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Dem Rechtsanwalt Dr. Karl Leid saß in der Kanzlei eine Dame gegenüber. Nicht mehr in der Blüte der ersten Jugend, war Frau Liane Christens doch noch eine schöne, sehr schöne Frau sogar. Ein paar silberweiße Fäden in den schwarzen Haaren erhöhten deren Pracht, noch wies das ernste, fast klassisch geschnittene Gesicht kein Fältchen auf und aus dem fein geschwungenen Mund leuchteten schneeweiße, vielleicht etwas zu große Zähne. Frau Christens, die Gattin des berühmten Wiener Porträtisten Aristo Christens, war fünfunddreißig, ihre geschmeidige, vollschlanke Figur hätte aber auch noch einer Fünfundzwanzigjährigen alle Ehre gemacht.
Freundlich, mütterlich lächelnd, hörte sie die Worte des Rechtsanwaltes an, der verbittert sagte:
"Ich stehe Ihren Mitteilungen fassungslos gegenüber. Immer galt mir Ihre Ehe als vorbildlich, immer freute ich mich, wenn ich mit Ihnen beiden zusammenkam, immer war sie mir ein Gegenbeweis gegen die Behauptung, daß die Ehegemeinschaft auf geistig hochstehende Menschen zerstörend wirken müsse. Und nun kommen auch Sie, reihen sich den Hunderten an, die vor Ihnen in diesem Fauteuil saßen und aufgeschrien haben:
Erlösen Sie mich von den Fesseln meiner Ehe!"
"Sie irren, lieber Doktor, ich schreie nicht und spreche nicht von Fesseln. Ich liebe meinen Mann noch immer, und eben deshalb muß ich fort von ihm, weil ich ihn durch meine Liebe nicht quälen und den Tag nicht erleben will, an den meine Liebe sich doch in Haß wandeln könnte.
Eigentlich wollte ich nur den Rechtsanwalt Leid aufsuchen, aber ich sehe, daß ich auch dem Menschen Leid eine Erklärung schulde. Also will ich Ihnen erzählen, warum ich meine Ehe mit Aristo Christens scheiden lassen muß.
Wir haben vor genau achtzehn Jahren geheiratet. Ich ein unschuldiges, klösterlich erzogenes Ding von siebzehn, er ein aufgehender Stern am Künstlerhimmel und um zehn Jahre älter als ich. Trotzdem ich reiche Erbin war, auch von seiner Seite nichts als eine Liebesheirat. Die ersten Jahre war ich ihm alles, sein Idol, seine Geliebte, sein Modell, seine Beraterin, der einzige Kritiker, auf dessen Urteil er etwas gab. Dann kam das, was kommen mußte: Der gefeierte Maler, von den Frauen seiner Kunst, seines Geistes, seiner männlichen Schönheit halber gefeiert und geliebt, betrog mich. Ich sah es und – litt nicht übermäßig darunter. Sah ein, daß ein Mann wie Christens Abwechslung auch in der Erotik haben muß, wenn er nicht verkümmern und versimpeln will, drückte beide Augen zu, machte keine Szenen, zog mich nur immer, wenn er eine Affäre hatte, in mein eigenes Schlafzimmer zurück, bis er eines Nachts stürmisch Einlaß begehrte, vor mir niederkniete, seinen Kopf in meinen Schoß vergrub und mich um Verzeihung bat. Dann gehörte er wieder mir, mir ganz allein.
Das ging so durch die ganzen Jahre und unsere Kameradschaft wurde in dem Maße inniger, als sich unsere erotischen Beziehungen lockerten.
Auch das nahm ich als selbstverständlich hin. Eine Frau gibt sich aus, der Mann erneuert sich! Die Natur selbst hat es ja so gewollt, sonst würde die Frau von vierzig nicht steril sein, während der Mann noch mit sechzig Kinder zeugen kann. Unsere Ehe blieb kinderlos – auch das spielt eine Rolle, macht es begreiflich, daß mein Mann sich, den niemand Vater nennt, ewiger Jüngling fühlt.
So wäre unsere Ehe vielleicht friedlich bis zur silbernen und goldenen Hochzeit gediehen, wenn nicht vor einigen Monaten das Verhängnis in Gestalt einer jungen dänischen Baronesse, die mit ihren Eltern nach Wien übersiedelt ist, gekommen wäre. Aristo hat sich mit der ganzen Kraft und Leidenschaft des reifen, überreifen Mannes in das allerdings herrliche Kind, das ein Vierteljahrhundert jünger ist als er, verliebt. Nicht um einen Flirt, um eine Liebelei, eine kleine Liaison handelt es sich diesmal, sondern um eine ganz große, gewaltige Leidenschaft, die voll und ganz erwidert wird. Und das allerdings kann ich nicht ertragen, ohne innerlich zu verbluten. Abgesehen davon – ich liebe Aristo so sehr, daß ich nicht seinem neuen Glück, seiner neuen Jugend im Wege stehen will. Ich vertrage Auseinandersetzungen nicht, Herr Doktor, habe daher kein Wort von einem Entschluß meinem Mann gegenüber geäußert. Nur den Wunsch ausgesprochen, jetzt allein auf einige Wochen nach Italien zu fahren. Aristo hätte fast aufgejubelt, als ich ihm diese Mitteilung machte. Auch das kann ich begreifen, denn es muß peinlich und schwer sein, mit bösem Gewissen neben einem Menschen zu leben, den man geliebt hat.
