschaum von den Händen. »Ist es euch davongelaufen? Ja, zu so Kleinen muss man sehen, sonst gibt's leicht etwas. Wie heissest du? Wie heisst das Brüderlein? Wie viele seid ihr? Was ist dein Papa? ...«

Marianne kam kaum nach mit Antworten. Doch tat ihr die Teilnahme wohl, und als die Frau noch einmal fragte:

»Also blond ist es? Und eine rot und weisse Schürze, sagst du, habe es an?« da war Marianne, als ob die Frau sie jetzt dann gleich zu dem kleinen Werner führe.

»Nein, wahrhaftig, es tut mir leid – gesehen habe ich kein solches Büblein«, fuhr aber die redselige Frau fort. »Hingegen bin ich noch nicht lang da; es kann deswegen doch vorbeigegangen sein. Frag' doch einmal dort beim kleinen Tannenhof. Die lahme Christine sitzt den ganzen Tag vor dem Hause und sieht alles, was hin und her geht. Wenn du das Brüderlein gefunden hast, so komm' dann wieder da vorbei, dass ich es auch sehe!«

Marianne versprach es und ging auf den »kleinen Tannenhof« zu, rechts den Weg hinan.

Die lahme Christine war ein junges Mädchen mit blassem Gesicht und scharfen braunen Augen.

»Ein Büblein –? Ja, eine ganze Menge Kinder, Buben und Mädchen, sind vorbeigelaufen, alle hinter einem fremden Mann, der einen Affen auf der Schulter hatte, einen allerliebsten kleinen Affen. Und wart' – ja, ja, ich meine, zu hinterst sei ein Büblein gewesen mit rot und weisser Schürze und blonden Haaren. – Hat er Löcklein, dein kleiner Bruder?«

»Ja, ja, nette Löcklein!« sagte Marianne.

Die lahme Christine wies vor sich die Anhöhe hinauf.

»Da ist der Mann mit dem Äffchen weitergegangen, und der ganze Kinderschwarm hinter ihm. Aber es ist schon eine Weile seither.«

Marianne war nun ganz sicher, den kleinen Werner zu finden. Die Beschreibung passte genau, und natürlich – wenn Werner das Äffchen gesehen hatte, war er nachgelaufen.

Rasch ging Marianne die Strasse hinauf, die die lahme Christine gezeigt hatte. Zwei- oder dreimal, wo ein Kreuzweg war, fragte sie, und immer wusste man ihr zu sagen, welche Richtung der Mann mit dem Äffchen genommen hatte. Sie kam nach und nach aus den Häusern heraus. Hinter Wiesen und Obstbäumen lag am Berge schon der Wald. Links an der Strasse stand ein kleines Wirtshaus.

»Der Mann mit dem Äffchen –?« sagte ein Bursche, der mit einem Brotkorb aus dem Hause kam und den Marianne gefragt hatte. »Da drin sitzt er.«

Marianne sah sich um. Nirgends waren die Kinder zu sehen, von denen die lahme Christine gesprochen. Vielleicht waren sie bei dem Mann in der Stube. Marianne trat in den Hausgang und sah durch die halb offene Türe. Da sassen mehrere Männer, und vor ihnen auf dem Tische kauerte ein kleiner grauer Affe, der einen Apfel in der Hand hielt. Aber kein Kind und kein Werner war in der Wirtsstube zu sehen.

Marianne blieb regungslos an der Türe stehen. Es war eine zu bittere Enttäuschung. Sie hatte so sicher gemeint, Werner hier zu finden und ihn heim bringen zu können zu Mama.

Da drang eine ärgerliche Stimme den Gang hervor:

»Nun hab' ich gemeint, ich hätte das Kinderzeugs endlich fortgejagt! Jetzt steht wieder eins da – Macht, dass du aus dem Haus kommst! Der Affe ist jetzt nicht mehr zu sehen.«

Es war eine dicke Frau mit einem Brett voll Teller und Gläser.

»Ich suche nur meinen kleinen Bruder,« sagte Marianne und gab sich Mühe, nicht zu weinen.

»Deinen kleinen Bruder –? Es laufen viele kleine Brüder herum. Warum schaut ihr nicht besser zu ihnen!«

»Man hat mir gesagt, er sei dem Mann mit dem Äffchen nachgelaufen«, erklärte Marianne zaghaft.

»Es kann sein. Was weiss ich! Die einen Kinder sind da die Strasse hinunter gegangen, die andern dort hinüber –« Weil die dicke Frau keine Hand frei hatte, deutete sie mit dem Kopf nach der Seite, wo man durch das Fenster den Wald sah. Dann ging sie in die Wirtsstube; die Türe schlug hinter ihr zu.

