Otto Julius Bierbaum
Studenten-Beichten
Otto Julius Bierbaum

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

»Oh Liebe, himmelhohe Riesenlohe!« singt der große Ungar Petöfy. Du lebst ja mitten in der modern-philologischen Scheidekunst, lieber Max, die groß darin ist, die alten und neuen Dichter hübsch säuberlich auseinander zu setzen, jede Methapher, jedes Bild mit chemischer Genauigkeit auf seine Bestandteile zu untersuchen, um schließlich ihr gestrenges placet oder displicet abzugeben. Ich empfehle Dir für diese interessante Methode jenes Petöfysche Gleichnis oben – aber Du mußt freilich nicht bloß was gelernt, sondern auch geliebt haben, um es zu beurteilen. Ich für meine Person, der ich weniger gelernt als geliebt habe, muß gestehen, daß das Bild ganz vorzüglich ist. Zumal, wenn man das Ende von Liebe und Feuer bedenkt. Die Flamme des menschlichen Liebesglücks, das jubelnde, brausende Feuer, schau –: entweder sinkt nach mächtigem, glutendem Leben die Riesenlohe gemach in sich zusammen, glimmt still, eine Weile von Asche bedeckt, noch weiter, und dann vergeht sie in Kälte oder aber es fährt ein breiter Wasserstrahl des Schicksals jach in sie hinein, während sie gerade am herrlichsten zum Himmel emporschlägt, und zuckend, prasselnd, dampfend versinkt sie mit einem Male. Und der Rest? Im ersteren Falle ein reinliches Häuflein ausgebrannter Asche, des Lebens Stürme blasen hinein und raschelnd verstiebt sie; im letzteren eine Pfütze schmutzigen Schlammes. Siehst Du, mein Lieber, mit solchem Bilderwerk erlustiert sich Einer, dem es schlecht gegangen im Reiche der goldenen Aphrodite, oder besser gesagt, den man aus diesem Paradiese unzart getrieben, wie einst unser Urelternpaar. Im alten Bild zu bleiben: mein Glück ist mir schleunig verlöscht worden, und der Schlamm ist nicht ausgeblieben.

Um die Mitte des Juli, nachdem wir uns in unsere Liebesidylle recht warm und weich eingelebt hatten, mußte Josephine auf einige Wochen in ihre Vaterstadt zu Verwandten. Das war eine alte Einrichtung, die sich durchaus nicht bei Seite schieben ließ. Wir waren auch gar nicht wehleidig angesichts dieser Kunstpause unserer Liebe, denn wir meinten sicher, daß all die Klarinetten und Geigen der Lust um so vergnügter einfallen würden, wenn sie überstanden sei. Wir hielten ein feierliches Abschiedsamt mit einigen hundert Küssen, stellten in gravitätischen Predigten die ganze Sache als selbst auferlegte Kasteiung der sündigen Leiber und Seelen dar, ermahnten uns im schleimigsten Traktätchenstil recht brav und züchtig zu sein in Gedanken, Worten und Werken, drückten uns dabei, daß es schier lebensgefährlich wurde, – kurz, wir trieben allerlei Possen nach unserer verliebten Art. Aber es war seltsam, – diese Ausgelassenheit war wie verflogen, sobald wir meine Wohnung verlassen hatten. In der Droschke, die uns zum Bahnhof brachte, waren wir schon wortkarg, im Wartezimmer fühlten wir uns beide bedrückt, ängstlich, als wollte sich uns Schlimmes nahen, und als Josephine in den Wagen stieg, vermochte sie ihre Thränen nicht zurückzuhalten. Wir küßten uns noch einmal, ich fühlte die Nässe ihrer Thränen auf meinem Gesichte und hörte ihre Worte: »Bleibe mir immer gut!« Es war mir tiefschmerzlich zu Mute. Ihre Hand hielt ich so lange in der meinen, als es möglich war; der Zug bewegte sich fort, unsere Augen ruhten ineinander, so lange er noch zu sehen, und auch als er ganz entschwunden war, blickte ich den Schienenweg entlang. Ein Gefühl von Verlorenheit, Einsamkeit, Leere war in mir. Ich ging nach Hause wie ein Träumender. Ach Gott, wie öde! Ich setzte mich vor den Schreibtisch und blickte ihr Bild an –, verworren zog es in meine Seele. Ich raffte mich gewaltsam auf, verschloß ihr Bild, und dachte mich ins Strafrecht zu stürzen. Aber wie Marlowe's Dr. Faustus fand ich jetzt, daß das ein Studium sei, höchstens für einen Lohnknecht gut. Die Paragraphen klapperten mir unendlich widerwärtig in den Sinn . . . »Zuchthaus, Gefängnis, Festung, Ehrverlust, Milderungsgründe« . . . hol's der Teufel! – Ich versuchte es nacheinander noch mit der Zivilprozeßordnung und dem Handelsgesetzbuch, aber geradezu ein Haß überkam mich gegen Kontokorrentvertrag, Handelskauf, Tausch u. dgl. – unausstehlich ledern und sündhaft niederträchtig kam mir das alles vor. Ich merkte jetzt, daß ich alles dies in letzter Zeit nur getrieben aus einem Raffinement des Gegensatzes. Vielleicht ging es morgen besser, jetzt fühlte ich mich unfähig für die Materien beider Rechte, ein Trieb nach äußerer Zerstreuung war in mir, wie immer, wenn das leere Herz nichts eigenes bietet. Gegen zehn Uhr setzte ich mich auf die Stadtbahn, um nach der Friedrichstraße zu fahren. In normalen Verhältnissen vermag schon diese Fahrt zu zerstreuen – über Straßen hinweg, durch Höfe hindurch, unzählige Lichter von elektrischen, Gas-, Petroleumlampen rechts oder links. Mich brachte das Gewirre noch mehr in Unruhe. Ekelhaft kam mir das Alles vor, ich glaubte plötzlich mitten hineinzusehen in eine widerwärtige Wahrheit, die hinter dunkler Maskenlüge steckte.

