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»Marianne, willst du das Schwesterlein ein wenig nehmen?« rief Sophie in den Garten hinaus. »Es will gar nicht ruhig bleiben, und ich sollte durchaus euere zwei Kleider noch fertig bügeln. Mama ist in der Küche, weil Balbine mit ihrer verbundenen Hand nicht allein zurecht kommt.«
Marianne hatte vorgehabt, mit ihrer Puppe einmal einen Spaziergang durch die Allee und zum Stalle hinauf zu machen; Ella kam so wenig hinaus. Aber eine lebendige Puppe war noch viel schöner. Marianne war stolz, wenn sie hin und wieder das Schwesterlein haben durfte. Man gab es ihr immer in ein leichtes, flaches Kissen gebunden, damit es ganz sicher sei auf Mariannes Arm. Das Schwesterlein war noch sehr klein und leicht. Mama sagte, es sollte eigentlich schwerer sein; es gedeihe nicht so gut wie die andern Kinder. Man hoffte, dass die Landluft ihm gut tue.
Marianne ging mit dem Schwesterlein durch den Garten und setzte sie vor das Portal. Sie wiegte das Schwesterlein sachte hin und her; es war jetzt ruhig und bewegte bloss seine winzigen Fingerchen, als ob es nach etwas greifen wollte. Marianne gab ihm ein Stöckchen; das packte es ganz fest.
»Du, du, du –« sagte Marianne mit leiser, freundlicher Stimme und zog an dem Stöckchen; dann verzog das Schwesterlein sei kleines Gesicht, als ob es lachen wollte.
Lotti stand unten am See. Er war jetzt niedrig. Man konnte trockenen Fusses bis zum Schilf hinausgehen.
»Du, wie der Schilf rasch hoch wird!« rief Lotti zu Marianne hinauf.
»Ja«, sagte Marianne. »Schön ist er. Und seit Sonntag, wo ich bei Grossmama war, mag ich ihn noch lieber als sonst. Ich muss jetzt immer, wenn ich unsern Schilf ansehe, an die Pharaonentochter denken.«
»An was musst du denken?« fragte Lotti und kam zu Marianne herauf.
»An die Pharaonentochter. Bei Grossmama hab' ich in einem schönen Buche ein Bild gesehen. Da steht die Tochter des Pharao im Schilf, und vor ihr liegt das Mosesknäblein in einem Körbchen im Wasser. Grossmama hat mir dann alles erzählt; es war in Ägypten. Dort hiessen sie den König Pharao.«
»Was hat die Tochter des Pharao im Schilf getan? Warum hat man das Büblein ins Wasser gelegt?« fragte Lotti.
Nun erzählte Marianne dem Lotti die Geschichte von dem bösen Pharao, der nicht wollte, das es so viele Israeliten gebe im Land Ägypten, und der deshalb gebot, dass man alle kleinen Knaben dieses Volkes töte. Und von der Mutter des kleinen Moses, die ihr Kind gerne behalten hätte, und die es von ihrer Tochter in einem mit Pech verklebten Korbe in den Schilf legen liess, damit die Pharaonentochter, die da immer vorbeiging, sich des Knäbleins erbarme.
»Aber wenn die Prinzessin es zu sich genommen hat, dann hat die Mutter das Büblein ja doch nicht mehr gehabt!« wendete Lotti ein.
»Ja, dann kam eben das Schöne: Dann trat die grosse Schwester herzu und sagte, sie wüsste eine Pflegemutter für das kleine Büblein. Darüber war die Prinzessin froh und gebot dem Mädchen, das Knäblein zu der Frau zu tragen, und das war die eigene Mutter von dem kleinen Moses.«
»O!« sagte Lotti. »Die ist gewiss froh gewesen!«
»Ja. Und das Knäblein war nun unter dem Schutze der Prinzessin. Die Soldaten des Pharao durften ihm nichts mehr tun. Nachher wurde Moses ein Mann und führte die Israeliten weg aus Ägypten.«
»Das war aber nicht nett gegen die Prinzessin.«
»O, die hat vielleicht nicht mehr gelebt. Und dann musste Moses das tun. Gott hatte es ihm geboten.«
Marianne schwieg und sah wieder zu dem Schilf hinunter. Auf einmal stand sie auf mit dem Schwesterlein im Arm.
»Lotti!« sagte sie. »Wenn wir das mit der Pharaonentochter selber machen würden –! Wir haben den Schilf, und das Schwesterlein kann gut den kleinen Moses vorstellen. Du wärest die grosse Schwester und ich die Pharaonentochter.«
»O, meinst du, wir können das?« fragte Lotti voll Vergnügen.