Marianne stand vor dem Hause. Noch nie im Leben war ihr so schwer zu Mut gewesen. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Aber sie wischte sie ab. Man musste jetzt tapfer bleiben und keine Zeit verlieren.

Die Strasse hinunter war Werner nicht gegangen; da hätte Marianne ihn getroffen. Einige grössere Kinder waren ihr entgegengekommen. Also den Weg dort, der am Walde entlang führte. Vielleicht hatten ein paar Kinder Werner mitgenommen. Aber fremde Kinder, die nicht wussten, wo er wohnte. Weit konnte er nicht sein; endlich musste Marianne ihn doch finden. Die lahme Christine hatte ihn ja gesehen hinter dem Mann mit dem Äffchen; ein Büblein mit blonden Löckchen und einer rot und weissen Schürze, hatte sie gesagt.

Marianne ging raschen Schrittes am Waldsaum weiter. Es dunkelte schon. Am Wege standen Büsche mit roten und schwarzen Beeren; von der Wiese, in der die Herbstzeitlosen blühten, stieg ein weisser Nebel auf. Sonst waren Blumen und rote Beeren schön; aber heute sah alles so traurig aus.

Es kamen zwei Wege; welchen sollte Marianne nehmen?

»Werner – Werner –!« fing sie an zu rufen; vielleicht konnte das Brüderlein sie hören.

»Werner –!« Ihre Stimme kam ihr fremd und unheimlich vor in dieser stillen Waldgegend. Sie schwieg wieder und ging geradeaus an einem Weiher vorbei, der trüb und dunkel da lag. Wenn Werner hineingefallen wäre –! Es gab ihr einen Stich ins Herz.

Da hörte sie von der Wiese drüben ein Hundegebell. Zwei Männer gingen dort auf dem Fussweg. Der Hund kam in grossen Sätzen daher gerannt.

»Hier, Pasche – hier!« rief einer der Männer, und der Hund gehorchte, um aber im nächsten Augenblick wieder bellend über die Wiese zu rennen.

Marianne zitterte vor Angst. Einmal hatte ein fremder Hund sie in den Arm gebissen; seither fürchtete sie die grossen Hunde.

Wieder rief der Mann den Hund zurück und versuchte, ihn zu fassen. Aber er entwischte und schoss zum dritten Mal daher. Da sprang Marianne in ihrer Angst in den Wald hinein. Bellend kam der Hund ihr nach; die Zweige knackten; Marianne lief, was sie konnte. Jetzt war der Hund ganz nahe; sie stürzte vorwärts und fiel über eine Baumwurzel. Mit einem Satze war der Hund auf ihr; sie hörte ihn keuchen und fühlte seinen heissen Atem. Die Sinne vergingen ihr fast – da sauste der Hund wieder zum Weg hinunter.

Marianne stand auf und rannte weiter, immer weiter durch das Dickicht. Die Zweige schlugen ihr ins Gesicht; ihre Füsse blieben in den Dornranken hängen; wieder hörte sie hinter sich das Hundegebell. Abermals fiel sie hin und raffte sich auf; die Stimmen der Männer tönten näher, dann ferner. Endlich verhallte auch das Gebell.

Aber Marianne in ihrer Angst lief immer zu, immer zu, bergan und wieder bergab, bis sie endlich ausser Atem auf eine breite Strasse kam, die mitten durch den Wald führte.

Da stand sie nun hülflos, verirrt, verloren. In welcher Richtung sollte sie gehen –? Wo war der Heimweg –? Sie dachte nicht mehr an den kleinen Werner. Ihre eigene Not und Verlassenheit war zu gross und schrecklich.

Es war ganz dunkel geworden. Hohe, finstere Tannen ragten zu beiden Seiten der Strasse auf. Da setzte sich Marianne am Rande hin und fing an, bitterlich zu weinen.

»Mama – Mama –« schluchzte sie von Zeit zu Zeit. Aber dann fiel ihr ein, wie weit sie von Mama weg sei. Nie konnte sie sich durch den grossen dunkeln Wald heimfinden. Sie musste die ganze Nacht hier bleiben und vor Angst sterben. So sass Marianne lange an der einsamen Bergstrasse. Hin und wieder rauschte und knackte es hinter ihr im Dickicht; dann fuhr sie entsetzt zusammen ...