Es war strömendes, heißes Sommernachtsleben auf dem Fahrdamm, Wagen eng hinter Wagen, gezogen von den unglückseligen Droschkengäulen Berlins, die gewiß zu den beklagenswertesten Wesen dieser besten aller möglichen Welten gehören. »Ach, wir armen Droschkengäule!« ging es mir durch den Sinn, – aus einem Liede, das ich irgendwo einmal gehört. Mitgeschwommen in dem Strome. Eine kleine Braune mit ganz schwarzen Augen stieß mich wie aus Versehen, sagte pardon und wendete mir ein reizend blasses Gesicht zu. Wie hübsch, dachte ich, und wollte schon zu reden beginnen, da packte mich Zorn und Ekel mit einem Male so wild, daß ich in schneller Wendung auf die andere Seite ging. Die Kleine wird wahrscheinlich an Dalldorf gedacht haben. Ich ging hinauf ins Café Bauer, setzte mich auf den Balkon und blickte hinaus auf das wogende Leben da unten. Alles lief da paarweise, wie mir schien. Die aufgedonnerten Weibsbilder mit ihren blödsinnig grinsenden Galanen waren mir unendlich widerwärtig. Sonst freute mich der Strudel; heut' konnt' ich es nicht mit ansehn. Lesen also. – Kostbar, da stand im Feuilleton einer Tageszeitung ein Stück »Berliner Roman«. Die Personen waren alle wie Figuren aus Zuckerguß, die man in den Schaufenstern der Konditoreien sieht. Das amüsierte mich eigentlich. Unsere ganze ernsthafte Litteratur kommt mir überhaupt furchtbar komisch vor. Aber andauernd konnte ich das Zeug doch nicht lesen. Fort also wieder, irgend etwas sehen, hören, – ach, wie elend leer ich mich fühlte. Eben als ich auf das Trottoir heraustrat, kam mir Freund Rühl entgegengezogen, natürlich mit einer ganzen Bande hinter sich her, – alle betrunken – »wie die Fässer der Danaiden«, drückte sich Rühl aus und fragte mich beständig, ob das Wort nicht wundervoll wäre. »Also jetzt wohin?« schrie der kleine Beyer, der kein Frauenzimmer sehen kann, ohne aufgeregt zu werden und im Geiste seine Barschaft zu zählen. »Ich hab 'nen Vorschlag,« brüllte ein mir Unbekannter, »geh'n wir wieder mal ins Pensionat national zu den kleenen Mächens.« Beyer war sofort lebhafter Anwalt für diese Idee. Rühl protestierte zwar, es gäbe dort ein Gesöff, das nur ein Huren- oder Louismagen vertragen könnte, aber man packte ihn und schleppte ihn mit. Auch ich war in dem wankenden Zuge. Café National – wie lange hatte ich diesen Berliner Weibsenmarkt nicht mehr gesehen. Und an jenem Abend, Josephine eben fort – ich dahin! Wenn ich jetzt daran denke, Max, möchte ich an Vergeltung glauben. Weshalb ging ich denn? – –

Das traurige Bild in dem Lokal berührte mich trüb, – die alte Gallerie bemalter Frauenköpfe, – die alte frech und grell aufgedonnerte Bordell-Eleganz, der bekannte Mischgeruch von Parfüm, Kaffee, Zigarren, Menschenschweiß, und natürlich auch der übliche Spießrutenlauf durch die geschäftsmäßig aber nicht sehr höflich sich anbietenden Frauenzimmer. – Endlich vorbei. »Hier, meine Herren,« lud der grünlich blasse Kellner ein, »vorzügliche Aussicht hier.« Aussicht = Auswahl. »Der Platz ist gut,« sagte Rühl, »wir haben drei Riesendamen en vue und nun weiß Beyer wenigstens, in welchen Schooß er sein schwarzes Lockenhaupt zu legen hat. Die berühmte Adelheid ist nämlich drunter. In der Monatsrechnung für seinen Alten steht sie immer mit 20 Mark unter der Rubrik: Theater, Konzerte und Vergnügungen.« – »Laß doch in aller Welt Dein dummerhastiges Reden,« sagte Beyerchen und setzte sich neben die Dicke. Die Übrigen zerstreuten sich bald, und so saß ich denn wieder allein und konnte mit Muße beobachten, in welche Fülle von Schweinerei sich unsere gestrenge Moral auslädt. – –