»Natürlich. Die Hauptsache ist, dass wir einen niedrigen Korb haben. Lotti – hol' den Deckel von dem grossen Gemüsekorb! Aber in der Geschichte war er mit Pech verklebt, damit das Wasser nicht eindringe ...«
»Wir können im Schilf eine Stelle an der Mauer wählen, wo es trocken ist«, schlug Lotti vor.
»Nein, dann ist es nicht genau. Weisst du – bring das braune Wachstuch vom Tischchen in der hintern Stube; das dürfen wir schon schnell haben. Und du als Schwester vom Mosesknäblein – du kannst ein weisses Tuch um den Kopf binden.«
»Dann seh' ich aber aus wie die alte Eierfrau«, warf Lotti ein.
»Nein, du musst nur den Knoten hinten machen – . Ich sollte einen Königsmantel haben – frag doch Sophie, ob wir für einen Augenblick den roten Vorhang aus ihrem Zimmer nehmen können, und deine bunte Halskette bring' auch mit!«
Lotti lief, und Marianne wartete mit dem Schwesterlein auf dem Schoss.
»Wie schade«, dachte sie, »dass es noch gar nichts versteht und man ihm nicht sagen kann, dass es jetzt dann den kleinen Moses darstellen darf.«
Lotti erschien ganz beladen. Sie hatte nichts vergessen.
»Sophie hat wissen wollen, zu was ich den roten Vorhang brauche. Aber ich hatte doch keine Zeit, ihr alles zu erzählen. Ich sagte, ich erkläre es ihr nachher.«
Marianne legte zur Probe das Schwesterlein sorgfältig in den Korbdeckel. Dann richteten sich die beiden Mädchen als Pharaonentochter und als Schwester des Moses her und berieten, was sie zu sprechen hätten. Hierauf trug Marianne das Schwesterlein zum Schilf hinunter. Sie ging behutsam und gab acht, dass sie nicht über die grossen Steine stolperte. Sie suchte mit Lotti einen Platz, wo das Wasser nicht höher war als Lottis Hand. Da legten sie den Korbdeckel hin, das Wachstuch darauf und dann das Schwesterlein in seinem Kissen. Das Kleine lag ganz behaglich und streckte sein Händchen nach dem nächsten Schilfblatte aus.
»Also, Lotti, jetzt geht es an. Du versteckst dich dort an der Ecke, und ich komme von da, wie wenn das die Strasse wäre, die am Nil entlang führt. Der Nil ist der Strom, der durch Ägypten fliesst. Gib acht, was ich sage, damit du merkst, wann du herauskommen musst.«
Lotti nickte und schlüpfte mit ihrem weissen Kopftuch in das dichte Schilfgebüsch. Die beiden meinten, ganz allein zu sein bei ihrem Spiel. Aber sie hatten einen Zuschauer. Oben über die Mauer guckte Hans hinunter. Er war als letzter aus der Schule heimgekommen und hatte die Schwestern gesucht.
Schon wollte er ihnen zurufen; aber er sah auf ein so wunderliches Treiben herab, dass er still blieb, um die beiden zu beobachten.
»Die Marianne – wie die aussieht!« dachte er. »Und das Lotti mit dem weissen Tuch um den Kopf! Mich nimmt wunder, was das eigentlich geben soll. Nein –! dort liegt ja das Schwesterlein!«
Marianne trat hervor:
»Es ist sehr heiss heute. Man geht gerne ein wenig am Wasser, da ist die Luft kühler ...«
Marianne sprach langsam und mit anderer Stimme als sonst. Sie tat einen Schritt vor und sah nach links.
»Ach, was liegt doch da im Wasser! Ein Knäblein, glaube ich. Was für ein allerliebstes kleines Kind –! Ich möchte es gleich mit mir nehmen.«
Sie drehte sich zurück, als ob hinter ihr ein Gefolge von Hofdamen wäre.
»Kommt doch und seht das hübsche Knäblein! Es gehört gewiss einer Israelitenfrau ...«
Hans hörte nicht weiter, sondern lief in grossen Sätzen zum Hause. Das war so nett, was sie da unten aufführten; das musste Mama auch hören.
