Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Hugo Bettauer

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Die Mädchenfalle.

Otto Demel fühlte sich in seinem neuen Heim sehr behaglich. Nichts in seiner Umgebung sah nach professioneller Zimmervermietung aus, bürgerliche Wohlanständigkeit umgab ihn, seine kleinen Wünsche wurden eifrig erfüllt, sein Schreibtisch in Ordnung gehalten. Und immer, wenn er Grete sah, freute er sich ihrer Lieblichkeit.

Zwischen ihnen hatte sich eine herzliche Kameradschaft entwickelt, er lieh ihr Bücher, über die sie dann kluge Worte sprach, oft, wenn er nachmittags nach Hause kam, unterhielt er sich die ganzen zwei Stunden, die eigentlich seiner Arbeit gewidmet waren, mit ihr, und wenn sie dann ihm gegenüber saß und ihn mit ihren großen, schönen Augen fragend ansah, hatte er das Empfinden, in Grete das Mädchen zu sehen, wie es ihm in seinen Jugendjahren als Ideal erschienen war.

Der Journalist hatte in den letzten Jahren ein recht tolles Leben geführt, sich fast ausschließlich unter Menschen bewegt, die mit ihrer Zeit gehen und aus einer früheren Epoche stammende Begriffe von Moral über Bord geworfen haben. Seine vielfachen Erfahrungen mit den Frauen und Mädchen der neuen Gesellschaft waren nicht dazu angetan, ihn die Weiblichkeit von heute besonders hoch schätzen zu lassen, er sah fast nur unglückliche, innerlich zerbrochene Ehen um sich, die Mühelosigkeit, mit der sich junge, verheiratete Frauen erobern ließen, jagte ihm geradezu Angst vor der Ehe ein. Lia Leid, Regina Rosenow – das waren für ihn die Frau, das Mädchen von heute.

Trotzdem, mitunter keimte in ihm der Gedanke, daß Grete Rumfort aus anderem Holz geschnitzt, daß sie nicht jenen Mädchen gleiche, die ihm aus Habgier, Koketterie, verspielter Sinnlichkeit und Frivolität zusammengesetzt zu sein schienen. Aber er drängte solche Gedanken immer wieder zurück, nannte sich einen Narren, weil er nicht die Gelegenheit beim Schopf nahm, nicht versuchte, das schöne, liebreizende Ding zu seiner Geliebten zu machen.

Immer, wenn er in einer traulichen Stunde dicht neben ihr saß und ihn die Versuchung überkam, Grete an sich zu ziehen, hielt ihn eine seltsame, ihm selbst unerklärliche Scheu davon zurück. Erinnerungen an sein längst verstorbenes Schwesterchen, an seine Mutter tauchten in ihm auf, ließen ihn gerade diesem armen, hilflosen Kind gegenüber schüchtern werden.

Von den Sorgen Gretes, von ihrem verzweiflungsvollen Kampf gegen die dunklen Mächte, die nach ihr griffen, hatte er keine Ahnung. Ja, nicht einmal davon, daß er der einzige Lichtpunkt im Dasein Gretes war, daß das Mädchen ihn von Tag zu Tag heißer und inniger liebte.

Die Situation der Familie Rumfort wurde immer trostloser. Otto Demel zahlte für das Zimmer mit Frühstück und Beleuchtung anderthalb Millionen monatlich, wovon an städtischen Abgaben, dem Material für das Frühstück, Wäsche und Strom mindestens eine halbe Million abging. Eine Million im Monat ist eine ganz hübsche Zugabe für Leute, denen sie Nebeneinkommen ist, aber fast nichts für eine Familie von fünf Personen, die davon leben soll.