Am Nebentisch, in Gesellschaft einiger mir unbekannter Studenten saß Wimberg, den Du auch kennst, das verkannte Genie, der Don Juan schon in der Schülermütze, der Dienstmädchen poussierte und naiven Seelen geheimnisvolle Geschichten von Lehrersgattinnen erzählte, deren Herzen in seinen Primanerlocken gehangen und im Feuer seiner blödsinnigen Augen zu Butter geschmolzen waren. Diesen Hund haßte ich von jeher, wie er mich, – er konnte mir auf der Schule nie verzeihen, daß ich ein besseres Deutsch schrieb, als er, und er war mir widerwärtig, wie alle die eingebildeten Krüppelnaturen, die nur das Eine verstehen, sich in Scene zu setzen. Aus diesem Häkchen ist ein gewaltiger, klirrender Haken geworden, ein niederträchtiger Lump in Worten und Werken – äußerlich natürlich »feudal«. Als wir in der ersten Zeit unseres Studiums noch miteinander verkehrten, wenngleich auch nur förmlich und er lediglich zu dem Zwecke, sich mir ab und zu in einer interessanten Pose zu zeigen, erzählte er mit einemmal, er sei überzeugter Nihilist und sein Lebenszweck bestehe darin, Verhältnisse mit jungen Witwen anzuknüpfen. Sein Nihilismus war großmäulige Absprecherei, die auf Denkfaulheit beruhte, sein Geschwätz von der in ihn vernarrten Legion junger Witwen war frecher Schwindel. Er betrieb zwar den Frauenfang systematisch mit der schamlosen Konsequenz des durch und durch verdorbenen Halunken, aber er wurde gewöhnlich mit Ohrfeigen heimgeschickt und mußte sich an die allergemeinsten Priesterinnen der Bargeld liebenden Göttin halten. Als er mir wiedermal eine Stunde lang falsch verstandene Brocken aus Nordaus »konventionellen Lügen« wiedergekäut und zwei alberne Romane von bezwungenen Witwen vorrenommiert hatte, sagte ich meine Meinung kurz und gut, und seitdem artete sein Haß gegen mich in lauernde Feindschaft aus. Ich war wie von einer Last befreit, als ich seines Verkehrs ledig war. Ein eitler Bekannter weniger ist besser, als ein schuftiger Feind mehr. Und dennoch, wie hat mich seine Feindschaft getroffen, – an diesem Abend. Kaum hatte ich Platz genommen, da merkte ich schon, daß die Leute seines Tisches sich mit unverschämtem Lachen nach mir umwandten, aber ich drehte ihnen den Rücken und gedachte, den ritterlichen Anulkungen dieser jungen Gemüter keinerlei Aufmerksamkeit zu widmen. Die Zeiten sind gottlob vorüber, in denen auch ich es für forsch hielt, mit »dummen Jungen« um mich herum zu werfen und mit stolzer Steifheit Visitenkarten als Anweisung auf spätere kommentmäßige Prügel auszuteilen. Aber das Gesumme an jenem Tische dauerte an und machte mich doch nervös. Wimberg leitete den Chorus, laut fing er gewöhnlich an, senkte seine Stimme, bis ich nur noch meinen Namen hörte und flüsterte dann ganz leise. Darauf dann eine brüllende Lachsalve. Ich versuchte, nicht zu hören und band schließlich mit einem noch jungen, netten Ding ein Gespräch an, lauschte aber doch unbewußt. Eintönig erzählte mir die Kleine die bekannte Geschichte, wie sie verführt und schließlich so weit gekommen sei. »Jetzt is mir Allens schnuppe. Nu komme ich so nich mehr raus aus 'n Dreck. Na, und wär'sch etwa nich netter, als wie als Mädchen für alles, egal Haderlump für die Gnädge, die ooch gerne mal von 'nen Anderen . . .« Da auf einmal klingt hinter mir von dem Tische der Name Josephine her. Wie ein im Stechen umgedrehtes Messer saß er mir im Herzen. Mit einem Ruck hatte ich mich umgewandt. »Na, was is denn mit Dir?« hörte ich noch die Kleine, während ich der hochrot gelachten, mich anglotzenden Schar ins Gesicht starrte. Wimberg sah auf seine Kaffeetasse und rührte lächelnd mit dem Löffel. »Was kann das sein! Was kann das sein!« stieß es in mir hin und her. Alles Blut schien mir in den Kopf gestiegen zu sein, in meinen Ohren dröhnte es, die Kleine zog mich beständig am Arm. Auf einmal, durch das Dröhnen hindurch, schneidend die Stimme von einem der Leute: »Also dem seine hast Du gehabt? Wie?« Und dann, ich weiß nicht, so furchtbar gedehnt: »Na ja, was denn? Natürlich! Die kleine Josephine aus der Zimmerstraße. Fufzig mal – ohne allen Apparat. Was ist sie denn weiter als eine . . .« Da hob es mich in die Höhe und mit einem Satze war ich an dem Tische. Alles um mich verschwamm, wie an jenem Frühmorgen im Tiergarten, als ich sie zum erstenmale küßte, und nur das rote eckige Gesicht des Halunken sah ich vor mir. Da hinauf sauste meine Hand, daß es laut durch den Saal klatschte. Ein Gebrüll von ihm, tobendes Gewühl um mich herum, Weiberkreischen, Stimmen der Kellner und des Wirts. Mit einem Male dann war alles klar für Blick und Ohr. Er machte einen Versuch, sich auf mich zu stürzen, aber man riß uns auseinander und wir wurden aus dem Lokal hinausgedreht, umheult, umtobt, umkreischt von hundert Weiberkehlen. Auch die Kleine von nebenan stand mit uns vor der Thüre. Nach dem gewöhnlichen Kartenwechsel, und nachdem meine Genossen eingesehen hatten, daß ich für den Abend nicht weiter zu brauchen sei, schieden wir. Schilde entfernte sich zuletzt und sagte: »Na, da tröste Dich mit dem kleinen Mistkäfer hier. Die guckt Dich unglaublich verliebt an. Für 'nen Helden machst Du's billiger, nich, Schatz?« »Ach machen Sie, daß Sie wegkommen, erwiderte sie«, und zu mir: »Na, komm mit, Kleiner! Das hast Du recht gemacht. Was is es denn eigentlich mit der Josephine?« – Siehst Du, lieber Max, der brave Ferdinand in »Kabale und Liebe« hat schon recht: »gutmütig sind sie alle«, und »man rühmt das Mitleid als die Tugend der Freudenmädchen« heißt es richtig in der »Fröhlichen Wissenschaft« Friedrich Nietzsche's. Die Kleine hatte wirkliches, weiblich gutes Interesse an der Sache, und ich war so ausspruchsbedürftig, daß ich, mit ihr zusammen gehend, ihr alles erzählte. »Aber schieß Dich nicht mit dem Lump. Wenn sie wieder kommt, is alles gut. Was schadt's denn, wenn se auch schon 'n mal . . .« Eine tiefe, dumpfe Trauer kam über mich. Ich bat die Kleine, die sich Alice nannte, mich allein weiter gehen zu lassen, als wir an der Siegessäule waren. Eben schlug es ein Uhr. Die Viktoria der Siegessäule schimmerte unbestimmt weich herunter, an die Figur einer byzantinischen Tänzerin erinnernd. »Also man nich schießen!« sagte die Kleine noch und verschwand. Ich blickte ihr nach. Ein Herr im Zylinder redet sie an, sie haken sich ein. Ich mußte lachen, – jetzt erzählte sie ihm die ganze Mordgeschichte. Ja, ja, – die Mordgeschichte. Hat der Schuft nicht auch mein Glück gemordet? Wie nachtwandelnd ging ich, schwankend. Verdoppeltes Fühlen beherrschte mich, Josephine erschien mir wie etwas ganz Fernes, Verlorenes, – mir kam es vor, das alles sei aus einer lange entschwundenen Jugend. Seltsam, – mein erstes Gedicht fiel mir ein und die, der ich es damals geschrieben nach einem kindischen Tanzstundenzank als Sekundaner. Nun ging's auf Josephine. »Nun liegen Nebel zwischen uns, Feinsliebchen,« ging der banale Stoßseufzer an, und der zog mir jetzt durch den Sinn, unausrottbar. Noch als ich bereits im Bette lag, waren mir diese Worte im Herzen, wie eine im Schlummer gelegene Kindheitsmelodie, die plötzlich im Innern leise und schwebend aufklingt und in immer weiteren Kreisen sich ausbreitend, immer weiter tönt, immer weiter tönt.