»Hü – hü –! Du bist doch ein Fauler!« sagte der alte Mann, der auf seinem Wagen daher fuhr. Er schüttelte das Leitseil, und der dicke Gaul tat, als wollte er einen Trab anschlagen, kam aber gleich wieder in seinen gemächlichen Schritt zurück.

»Wie die Tage kurz werden! Jetzt fahren wir schon völlig im Dunkeln durch das Fuchstobel. Ja, ja, es geht eben langsam dem Winter zu.«

Der alte Mann fuhr jede Woche zweimal von der Stadt hier herauf, und weil er niemand zum Plaudern hatte unterwegs, so sagte er hin und wieder ein Wort zu sich selber.

Die Laterne am Wagen warf einen hellen Schein auf die breite Strasse.

»Nu! was sitzt denn da am Weg –? Heh – heh –! Wenn du eine Stimme hast, so gib Antwort!« Der alte Mann hielt seinen Gaul an.

Marianne erhob sich und sah mit ihren verweinten Augen zu dem Manne auf.

»Ja herrjeh, Kind – wie kommst denn du so allein und so spät ins Fuchstobel –?«

Marianne versuchte zu antworten; aber Jammer und Weinen schüttelten sie so, dass sie nicht sprechen konnte.

»Was ist mit dir? Red'! Was willst da im Wald oben?« fragte der alte Mann wieder.

Marianne schluchzte laut auf.

»Ich – ich hab' mein Brüderlein suchen wollen, und da hab' ich – den Weg –«

»Da hast den Weg verloren. Aha! Und jetzt werden sie daheim noch dich suchen müssen! Was mach' ich doch mit dir –? Allein kann man dich nicht gehen lassen –« Der alte Mann rieb sich das Kinn. »Komm – sitz' halt auf! Musst aber noch einen kleinen Umweg mit mir machen; so ohne weiteres kann ich dich nicht hinunterfahren. Meine Alte würde einen schönen Jammer haben, wenn ich um halb acht Uhr nicht zu Haus wäre.«

Marianne kletterte mit Hülfe des alten Mannes auf den Sitz neben ihm. Der Gaul, damit er wisse, dass es jetzt ernst gelte, bekam eins mit der Peitsche. In etwa einer Viertelstunde hielt der Wagen vor einem einzeln stehenden Hause.

»Guten Abend, Vater«, sagte eine Frau, die mit dem Lichte unter die Türe trat. »Du kommst spät!«

»Ja, und muss gleich noch einmal hinunter an den See.«

»Ach, was machst du für Spässe!« rief die Frau, indem sie näher trat. »In keinem Fall lass ich dich noch einmal fort so bei Nacht und Nebel!«

»Wirst doch müssen, Alte«, sagte der Mann gleichmütig. »Mach, dass das Abendessen auf den Tisch kommt. Vrene soll dem Bless etwas geben, aber ihn nicht ausspannen! So, und da hab' ich dir ein Stadtjüngferlein mitgebracht –« Damit hob der alte Mann, der abgestiegen war, Marianne vom Wagen.

»Nein, aber nein –!« rief die Frau und schlug die Hände zusammen. »Was wär' mir doch das! Wo hast du es gefunden? Was –? Im Fuchstobel? Hat es sich verirrt? Wohin gehört es?«

Der alte Mann erzählte, während sie ins Haus gingen, was er von Marianne erfahren hatte, und bei jedem Satze gab es von Seiten der Frau und der Magd Vrene neue Ausrufe des Erstaunens!

»Nein, aber nein –! Du mein Trost! Ist denn das möglich –!«

Marianne folgte ihnen in einer Art Betäubung. Von dem Schrecken, dem Laufen und Weinen war sie ganz erschöpft. Als der Mann sie aus dem dunkeln Walde zu sich auf den Wagen genommen und freundlich mit ihr geredet hatte, war ihr gewesen, als ob sie nun gleich heim in Mamas Arme käme. Jetzt stand sie bei den fremden Leuten in der fremden Stube. Es ging wie in einem Traum, wo man meint, ans Ziel zu kommen und immer wieder eine Strasse und noch eine Strasse vor sich sieht.

Die Frau goss dem Manne Kaffee und Milch in sein Schüsselchen und schob ihm die Platte mit gerösteten Erdäpfeln hin. Auch vor Marianne stellte sie Tasse und Teller:

»Das Stadtjüngferlein wird wohl Hunger bekommen haben!«

Aber Marianne konnte nicht essen. Sie sah beständig nach dem alten Manne. Es dünkte sie, er brauche endlos lang zu seiner Abendmahlzeit. Immer schenkte die Frau ihm wieder ein.