Die Not wurde nach und nach so groß, daß Grete, auf die sich alle stützten, den Kopf verlor und in Verzweiflung geriet. Fast der ganze von Demel bezahlte Mietbetrag ging jedesmal auf Kleider und Schuhe für die beiden Kinder auf, man war dem Bäcker und Fleischer Geld schuldig, der Besuch des Gas- und Stromkassiers wurde jedesmal zur Katastrophe, und immer wieder mußte Grete zur Frau Greifer laufen und sie demütig um ein weiteres kleines Darlehen anflehen. Frau Greifer gab, aber mit immer härterer Hand, mit immer unverhüllteren Worten. Das letztemal hatte sie es rund herausgesagt:

"Freil‘n Grete, das war das Letzte, was ich hergeb‘, und jetzt müssen Sie bald an das Zurückzahlen denken. Wissen Sie, was Sie mir schuldig sind? Ich hab‘ alles genau aufgeschrieben: Zehn Millionen! Sie brauchen nicht zu erschrecken, das ist eine Kleinigkeit, wenn Sie wollen. Sie brauchen einen reichen Freund, der wird gern Ihre Schulden zahlen. Sein S‘ net dumm, sonst wer‘ ich bös‘ und muß schauen, daß ich auf andere Weise zu meinem Geld komm‘. So wie mit dem Herrn Löhner wer‘n mir das nicht mehr machen. Ich wer‘ Ihnen Gelegenheit geben, sich einen Kavalier auszusuchen. Nächste Wochen geb‘ ich einen Abend, da kommen die feschesten jungen Damen und reichsten Herren zu mir. Ich wett‘ mit Ihnen, daß Sie selbst zu mir sagen wer‘n: Frau Greifer, der da gefällt mir, mit dem tät ich gehen! Wissen S‘, mir wer‘n lebende Bilder stellen, das haben die Herren gern, und da können die Damen zeigen, wie schön sie sind. Sie wer‘ ich als Nymphe kleiden, passen S‘ nur auf, wie da die Männer auf Sie fliegen wer‘n."

Grete schnürte es die Kehle vor Angst zu. Sie wußte, daß Frau Greifer ein schändliches Gewerbe ausübe, sie wußte, daß ein solcher Besuch bei der Frau furchtbare Gefahren für sie berge. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren, die Sorge um das Brot war so übermächtig, daß sie in dumpfer Resignation die Augen schloß.

Die ganzen Tage, die nun folgten, wälzte sich der Gedanke in ihrem Kopfe, was wohl Otto Demel zu all dem sagen würde. Sie selbst, das Bewußtsein, ihre Mädchenehre zu gefährden, standen im Hintergrund, der Mann, den sie liebte, beherrschte ihr ganzes Empfinden. Hier und da fragte sie sich, ob sie nicht Demel alles erzählen sollte. Aber nein, das ging nicht! Er würde ihr dann sicher Geld anbieten – – und, lieber von fremden Männern Geld nehmen, als von ihm, den sie liebte!

Der Tag kam und Grete, die sonst nie abends das Haus verließ, belog zum erstenmal ihre Mutter, erzählte von einem Besuch, den sie einer Schulfreundin machen wolle.

Um neun Uhr ging sie zur Frau Greifer hinüber. Dort waren schon die Mädchen versammelt. Lauter bildhübsche, junge Dinger mit grellrot geschminkten Lippen und Wangen, Mädchen aus einer Sphäre, die Grete nur vom Hörensagen kannte.

Wie im Traum hörte Grete bei der Vorstellung durch Fräulein Henriette Namen, wie Dolli, Putzi, Mädi, Alma, Lulu. Wie im Traum ließ sie sich das Kostüm anziehen, in dem sie so schön aussah, daß alle diese Mädchen sie bewunderten.

Herren kamen, alte, junge, schlanke und dicke, wie im Traum hörte Grete Namen murmeln, willenlos trank sie Champagner und Likör, knabberte an Brötchen und Bäckereien, ging mit einem anderen, als Schäfer gekleideten Mädchen auf das Podium, hörte Beifallsraunen, beantwortete Fragen der Männer mechanisch, wurde aber abwehrend, wenn sich Hände ihrer bemächtigen wollten.

Szenen begannen sich vor ihr abzuspielen, die sie mit Entsetzen erfüllten, sie die Augen schließen ließen.

Einem klobrigen dicken Herrn gab sie auf seine unverblümten Fragen keine Antwort, bis er achselzuckend mit beleidigenden Worten sie stehen ließ. Ein anderer, der vorhin mit Frau Greifer über sie gesprochen hatte, setzte sich zu ihr, stellte sich als Dr. Wurm vor. Ein eleganter magerer Mann in mittleren Jahren, mit Habichtnase und einem ausgesprochenen Raubtiergebiß. Unvermittelt begann er:

"Sie passen wahrhaftig nicht hierher. Sie machen den Eindruck eines anständigen, jungen Mädchens, wie sind Sie in diese Gesellschaft geraten?"