*

Als ich mich am nächsten Morgen erhob, war mir wie nach einer wüsten Nacht. Ich mußte mich besinnen. Ach so. Es war mir klar, was kommen mußte, aber nicht leid. Denn eine unaussprechliche Wut lag mir im Herzen wie ein dicker Knäul. Und wie ein schwärendes Gift fraß sich hinein die Frage: Hat er wahr gesprochen? Mit Verzweiflung drängte ich diese Frage immer wieder zurück und wollte mich festhalten am Zorn. Aber immer hob sie ihren giftig schielenden Schlangenkopf wieder in die Höhe . . . Und wenn er die Wahrheit gesagt hätte . . . ?

Ich setzte mich hin und schrieb ihr einen Brief: wütende, weinende Fragen. Aber ich zerriß ihn wieder. Was ist das für eine Schuld? Wo der Stein gegen sie, wenn es so wäre? Aber es ist, es ist nicht so! Er hat gelogen, der Lump, wie immer. Diese Art Schwindel-Don Juans genießen nur mit dem Maule. Wenn aber doch . . . wenn aber doch?! – Ach, es kam nicht darauf an; ich fühlte es: so oder so – es war vorbei. Den Gedanken an einen beliebigen Anderen hätt' ich ertragen, aber diese grinsende Visage drängte sich trennend zwischen sie und mich. Ihr Bild war befleckt und verzerrt, mein Denken zerrissen, mein Fühlen zu ihr zerstampft. Schmutz überall und stickende Nebel aus Schlamm. – Und in mir selbst quoll es wie Schlamm und stieg dunstig daraus auf: alles Böse, Bittere, Gewaltthätige. Wild-nächtig, gierig lechzend, lechzend dampfte es aus der Tiefe. Die Liebe hatte darüber leuchtend gelegen wie Sonnenschein, der das Dunkel hinabscheucht und wärmend tötet, – nun aber zeigt es seine gierzitternden Klauen und sein Keuchen kam kochend heiß. – Laß mich darüber hinweg. Ich weiß es nicht zu sagen. Nur von dem guten, ehrlichen Zorn will ich reden, der mich ergriff und erhob.

Nicht ihn allein hätte ich erschießen mögen, diesen wasserköpfigen, borniert gemeinen Renommisten der Liebe, nein, die ganze Heerde dieser gefühlsrohen, selbstzufriedenen Geldsackmenschen, die feist und frech durchs Leben trampeln, rindviehschwer und rindviehdumm, rechts und links niedertretend, was von edelster Bildung ist, alles schön Menschliche, geistig Freie, alles Herzensechte und Herzensreiche besudelnd mit dem eiter-fauligen Atem ihrer niedrigen, begehrlich glotzenden Bestialität –: sie Alle, sie Alle vor meine Mündung! An einen Sankt Georg aus Proletarierblute dachte ich da oft. –

Du schüttelst den Kopf über diese Eruptionen und scheidest mit gütiger Freundschaft Festes und Falsches in ihnen. Ich gab sie Dir, damit Du das Ganze und Einzelne meiner damaligen Stimmung erkennen magst. – Mitten in diesen Sankt Georgsgedanken kam Wimbergs Kartellträger. Du kennst den steifkomischen Zopf. Unreife Knaben (ich denke nicht an die Jahre) entledigen sich da totwichtigster Dinge mit den Schablonenmanieren von Commis voageurs. Also in Kürze: es ward die Forderung gestellt und angenommen auf fünf Schritte Barrière mit dreimaligem Kugelwechsel. –

Am selben Tage fand das Ehrengericht statt. Alles ging an mir vorüber wie eine Wandeldekoration. Das Ehrengericht bestand aus äußerst respektablen Persönlichkeiten, denen der Beruf zur Prüfung von Ehrenhändelsachen auf den Stirnen, Backen, Nasen, Lippen, Ohren, sowie auf der Kopfhaut geschrieben stand, – insgesammt zählten sie gewiß dreihundert Schmisse. Rechne auf jeden Schmiß zehn »Nadeln« (gewiß nicht zu viel, denn die kleinen »Krätzer« zählte ich ohnehin nicht), so ergiebt das die ansehnliche Summe von dreitausend, und ich darf wohl mit Stolz sagen, daß ein ganzes Paukbuch zum Verdikte bereit war über meine Ehre, die in der That von honorigen Händen gewogen wurde.