»Mama«, sagte er, »weisst du, wo Marianne und Lotti mit dem Schwesterlein sind?«
»Am Gartentor, hat Sophie gesagt.«
»Ja, das meint ihr. Aber sie sind alle drei im Schilf unten. Das Schwesterlein liegt sogar im Wasser.«
»Was –? im Wasser –?« rief Mama erschrocken.
»Ja, aber es ist nicht gefährlich. Sie haben es gut in einen Korb eingepackt, und Marianne steht davor und hält eine Rede.«
Mama eilte in den Garten.
»Bitte, Mama«, sagte Hans, der ihr folgte, »stör' sie nicht. Sieh einmal hinunter. Du wirst gleich merken, was sie spielen. Herr Altschmid hat uns letzten Winter in der Religionsstunde die Geschichte von Moses erzählt.«
Mama beugte sich über die Mauer. Wirklich, es war ein anmutiges Bild: Da stand Marianne als Pharaonentochter in dem hohen Schilf. Über ihren Rücken fiel der rote Mantel; sie hatte ihre langen, dichten Haare aufgelöst und über die Stirn eine bunte Glasperlenschnur gebunden. Vor ihr lag das Mosesknäblein und sah mit grossen Augen zu Lotti auf, die an dem Korbe kniete. Mama bemerkte, wie gut geborgen das Kind auf der Wachstuchdecke lag.
»Prinzessin,« sagte Lotti, »ich wüsste eine Frau, die das Knäblein pflegen würde, wenn Sie vielleicht nicht gut Zeit haben für so ein kleines Kind. Die Frau wohnt gar nicht weit von hier.«
»Aber ist es auch eine gute Frau, die das Knäblein lieb haben würde?« fragte die Pharaonentochter und beugte sich hinab zu dem Moseskind, um es zu streicheln.
»Ja, lieb haben wird die Frau es gewiss! Bringt mir das Büblein nur gleich her!« ertönte auf einmal eine Stimme von oben.
Die Mädchen schauten verblüfft auf. Da war Mama –!
»Ach, Mama! du machst mit? wie hübsch!« rief Lotti.
»Ja, Kinder – eigentlich sollte ich zanken! Was ist das nun wieder, das Schwesterlein so mir nichts dir nichts da hinunterzunehmen und ins Wasser zu legen –«
»Aber, Mama, es ist gar nicht mir nichts dir nichts!« erklärte Lotti. »Es ist, damit wir die schöne Geschichte spielen können. Wir haben alles ganz genau gemacht! Nur statt Lehm und Pech, mit dem die Schwester des Moses das Körbchen verklebt hat, haben wir das Wachstuch genommen. Sieh, das Kissen ist nicht ein bisschen nass geworden.«
»Wenn nun aber ein Dampfschiff vorbeigefahren wäre, hätten die Wellen über das Schwesterlein hinschlagen können.«
»Mama, das Zwölfuhrschiff ist schon vorbeigefahren, als ich Marianne den Mantel anheftete, und die ›Möve‹ kommt erst nach dem Essen. Wir haben gewiss an alles gedacht.«
»Ich will es glauben, Kind«, sagte Mama. »Aber es vergeht doch fast kein Tag ohne einen kleinen Schrecken. Ganz ruhig kann man nur sein, wenn man euch alle fünf um sich herum hat. Manchmal möcht' ich fast, die Seeweid wäre weniger weit und gross und läge nicht so hart am Wasser –«
»Mama«, fiel jetzt Hans entsetzt ein, »das wäre schrecklich! Dann wollte ich lieber, dass es gar keinen Sommer gäbe! Weisst du, Emil Kolb in unserer Klasse sagt auch immer, sie wohnen auf dem Land; aber sie haben nur einen ganz kleinen Garten, und wenn Emil zum See will, muss er lang durch die Stadt laufen. Ich glaube, auf der ganzen Welt gibt es nichts so Schönes wie die Seeweid! Fritz Völklein sagt es auch immer.«
Mama lächelte, und Marianne, die das Schwesterlein aufgenommen hatte und immer noch etwas betreten in ihrem roten Prinzessinnenmantel da stand, war von Herzen froh darüber. Mama war also nicht ungehalten.
»Was geht denn eigentlich da drinnen vor –?« hörte man jetzt vom See her rufen. Papas weisser Strohhut wurde zwischen dem Schilfe sichtbar.
Papa kam von der Stadt hergefahren. Er hatte seine Zeitung, die er oft im Schiffe las, zusammengelegt und nach dem Schilfplatze hingesehen.