Der menschliche Ton, den er anschlug, löste die Starrheit. Grete biß die Zähne zusammen, schlug die Fingernägel in den Handballen, um die Tränen zurückzudrängen, und antwortete:

"Wie ich hierherkomme? Wahrscheinlich so, wie alle diese Mädchen: Not, Kummer, Geldsorgen lassen mir keine Wahl!"

Dr. Wurm schüttelte den Kopf. Er rückte näher, ergriff ihre Hand, lehnte, scheinbar zufällig, seinen Körper an den Leib des schönen, jungen Mädchens.

"Nein, Sie dürfen sich mit den anderen da nicht vergleichen! Ich bin Frauenkenner genug, um bei Ihnen die gute Rasse und Erziehung zu wittern. Die anderen kommen von unten, für sie bedeutet die Aufnahme in den Zirkel der Frau Greifer eine Erhöhung. Ihnen ist sie ein Abstieg. Aber ich kann es mir ja vorstellen: Es geht Ihnen schlecht, Sie haben keine Stellung, sind der Frau Greifer Geld schuldig? Zehn Millionen? Na, das ist ja nicht so schlimm. Wenn Sie nett zu mir sind, so werde ich vielleicht Ihre Schulden zahlen und weiterhin für Sie sorgen. Überlegen Sie sich es – ich suche gerade jetzt eine Freundin. In einigen Tagen gibt Frau Greifer wieder einen solchen Abend, aber einen lustigeren, bei dem es hoch hergehen soll. Wir werden uns hier treffen und uns dann in ein Zimmer zurückziehen."

Grete wollte aufspringen, wurde aber von ihm zurückgehalten.

"Nun ja, wir werden uns zurückziehen, um alles gemütlich zu besprechen. Ich werde auch das notwendige Geld mitbringen. Heute kann ich Ihnen nur so gewissermaßen einen kleinen Vorschuß geben. Hier, da ist eine Million, vielleicht genügt das für die paar Tage."

Grete wollte sich losreißen und ihm die zwei Banknoten ins Gesicht werfen. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Berauschte sich an dem Wort "Millionen", sah, wie sie morgen Fleisch kaufen, wie Else und Erich mit Heißhunger essen würden, sie sah Sorgen von sich abfallen.

Dieser Mann wollte ja der Frau Greifer die zehn Millionen geben und ihr weiter helfen! Sie würde schon mit ihm fertig werden, würde schon nicht tun, was sie nicht vor sich verantworten könnte. Vor sich und Otto Demel.

Otto! Ein glückliches Lächeln flog über ihr erhitztes, verängstigtes Gesicht und sie sagte leise:

"Ich werde mir das noch überlegen und jetzt nach Hause gehen."

Dr. Wurm war zufrieden. Sein sicherer Blick täuschte ihn nicht. Dieses bildschöne Mädchen war wirklich noch eine Unschuld und würde eine reizende Geliebte werden. Auf ein paar Wochen, dann gehörte sie wieder der Frau Greifer. Der Champagner würde schon seine Wirkung tun.

Grete schlief bis zum Morgen schwer und traumlos, erwachte mit Kopfschmerzen und war unglücklich, wie noch nie in ihrem Leben. So sehr, daß ihr verstörtes Wesen Otto Demel auffiel. Teilnahmsvoll fragte er, Grete wurde weich, ein Zittern ging durch ihren Körper, ein Augenblick noch und Demel würde alles erfahren haben. Dieser Augenblick kam aber nicht, denn ein Depeschenbote mit einem Telegramm für Demel verjagte ihn.

Die Depesche enthielt die Mitteilung, daß einer Besuchsreise des Journalisten nach dem Ruhrgebiet nichts im Wege stehe. Demel teilte dies Grete mit und bat sie, freudig erregt, ihm beim Packen seines Handkoffers behilflich zu sein. Er würde heute noch abreisen und erst in ungefähr zehn Tagen zurückkommen. Und so von Berufseifer erfüllt war er, daß er das Erbleichen des Mädchens nicht sah.


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