Die Forderung wurde natürlich genehmigt.

Im Vorzimmer der Korpskneipe, in der das Ehrengericht stattfand, sah ich auf einen kurzen Augenblick Wimberg. Sein Anblick brachte mein Blut zu neuem Aufwallen. »Morgen früh um sechs!« war mein einziger Gedanke.

Das Ehrengericht war etwas nach vier Uhr beendigt – wie im Trab ging alles, fabelhaft kommentmäßig.

Als ich auf die Straße hinaustrat, fühlte ich mich plötzlich so vereinsamt, lebensferne, wie hinausgebannt aus aller Liebe. Der Gedanke an zu Hause war schuld daran, dieser Gedanke, der aus heißem Herzen hinauf stieg ins Gehirn und dort mit kalter Entschlußkraft niedergedrückt ward. Nicht daran denken, nicht daran! Und alle Bitternis aus geschnürtem Empfinden warf sich auf Josephine. Wie ein Wutwirbel durchkältete es mich mit Haß gegen mein Liebstes. Hoho, Feinsliebchen, warte; Du sollst auch Deine Pille haben, süße Turteltaube. Ins Herz will ich Dir speien, meine Holde, ins Herz, in dem jener Lump gesessen, den ich morgen wo anders hin befördern will, Dein Wimberg. O scheußlich, scheußlich! Und ich raste in eine Poststelle und schrieb mit fiebernder Hand quer über ein Stück Papier folgende Gemeinheiten an sie, die ich noch jetzt auswendig weiß, da sie wie Gift sich in mein Gedächtnis ätzten:

»Verehrte Maria Magdalena!

Können Sie sich noch auf den interessanten Jüngling mit Sommersprossen, Ringellocken, Flackeraugen und Hakennase besinnen, ach, und mit dem braunroten, weichen Schnurrbart? Auf ihn, den blasierten, interessanten Don Juan und Faust in einer Person, hauptsächlich aber Vieh, wie ihr's alle am liebsten habt? Wimberg! »Fünfzig Mal,« sagte er, – auf ein paarmal mehr wird's nicht angekommen sein. Er hatte Recht, mitzunehmen, was mitzunehmen war. Morgen dürfen Sie den Daumen für Ihren fünfzig und einige Male Geliebten halten.

Richard – der zweite, dritte,
wer weiß wie vielte.«

Du siehst: ich war sinnlos geworden.

Als ich den Brief aber in den Kasten geworfen hatte, mit noch nasser Aufschrift, da überkam mich eine schmerzenstiefe Traurigkeit. Wie in einen dunklen Abgrund bodenlos gefallen schien mir aller Trost und alles Ziel. Meine Gemeinheit hatte ich erkannt, und, mit einem Male und ganz himmelsklar: ihre Reinheit. Aber ich schrieb keinen zweiten Brief. Wozu? Ich war nicht weniger gemein wie mein Gegner, und so war's erst recht aus. In diesem Augenblicke hätte ich ihm meine Brust zum Ziele geboten und selbst zu schießen verzichtet. – Das war die tiefste Traurigkeit, die ich je erlebt. So schwer und ohne Uferwand der Hoffnung. Dunkel und leer. Der Kopf wüst und das Herz elend, furchtsam und störrisch wie ein Verbrecher, so lief ich durch die Straßen. Nicht einmal gedacht habe ich daran, etwas aufzuschreiben für den Fall meines Todes.

Nur diese Last seelenerdrückender Selbstanklage und Verzweiflung heben und von mir werfen, weit, tief! Wäre ich ein Mensch des Mittelalters gewesen, ich hätte mich dem Teufel verschrieben – in unseren Zeiten thut bei sothanen Gelegenheiten der Alkohol Teufelsdienst.

Morgen früh fünf Uhr mußte ich Bahnhof Friedrichstraße sein. Ich beschloß, die Nacht irgendwo in der Nähe zuzubringen. Ein Dienstmann hatte mir einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem ein Lokal mit »kavaliermäßiger Bedienung« empfohlen wurde. Das war etwas für mich. Was kann es kavaliermäßigeres geben, als einen Menschen vor Zeugen totschießen zu wollen, und va banque mit dem eigenen Leben zu spielen? Also in das kavaliermäßige Lokal.

Als ich in den »Salon« trat, der in seiner plüschenen Eleganz sehr offenherzig an Bordelle erinnerte, gab der langhaarige Klavierspieler, ein heruntergekommener Student, wie es schien, gerade eine Melodie zum Besten, nach der ich in irgend einer Posse den Text: »Du, Du, Du nur allein, Du, Du, Du sollst es sein« habe singen hören, – es ist schon lange her, und ich war damals himmelblau und rosenrot umwölkt von taubenschwingenzarter Schülerliebelei. Die Melodie hier nahm mir für einen Augenblick den Schmerz und schenkte mir Wehmut.

Allerlei Vergnügungspöbel saß auf den Plüschpuffs und Divans herum, stumpfsimpelte, soff, gröhlte, lachte; feiste, offenbar auf Fettquilligkeit ausgesuchte Kellnerinnen in ausgeschnittenen Kleidern, dick beschminkt, mit Augenrändern von Thalerumfang, meist der Frucht näher als der Blüte, leisteten die übliche Gesellschaft, womit der kavaliermäßige Charakter des Lokals sich schön bewährte. Ich setze mich an den einzigen Tisch, der noch leer war, in eine Divanecke, in der es muffig nach Patschouli (Odeur de bordel unter Kennern) roch. Über dem Divan mit seinen Gerüchen hing ein Öldruck, der den alten Kaiser Wilhelm, umgeben von einem Kornblumenkranze, darstellte. Patriotismus und Patschouli, – na ja.