»Weisst, Vater«, sagte sie, »es ist mir schrecklich, dass du noch einmal fort willst. Eigentlich könnte die Vrene –«

»Die Vrene –? Im Stallgewand wird sie nicht ausfahren wollen, und wenn sie einmal in ihrer Kammer zum Anziehen ist, kommt sie in Ewigkeit nicht heraus. Auch fände sie sich in der Nacht da unten am See nicht so gut zurecht.«

»Es wäre mir aber doch lieber«, sagte die Frau.

Marianne sah ängstlich von einem zum andern. Wenn sie nun warten musste auf diese Vrene, »sie in Ewigkeit nicht aus ihrer Kammer kam« –!

Aber nein, der alte Mann stand auf.

»Gib meinen wärmeren Rock heraus und ein Tuch für das Kind. Es ist frisch draussen. Und sag mir jetzt nichts mehr. Wenn dir vor dreissig Jahren der Emil oder die Marie einmal so abhanden gekommen wären, so wärest auch froh gewesen, wenn man sie dir bald wieder gebracht hätte.«

Bald sass Marianne in einen Schal gewickelt wieder auf dem Wagen neben dem guten alten Mann.

»Längstens in fünf Viertelstunden bin ich zurück«, sagte er. »Hü, Bless, zeig, was du kannst!«

Bless schickte sich tapfer in die Sache. In gutem Trab ging es in die Nacht hinaus, durch das Fuchstobel, in einer Biegung auf die Höhe und dann immer bergab. Nun kam man zu Häusern, in denen Lichter brannten, und bei der Kirche vorbei. Marianne kannte sich aus. Jetzt waren sie nimmer weit von zu Haus, nimmer weit von Mama und Papa –! Aber wie die freudige Erwartung in Marianne aufstieg, kam auch auf einmal wieder die Unruhe um Werner. Wenn sie nun ankam und Mama fragte: Marianne, hast du mir den Kleinen gebracht –?

Schon bogen sie von der Landstrasse ab zum See hinunter. Die Laterne warf ihren Schein an die Stämme der Birnbäume.

»Brrr –! Da wären wir, denk' ich!« Der alte Mann hielt den Bless an.

Aus der Türe kam Hans gerannt, hinter ihm Sophie mit einem Licht.

»Marianne –! Es ist Marianne –! Gottlob und Dank! Frau Turnach –! Mama –!«

Sophie hob Marianne vom Wagen. Aus dem Haus kamen Papa, Mama, Lotti, Balbine, Frau Völklein und was nur da war.

»Marianne –! Was haben wir für eine Angst ausgestanden –«

Mama schloss ihr Kind in die Arme.

»Mama – Mama – ich habe ihn bis zum Walde hinauf gesucht – Ich hab' ihn nicht gefunden –« Marianne brach in ein bitterliches Weinen aus.

Da legte sich ein kleines rundes Händchen in Mariannes Hand.

»Marianne, warum bist du so lang nicht gekommen?« fragte Werner mit seiner hellen Stimme. »Ich bin beim Lienhard gewesen, und dann bin ich gefallen, und meine Schürze ist schmutzig geworden, und er hat mir einen Fisch gegeben –«

Marianne umarmte das Brüderlein und küsste es; aber die Tränen liefen ihr unaufhaltsam übers Gesicht.

»Warum tust du weinen?« fragte Werner. »Ich geb' dir meinen Fisch. Balbine tut dir ihn morgen braten –«

Und von der anderen Seite redeten sie auch auf Marianne ein.

»Marianne, wo warst du denn? Denk' nur, jetzt sind Jakob und Fritz gegangen, dich zu suchen! Weisst du, das ist wie in dem Märchen von der klugen Else! Wein' doch jetzt nicht mehr, wo du ja da bist! Wie weit bist du gegangen? Bis in den Berg hinauf? Wie bist du auf den Wagen gekommen? Erzähl' doch, Marianne!« So bestürmten Hans und Lotti die Schwester.

Doch Marianne konnte noch nicht reden. Sie umfasste immer wieder Mama und dann das Brüderlein und schluchzte.

Papa war zu dem alten Mann getreten.

»Vor lauter Freude vergessen wir, Ihnen zu danken!« sagte er und schüttelte dem Alten beide Hände. »Sie haben uns aus einer furchtbaren Angst befreit. Wie sollen wir Ihnen das vergelten!«

»Es ist gern geschehen, es ist gern geschehen!« sagte der alte Mann und erzählte Herrn Turnach, wie er das Kind im Fuchstobel am Strassenrand gefunden.

