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Marie Lechner, die nach kurzem Aufstieg und raschem Niedergang den Weg zurück in die freudlose Gasse gefunden hatte, lebte noch immer siech und elend bei ihrer Mutter, der Wäscherin, und ihrem Vater, dem ewig betrunkenen Invaliden.
Leben konnte man es eigentlich nicht nennen. Es war das Vegetieren einer kranken Pflanze, die ohne Licht und Luft langsam, aber sicher abstirbt. Tagsüber war Marie allein in der häßlichen Proletarierwohnung, kauerte still und tatenlos, die mageren, abgezehrten Schultern in eine zerrissene, schmutzige Decke gehüllt, auf einem Stuhl beim Fenster, starrte in den dunklen, abscheulichen Hof, in dem den ganzen Vormittag Fragmente von Teppichen geklopft wurden, und gegen das winzige Stückchen Himmel, das, scheinbar ewig grau, hoch oben über den Dächern sichtbar war.
Von Zeit zu Zeit, in Pausen, die immer kürzer wurden, schüttelte ein häßlicher Husten ihren jungen Leib, und wenn der Husten vorüber war, floß ein dünner Blutfaden zwischen den bläulichen Lippen hervor auf die Decke, in die sie sich fester wickelte.
Abends, wenn die Mutter abgerackert heimkehrte, trank sie ein Häfen Kaffee oder Suppe, ließ sich auch überreden, eine Semmel zu verzehren, dann streckte sie sich auf dem Strohsack aus, schlief dumpf, schrie im Schlaf gellend, sprach unzusammenhängende, aber immer wiederkehrende Worte, die die Mutter mit Entsetzen und Furcht erfüllten.
Die beiden Frauen, die alte und die junge, sprachen nur selten miteinander. Nur ihre Blicke, die sich oft ineinander versenkten, erzählten von dem Jammer der alten, abgearbeiteten, gichtischen Proletariersfrau, und der jungen, in Leidenschaft und Schmutz verkommenen Dirne.
Ihren Vater sah Marie fast gar nicht. Der verkrüppelte Trunkenbold hatte eine seltsame Scheu vor seiner Tochter, schlich lautlos des Nachts in seinen Winkel, verschwand frühmorgens ebenso lautlos, um seine Kneipen aufzusuchen.
Nun sehr selten verließ Marie das Haus. Und wenn sie es tat, erst spät abends. Sie eilte dann stadtabwärts, querte Seitengassen, bis sie die Gumpendorferstraße erreicht hatte, kroch hustend und blutspuckend die Treppen hinauf, bettelte eine Gefährtin aus jüngst vergangenen Tagen mit aufgehobenen Händen so lange an, bis diese ihr schimpfend und brummend das mitgebrachte Fläschchen mit trüber Flüssigkeit füllte. Und wenn Marie dann ging, dann blieb sie schon auf dem nächsten Treppenabsatz stehen, sah sich scheu um, hob den Kleiderrock, entblößte das entsetzlich abgemagerte Bein und versenkte die Spitze einer kleinen, eben gefüllten Spritze in das Fleisch.
Die Stunden, in denen das Morphium in ihren Adern und Nerven tobte, waren der einzige Lichtblick in ihrem Dasein. – – –
Die Wochen kamen und gingen, Marie las keine Zeitung, wußte nicht, was in der Welt, in der Stadt, in der Melchiorgasse geschah, die roten Flecken auf den spitzen Backenknochen wurden immer röter, das Fieber ließ sie nicht mehr los, jedem Hustenanfall folgte ein Blutsturz, das Rasseln ihrer kranken Lungen hörte sich nachts schauerlich an. Die Mutter, die sich im Bett aufrichtete und angstvoll zu dem Strohsack horchte, auf dem Marie lag, hatte das Empfinden, daß dieses Rasseln dem Schärfen einer Sense glich. Und mehr als einmal in der Nacht sank die alte Frau weinend auf ihr Lager zurück, faltete die Hände und betete zu ihrem Schöpfer, er möge ihr armes Kind barmherzig zu sich nehmen.
Nie fragte Frau Lechner ihre Tochter, welch Leid ihr eigentlich geschehen, welche Schicksalsschläge auf sie eingehämmert, bevor sie todwund in die Melchiorgasse zurückgekehrt.
Unausgesprochen blieb zwischen den beiden Frauen das Unaussprechliche.
Eines Abends aber, als der erste Frühlingsföhn in den Nerven der Menschen spielte und die trockene Erde begierig die warmen Regentropfen aufsaugte, lächelte Marie ihre eben heimgekehrte Mutter seltsam an und sagte mit einer Stimme, die kaum noch irdisch klang:
"Mutter, es ist eine Dummheit, ich weiß es – aber ich tät dich darum bitten – hol‘ einen Geistlichen, damit er mir die Beichte abnimmt. Es geht zu Ende, Mutter, ich spür‘s und möcht‘ halt doch nicht wie ein Hund verscharrt werden."
Aufheulend wie ein mißhandeltes Tier lief die Wäscherin die vier Treppen hinab, um den Wunsch der Tochter zu erfüllen. Kam, nachdem sie von einer Kirche zur anderen gelaufen, mit einem jungen Priester zurück. Und wartete draußen auf dem Korridor eine volle Stunde, bis der Priester wieder ging.
Der Priester aber, der, rosig im jungen Gesicht, fast fröhlich gekommen war, ließ die Tränen über die aschfahl gewordenen Wangen laufen, als er ging. Und als er auf der finsteren Treppe allein war, machte er das Zeichen des Kreuzes über der Brust, falte die feinen weißen Hände und rief schluchzend:
"Herr, im Himmel du, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."
Marie war, als die Mutter zu ihr kam, heiter, ihre Augen leuchteten, und sie verbrachte die halbe Nacht damit, daß sie ihren armen Körper wusch und pflegte und das Kleid, das sie als einziges in die Melchiorgasse zurückgebracht hatte, ausbesserte und flickte, bis es beinahe wieder stattlich aussah.
Morgens, als ihre Mutter wegging, um für fremde Leute zu waschen, war Maria längst wach. Sie schlang die mageren Arme um den Hals der Frau, küßte die runzeligen Wangen und sagte:
"Mutterle, ich hab‘ heut‘ einen Weg, von dem ich vielleicht nicht mehr zurückkommen wer. Möglich, daß wir uns nie, nie wieder sehen! Mutterle, verzeih‘ mir alles, was ich dir angetan hab‘. Das Blut und die Männer, die setzen uns armen Frauen arg zu, Mutterle. Und sei zum Vater recht gut, ist ja auch ein armer Teufel, der für sein Elend nichts kann!"
Als die Mutter fort war, wollte sich Marie erheben und anziehen. Aber immer wieder kam ein Hustenanfall, der sie auf den Strohsack warf, immer wieder mußte sie mit geschlossenen Augen eine Viertelstunde daliegen, um sich auszuruhen. Und es wurde Mittag, bevor sie die Melchiorgasse verlassen konnte.