»Na, was trinken wir denn,« sagte die Kellnerin, die auf mich zugeschwommen kam wie ein dickes Kanonenboot erster Klasse in Paradegarnitur.

»Porter.«

»Un für mich? Ich mag Wein lieber.«

»Mein'twegen.«

Ach, wie ekelhaft. »Du, Du, Du nur allein, Du, Du, Du sollst es sein« klapperte der unglückliche Musensohn, und ich sang innerlich mit, in halb unbewußten, flatternden, drängenden dumpfen Empfindungen:

»Wenn ich – Dich – nicht hab'
Ist mir die Welt nur wie ein Grab, . . .
Du, Du, Du nur allein,
Du Du . . .«

Josephine! Josephine! hob es sich in mir empor, schwellend und sehnsuchttrauerwütend; die Thränen wollten kommen. Da senkte sich der Speck meiner Hebe halb neben, halb auf mich nieder. Der Langhaarige paukte sein Walzerfinale herunter, die Kellnerin klang mit ihrem Glas an das meine. »Na, Schatz, trink' doch.« Und ich trank, ich stürzte Glas auf Glas des dicken, braunschaumigen Bieres hinunter, ließ mir die Angriffe, die meine kavaliermäßige Bedienung auf meine Beine machte, teilnahmslos gefallen, und redete mich, nach und nach betrunken werdend, in wildes, galliges, gemeines Zeug hinein. Mary fand das offenbar »kolossal nett«, denn sie fraß mich fast mit ihren glitscherigen Blicken, und wir waren beide bald im besten Schlammverhältnis miteinander. Ebenfalls betrunken werdend wurde sie so anschmierig, daß mich schließlich der Ekel aus dem Sumpfloch hinausdrehte. »Mein Hä–ä–erz! Mein Ha–ä–erz!« gröhlte der Tastenschläger, als ich die Thüre zuwarf und an der Uhr sah, daß eben 12 vorüber war. Wohin! Wohin! Halb müde, halb aufgeregt, lief ich planlos, fast 2 Stunden durch Friedrichstraße und die »Linden«. – Die hautschmeichelnde Nachtkühle verscheuchte die Dämpfe der Berauschtheit, und es kam, wie von tief innen heraufklingend, Klarheit und Ruhe in Fühlen und Denken. –

Im Café Bauer ließ ich mir Schreibzeug geben und schrieb an Josephine. Inmitten der umhersitzenden Nachtvögel beiderlei Geschlechts schrieb ich einen langen, langen, glühend-leidenschaftlichen Brief an sie. Was schrieb ich? Fast weiß ich's nicht mehr, aber es strömte wie Feuer aus meinem Herzen. Meine ganze Liebe und die ganze Qual dieser letzten Tage flossen zusammen in eine einzige Lohe. Verzeihung flehend lag ich zu ihren Füßen, Knie umklammernd bat ich um Verzeihung, – jetzt so im Staube, wie kurz vorher frech hoch auf dem hufdröhnenden Rosse der Brutalität.

Mehr und mehr geriet ich in einen Taumel. Ein Teil der alten Stimmung kam über mich, und ich schrieb zuletzt unter Thränen. Als ich zu Ende war, hatte sich das Café fast geleert. Die Kellner standen schläfrig an den Säulen und Wänden. Scheuerweiber kamen mit ihren Kübeln. Es war Zeit für mich, an die Bahn zu gehen.

Als ich aufstand, schwankte ich vor innerer Schwäche. Mir war zu Mute wie nach der ersten Nacht, die ich als Soldat auf Wache gestanden hatte. Das ekle, übernächtige Gefühl, ein fauler Geschmack im Munde, dumpfes Brennen im Kopf Schwäche in den Gliedern: so ging der »Held« zur Wahlstatt.

Mit einem Male trat jetzt auch das Kommende in Klarheit an mich heran. Bis jetzt hatte ich an die eigentliche Sache gar nicht gedacht. Alles war Strudel gewesen ohne festen Punkt. Nun, da ich dem Bahnhof zuschritt durch die menschenleere Friedrichstraße, die sonst dröhnt und braust von Lärm und Leben: da, mit einem Male stand es bildklar vor mir, was kommen mußte. Und ich fühlte (Du sollst es hören und wissen), – ich fühlte eine Angst tastend in mir aufsteigen. Ein lauerndes, widrig schwellendes, schnürendes Gefühl. Eine dunkle Macht schob mich langsam in immer gleichem Drucke ins Dunkle. Mir war's, als wenn meine innerste Seele den Atem aussetzte, und mein Blick kehrte sich in meine eigene Vergangenheit. Ah, all dies Streben nach einem Ziele, nicht immer klar bewußt, aber immer schwingenfertig, immer triebbewegt; ja, ja – dorthin, dorthin hast Du gewollt, und Deine Kraft, sie hätte gereicht. Warst Du nicht nahe? Und alle die Sturmglückssekunden, da Dein Herz in Liebe schwoll und Dir selber ein Himmel war, und Du selber ein Gott in Fülle und Seligkeit! Ja, liebekräftig warst Du und leicht zu heben im Herzschlag. Oft warst Du tot und verworfen und blind und gingst in der Menge, unglückselig bewußt Deines Falls, – aber in Schwall und heißer Wonne leuchtete so oft dann mitten im Tiefsten Dir eine Flut von Freiheitsschöne ins Herz, daß Du hoch warst und allein, kräftig, groß, nicht herrschend, nicht beherrscht: einzig. Und dann wieder die wahre Liebe zu jeder Wirklichkeit, das Seligsein im Drange, zu vergehen im All! Du wärst zur Wahrheit gediehen, zu freiem eigenen Sein, Du hättest Dich ausgelebt, – nun aber zappelst Du in der grauen Spinnewebe fremder Niedertracht und blöder Sitte, und die Spinne Tod wird Hirn und Herz Dir aussaufen. So, nur noch verworrener, aufbäumender und zugleich gedrückter waren die Empfindungen meiner Furcht. Ja, Furcht, nichts weiter. Den einen schüttelt's äußerlich, den andern innerlich. Zwischen hinein in diese delirösen Zuckungen stach die selbsthöhnische Frage: »Feigheit«? aber mein brodelndes Empfinden verwarf sie mit noch lauterem, bittergellendem Hohn.