»Steppinger«, hatte er gesagt, »rudern Sie doch noch ein paar Züge dort hin. Ich sehe bald etwas Weisses, bald etwas Rotes da sich bewegen –«
Seine Augen fielen überrascht auf Marianne.
»Ja – Marianne –«, rief er belustigt. »oder vielmehr nicht Marianne, sondern eine Zigeunerin wohl, die ein Kind raubt? oder – verzeih – die Königin mit dem Schneewittchen oder die Fee in –«
»Nein, Papa! nein, Papa! es ist etwas ganz anderes; etwas noch Schöneres«, riefen die Kinder und fingen an zu erzählen. Es war aber gut, dass Papa die Geschichte von dem Mosesknäblein im Nil schon wusste; denn es ging wieder einmal recht durcheinander.
»Du, Papa –«, unterbrach sich Lotti, »ich weiss etwas: Du könntest nun der Pharao sein und Herr Steppinger dein Krieger, und ihr würdet das Mosesknäblein ergreifen wollen, und Hans käme mit unserm Schiff und würde den kleinen Moses retten, und dann gäbe es eine Verfolgung –«
»Lotti, Lotti«, sagte Papa, indem er den Kopf schüttelte, »lass mich zuerst als einfacher Vater Turnach zu Mittag essen. Ich bin hungrig und müde. Das mit dem Pharao will ich mir dann überlegen.«
Nun kam auch Balbine mit ihrer verbundenen Hand ans Gartentor und meldete, dass die Suppe auf dem Tisch stehe. Marianne lief in aller Eile zu Sophie, um sie zu bitten, dass sie ihr den gelösten Zopf wieder flechte.
Bei Tisch sprachen die Kinder eifrig von der Mosesgeschichte, und am Abend, als sie mit Papa und Mama noch ein wenig am See sassen, begann Marianne wieder davon.
»Willst du uns am Sonntag mehr von Moses erzählen, Mama?« fragte sie.
Am Sonntag vormittag waren die Kinder immer eine Stunde mit Mama zusammen. Sie lehrte sie dann kleine Lieder und Gedichte, sprach ihnen von Jesus und erzählte ihnen anderes aus der biblischen Geschichte oder sonst von edeln, guten Menschen.
»Vielleicht erzählt euch Papa von Moses, und zwar gleich jetzt«, sagte Mama, »weil euere Gedanken doch immer noch bei der Geschichte sind. Es ist allerdings fast schon Schlafenszeit; aber machen wir heut eine Ausnahme! Der Abend ist so schön.«
Die Sonne war eben untergegangen. Der klare Himmel war im Westen golden rot, und dieselbe Glut leuchtete aus dem ruhigen Wasser zurück.
Da fing denn Papa an zu erzählen von Moses, wie er die Schafe hütete am Berg Horeb und wie er dann von Gott die grosse, schwere Aufgabe erhielt, das Volk der Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land zu führen. Wie Moses zuerst Angst hatte und nicht wollte, dann aber doch sein Volk wegführte durch das rote Meer und in die Wüste, wo die Israeliten oft nichts zu essen und kein Wasser fanden, so dass sie gegen Moses murrten. Wie dann Moses manchmal selbst kleinmütig wurde, aber immer wieder in sich die Stimme Gottes hörte, die ihn ermahnte, standhaft und treu zu bleiben. Wie er den Israeliten verbot, Götzen aus Stein oder Gold anzubeten, und sie lehrte, dass nur ein Gott sei, von dem man kein Bild machen könne. Wie endlich Moses, nachdem er mit seinem Volke viele Jahre in der Wüste geblieben war, als alter, müder Mann vom Berge Nebo aus das schöne gelobte Land noch sah und da oben auf der Berghöhe starb, ohne das Land zu betreten.
»Das war traurig für Moses«, sagte Marianne.
»Ja, das war schwer«, antwortete Papa. »Oft erreichen die Menschen ihr Ziel nicht. Aber wenn sie unermüdlich, tapfer und treu waren, dann fühlen sie doch Gottes Segen und können getrost sterben.«
Die Kinder waren ganz andächtig geworden. Es war so schön, Papa zuzuhören, während es ringsum immer dunkler wurde. Sie konnten noch nicht alles verstehen, was Moses getan und gelitten hatte; aber sie fühlten, wie viel grosse und geheimnisvolle Dinge es gebe im Leben der Menschen.
Noch eine Weile blieben alle still sitzen, bis der Mond aufgegangen war und sein Schein wie eine silberne Brücke auf dem dunkeln Wasser schimmerte.