Herr Turnach bat ihn, abzusteigen und ins Haus zu treten. Aber der Alte meinte, es sei besser, er fahre gleich wieder zu. Es werde sonst gar spät.

»Gute Nacht allerseits!« sagte er und griff nach dem Leitseil. »Gute Nacht und schlaft wohl nach dem Schrecken!«

Alle traten auf ihn zu, um ihm die Hand zu geben, und Herr Turnach versprach, dass man mit den Kindern einmal in den »Finkenbaum« hinauf komme. Der Bless zog an, und der Wagen rollte davon.

Mama nahm Marianne ins Zimmer.

»Lasst mir jetzt mein armes Kind in Ruhe. Wenn es heut' nicht mehr erzählen kann, so warten wir bis morgen. Marianne trinkt nun noch eine Tasse Milch und legt sich zu Bett, und Mama setzt sich neben sie.«

Wie das gut tat, in dem warmen, weichen Bett die müden Glieder zu strecken und Mamas Hand zu halten! Mit dem Einschlafen ging es aber nicht schnell; Marianne begann nun doch, ihr Herz auszuschütten. Und Lotti, die auch im Bette lag, erzählte, wie das mit Werner gewesen.

»Also bloss zum Lienhard ist er gegangen, Marianne! Und der hat ihm noch seine schmutzige Schürze gewaschen und ihn dann gebracht. Und wir dachten immer, du kämest auch bald, und dann wurde es dunkel und Jakob und Fritz Völklein sagten, sie wollten gehen, dich zu suchen. Und als Papa heimkam, wollte er auch noch fort; er sagte, er halte es nicht aus. Und dann kam der Wagen und brachte dich –«

»Mama«, fragte Marianne, »ist wohl das Büblein mit der rot und weissen Schürze und dem blonden Haar, weisst du, von dem die lahme Christine gemeint hat, es sei der Werner, jetzt auch zu Hause –?«

»Gewiss, mein Kind, gewiss! Es war ein wenig unbedacht von dieser Christine, dich ihm nachzuschicken; aber es war ja gut gemeint.«

»Mama, sind wohl Jakob und Fritz weit hinauf in den Berg –? Jetzt muss man wieder für sie Angst haben!«

Mama lächelte.

»Ihnen wird nicht so leicht etwas begegnen, Marianne. Aber froh wären wir schon, wenn sie beide nun bald zurückkämen.«

»Ich muss ihnen dann auch danken«, sagte Marianne.

»Ja, Kind, ihnen und vor allem dem lieben, guten Gott –«

Mama faltete die Hände und sah ernst vor sich hin. Marianne und Lotti waren still. –

Da hörte man plötzlich Lärm von draussen.

»Sie sind da, Mama! Sie sind da!« rief Hans zur Türe herein.

Und nun begann im Wohnzimmer noch einmal ein lautes Erzählen. Jakob und Fritz hatten weit herum gesucht. Bis zu dem Wirtshaus am Walde hatten die Leute noch von Marianne etwas gewusst. Von dort an war die Spur ausgegangen.

»Nun, gottlob, dass das Kind wieder da ist, Herr Turnach! Mir ist ein rechter Stein vom Herzen!« sagte Jakob und trank das Glas Wein, das Herr Turnach ihm einschenkte, auf Mariannes Gesundheit.

Lange wollte es heute nicht ruhig werden in der Seeweid.

Und als Marianne endlich einschlief, zog im Traume noch einmal alles an ihr vorüber. Im Walde im Fuchstobel waren lauter kleine Affen auf den Bäumen, und bei ihnen sah Marianne den kleinen Werner. Sie wollte ihn rufen; aber er hörte nicht, sondern sprang wild von Ast zu Ast, dass seine rot und weisse Schürze flatterte. Dann stand Marianne auf einmal vor dem trüben, dunklen Teich; darin war die lahme Christine und suchte den kleinen Werner. Sie sank immer tiefer ins Wasser, und Marianne wollte ihr heraushelfen; aber sie konnte nicht zu dem Teich gelangen und konnte auch nicht fliehen vor dem Hunde, der daher rannte mit feurigem Atem –

Zwei-, dreimal erwachte Marianne aufschreiend. Dann sah sie Mama neben sich am Tisch bei der Lampe und seufzte erleichtert.

Nach und nach aber wurde ihr Schlaf fest, und sie erwachte nicht mehr bis zum hellen Morgen.


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