So langte ich auf dem Bahnhof an. Niemand dort, außer meinen Zeugen, mir unbekannten Korpsburschen, die mich mit alberner Gemessenheit begrüßten. Durch ihre befremdeten Blicke ward ich darauf aufmerksam, daß ich ziemlich derangiert aussah. Sofort regte sich in mir Stolz, wie stets, wenn Jemand von oben auf mich herabsieht. Das war gut. Mit meinem Selbstgefühl bekam ich Ruhe. Beinahe mit Leutnantsschnarren sagte ich: »Pardon, meine Toilette. Ich muß mich vor solchen Chosen immer etwas zerstreuen.«

Denke: diese Albernheit. Heut' schäm' ich mich ihrer, aber sie war diesen Braven gegenüber nicht unangebracht. –

Der Zug kam.

Wir stiegen ein und waren bald am Orte, von wo aus noch etwa eine Stunde zu gehen war.

Der Morgen war schön, frisch und hell.

Meine Begleiter, in einer Art feierlicher Toilette, schritten rechts und links von mir, und ich mußte daran denken, daß moderne Scharfrichter ihr Geschäft im Frack abmachen. »Ja nobel, nobel, nobel muß die Welt zu Grunde geh'n«, sang die kleine Klara Sickert im Leipziger Stadtgarten-Tingeltangel. Weißt Du noch? –

Soll ich Dir schildern, wie die Vögel sangen? »All Leben ist erwacht!« Aber ich will zum Ende. Dies Wühlen in mir, jetzt peinigt mich's.

»Wären wir endlich da!« dacht ich unaufhörlich. –

Als wir ankamen, fanden wir die andern schon am Platze.

Wimberg ging mit dem Unparteiischen auf und ab.

Sein Anblick war mir eine heiße Stimulanz.

Los! Los! Los!

Alle die fürchterlichen, langweiligen Vorbereitungen, diese lächerlichen Scheinversuche zur Versöhnung (hol' Dich der Teufel, Hund!), das Verlesen des mir sattsam bekannten »Pistolenkomments«, die endlose Zeit, die der, wie es schien, beständig mit Tatterich behaftete Unparteiische zum Laden der vier Pistolen brauchte, – unerträglich das Alles! Ich sah nur ihn. Diese hochmütige Hakennase, den braunroten Schnurrbart, diese ganze verhaßte, lange Figur.

Da begann der langbeinigste Sekundant zu springen, wie ein Känguruh, um die Entfernung zu messen. Na, na, nicht so weit! Mein Sinn für Komik regte sich. Wenn er einen Frack anhätte, – wie müßten die Schöße fliegen! Puterrot sah der Gute aus, wie er ausgehopst hatte.

Mein Sekundant gab mir die Pistole. »Aber Verehrtester, weshalb solche Kaninchenaugen dabei! Gerade wie unser Konrektor: halb furchtsam, halb dumm.«

Ich war absolut ruhig. Beinahe hätte ich »ähbäh!« gesagt. Zu gelungen! Jetzt war mir auf einmal alles wurst und schnuppe. Also der Unparteiische würde langsam bis 3 zählen; zwischen 1 und 3 sollte losgeknallt werden.

Ich stand neben einem Baumstumpf. Darauf Moos und ein großer, brauner Pilz.

»Eins!« (etwas heiser, gurgelig, gar nicht »schneidig«.) In demselben Augenblick hob sich drüben Wimbergs Pistole und sein rechter Fuß trat vor den linken. »Zwei!« – ffft! saust's an meinem rechten Ohr vorüber; ich drücke los, der Schuß ruckt meine Hand zurück. (Ich hatte ganz unbewußt die Pistole gehoben: das Losdrücken geschah als »Reißer«, wie die Unteroffiziere sagen.) Herr Wimberg sank ganz gemächlich, und wahrhaftig: elegant in die Kniee. Der Korpsdiener nahm mir die Pistole, ich blieb bei meinem braunen Pilze. Die übrigen in bewegter Gruppe drüben. Na? Mein Sekundant kommt lächelnd herbei und sagt: »Nicht gefährlich. Fleischwunde. Ein paar Sehnen dabei. Wenn die Sache glatt heilt, kommt höchstens 'n bißchen Hinken dabei 'raus.«

Ich: »Ja, ist die Geschichte nun vorbei?«

Er, lachend: »Na, ich dächte. Stehen kann Ihr Gegenpaukant wenigstens innerhalb 4 Wochen nicht.« –

Was ich dabei gefühlt habe? Gar nichts. – Augenblicklich fühle ich aber, daß es gut ist, diesen Riesenbrief zu schließen. Was noch kommt, ist melancholisch. Mich aber hat diese Schilderung in fast fidele Frivolität versetzt, denn zwischen dem heiserdumpfen: »Eins! – Zwei!« lagen für mich die vergnüglichsten Momente jener Zeit.

Dein Richard.

Also das melancholische Finale, mein Lieber. Ich will's kurz machen. – Schon auf der Zurückfahrt bis zum Bahnhof Friedrichstraße schüttelte es mich fieberisch. Ich mußte eine Droschke nehmen, und zu Hause fiel ich sofort ins Bett. Schilde, auf einen außerklinischen Fall chirurgischen Charakters hoffend, hatte in meiner Wohnung auf mich gewartet. Er war einigermaßen enttäuscht, mich in ganzbeinigem Zustand zu erblicken; mein Fieber indes entschädigte diesen eifrigen cand. med. ein wenig.

Ich fiel sofort in einen unruhigen Schlaf, in dem ich fortwährend farbigen Schlamm voll qualliger Blasen sah. Auf Genaueres vermag ich mich nicht zu besinnen. Nur einmal war mir, als ob Josephinens weiche Hand mir auf der Stirne ruhte und ihr Blick auf meinem Schlaf. Aber das war nur ein glänzender Augenblick, ein Sonnenhusch im Nebel. Dann quoll es weiter. Immer ein Rühren in blutigem Schlamm. Blasen gurgeln auf, langsam, thranig, bis an den Hals schwappt mir die ekelhafte Masse. Da, hell mit einem Male, maihell; ein sanftes, streichelndes Licht. Oh, wird der Traum schön! Ich sehe einen See mit Millionen kleiner Plätscherwellen, sonnenglitzerbekrönt, und alle die klingenden Wellen auf mich zu: Millionen schwimmbewegte Amorettenarme, leiser Stoß nach vorn, leises Auswärtsbreiten, immer ein Umarmen der sonneglitzernden Flut, und zu meinen Füßen klirren die silbernen Wellen, spielen die Amoretten. Eine weich gütige Frauenstimme von ferne: mein Name, klingt sie näher? Kommt sie nicht mit dem warmen Winde, der wie ein seiden Tuch mir um die Stirne spielt? Und das Wellenklirren verklingt, die Amorettengrübchenarme verschäumen, der See verrinnt in grünen Duft. . . . Da . . . ja Wiesen, Wälder . . . aber nicht doch?! . . . wie ich träumte! . . . sieht da die Wiese nicht aus, wie mein grünes Sopha? . . . und der See davor mein Tisch mit seiner weißen Häkeldecke? . . . aber die Luft um die Stirn . . . und die liebe weiche Stimme. Langsam erwachte ich ganz. Josephine saß neben mir, auf meiner Stirn lag ihre Hand.

»Nicht gesprochen, Du! Ganz still sein!«

Meine Blicke fragten.

Und sie erzählte. Nur meinen ersten Brief, den schändlichen, hatte sie erhalten. Da war sie gleich nach Berlin gefahren.

». . . Und Wimberg?«

. . . »Ja! . . .«

Ich schloß die Augen.

»Später, mein Richard. Jetzt mußt Du ganz ruhig sein.«

Und ihre Hand auf meiner Stirne beruhigte mich, und ich glaubte ihr und liebte sie in meiner Krankheit mehr als je.


Lange habe ich im Nervenfieber gelegen. Josephine war in der ersten Zeit Tag und Nacht an meinem Bette. Später ging sie tags ins Geschäft und kam erst abends. Wie sie mir da eigen erschien. So schwebend. Sie las mir vor und erzählte mir. Wenn die Genesungsmüdigkeit zu mir kam, ging sie.


Ich wurde kräftiger. Schon durfte ich auf Stunden außerhalb des Bettes sein. Jetzt saß ich im Fauteuil d'amour, und sie zu meinen Füßen.

»Josephine . . . warum hast Du mir nicht früher gesagt? . . .«

»Es war so häßlich, und ich wollte Dich nicht aufregen. Und auch mich nicht. So häßlich war's.«

Und langsam erzählte sie mir eine der Schmachgeschichten, wie sie zu Tausenden jeden Tag aufs neue sich in Berlin abspielen und aus denen zu Hunderten jeden Tag die Prostitution »neue Ware« erhält. –

Max: Es thut mir sehr leid, daß ich jenen Halunken nicht besser getroffen habe. Wahrhaftig, ich hätte besser gezielt, hätt' ich seine ganze lumpenhafte Gemeinheit eher gewußt.


Ich war fast ganz genesen, da zeigte mir Josephine eines Abends einen Brief.

»Na, na, der Vetter aus Amerika?«

»Ja, lies nur.«

»Hui! Das ist ja eine Werbung in bester Form! Und Du . . ?«

»Ja, Richard, ich meine . . .«

»Josephine! . . .«

»Ja, ich muß ja sagen. Es ist das beste so. Zwischen uns ist's doch aus, und mich ekelt's hier.« –

Kurz und gut: Etwa zwei Wochen, bevor ich hier einrückte, ist Josephine auf dem Dampfer »Leipzig« abgefahren. In ihrem Brief aus Hamburg steht die Stelle: »daß ich Dich jetzt so innig lieb habe, wie früher, weißt Du. Aber so ist es das beste, das wir auseinander sind. Deinen Brief vergesse ich nun. In Berlin habe ich's nie gekonnt. Immer habe ich auch an W. gedacht, wenn Du zu mir sprachst, und ich habe immer einen Ekel an allem bekommen.«

Und dann: »Ich habe so viel geweint die ganze Zeit, wo Du krank lagst, und war doch immer so glücklich an Deinem Bette, weil ich Deine Hand hielt. Aber nun werde ich nicht mehr weinen, aber ich werde immer an unser Glück denken.«

Diese schlichte, treue Liebe, Max. – Und das alles vorbei, ein Traum voll Süßigkeit und wüstem Spuk. Er hat mich alt und kalt gemacht.

Wimberg hab' ich unter den Linden schon wieder spazieren gehen sehen. Er hinkte mit viel Grazie und Selbstbewußtsein. Wahrhaftig: wohl möglich, daß sein Heldentum jetzt wirklich ein paar Witwen ergattert.

Und das wäre der Humor davon.

Dein Richard.

* * *


 << zurück weiter >>