Sie, Herr Doktor, bitte ich nun, in meiner Abwesenheit die erforderlichen Schritte zur Trennung unserer Ehe zu tun. Ich nehme gerne alle Schuld auf mich. Böswilliges Verlassen oder was Sie sonst wollen. Von Venedig aus werde ich meinen Mann ausführlich die Beweggründe meines Entschlusses mitteilen."
Tief ergriffen hatte Dr. Leid zugehört. Unwillkürlich nahm er dann die feine, weiße, schlanke Frauenhand, drückte einen Kuß auf sie und sagte:
"Und was wollen Sie tun, wenn die Trennung vollzogen sein wird?"
"Nun, ich werde dann wohl recht einsam und allein sein. Immerhin, ein paar Freunde werden mir bleiben, und ich hoffe, daß Sie zu ihnen zählen werden."
Warm blickte Karl Leid der Frau, um deren Mund es jetzt zuckte, ins Gesicht. Eigener Schmerz fand seinen Bruder.
Jäh sprang Frau Liana Christens auf.
"Nun muß ich nach Hause eilen und mich für das Künstlerfest kleiden. Sie wissen wohl, eine Gruppe von Malern, mein Mann an der Spitze, haben ein großes Kostümfest im Künstlerhaus arrangiert, das unter der Devise: ‚Lucrezia Borgias Gäste‘ steht. Er würde sich kränken und ärgern, wenn ich nicht dabei sein wollte."
Der große Saal des Künstlerhauses war von den Malern ganz im Stil der Borgia-Zeit ausgestattet, was Wien an großer Gesellschaft aufzuweisen hat, war vertreten, sinnberückend die Farbenpracht der Gewänder, das Gold und Silber der Stickereien, die violette Seide der Kardinäle, die weißen spitzenbesetzten, mit goldenen und silbernen Stickereien gezierten Ornate der hohen Geistlichkeit und der päpstlichen Hofbeamten. Und überall im Saal wehten Flaggen in den Farben der Borgia, der Städte Rom und Neapel und des Hauses von Aragon.
Auch die Damen hatten natürlich das möglichste an Pracht geleistet. Wundervolle, im Stil gehaltene Kostüme aus Samt und Seide schmiegten sich um die Gestalt schöner Freuen, die nach der Sitte der damaligen Zeit die Nacken, die Büsten und den Rücken bis zur Grenze der Möglichkeit entblößt hatten. Ein Meer von Brillanten und Edelsteinen, wallenden Federn, Elfenbein und Blumen flutete hin und her.
Lucrezia Borgia wurde von Regina Rosenow repräsentiert, die sündhaft schön war. Sie trug ein weißes, perlengesticktes Gewand, ihre roten Locken wallten offen herab, sie sah wahrhaftig so verführerisch aus, wie ihr berühmtes und berüchtigtes Vorbild. In ihrer Begleitung befand sich fast ununterbrochen Egon Stirner, im Gewand eines Nobile, während sich Otto Demel, sein Begleiter Horak, alias Hort, und viele andere Herren damit begnügt hatten, den Stil der Borgia-Zeit flüchtig zu markieren.
Der Maler Aristo Christens sah als Cesare Borgia prachtvoll aus, und auch seine Frau, die ihm zuliebe noch dieses Fest mitmachte, erregte als Edelfrau vom Hofe von Aragon durch ihre vornehme Schönheit Aufsehen.
Egon Stirner hielt in dieser Nacht Regina Rosenow so vollständig in seinem Bann, daß sie gegen alle die Herren, die ihr huldigend nahten, fast schroff abweisend war. Ihre Sinne flogen dem schönen schlanken Mann zu, ihr Instinkt witterte in ihm den wahren Gefährten, Zuchtwahl im Unterbewußtsein trieb sie zu ihm hin.
Er nutzte seine Macht, warb um sie mit heißen, lockenden Worten und dem Spiel der Augen.
Plötzlich, unvermittelt fast, sah ihm Regina voll ins Gesicht und sagte scheinbar ganz kühl:
"Ich möchte mich nie mit einem Mann verpflichtend binden, ohne ihn ganz und restlos erkannt zu haben. Übermorgen werde ich unter dem Vorwand, Erholung zu brauchen, in Begleitung meiner Zofe auf den Semmering fahren. Morgen bestelle ich im Hotel Panhans ein Appartement. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Zimmer nicht zu weit von den meinen entfernt sind. Eine Woche werden Sie wohl Urlaub bekommen."
Einen Augenblick war Stirner vor Staunen über diese unverhüllte Aufforderung sprachlos, dann preßte er die zuckende, heiße Hand an seine Lippen. Regina gab sich wieder Haltung.
"Richtig, Papa erzählte mir, daß Sie den ganzen Mammon, den Sie an der Börse erobert haben, wieder hergeben mußten. Stimmt das?"
"Nicht ganz, einiges ist mir schon noch geblieben. Und wenn schon? Schwimmt auf der Welt das Geld nicht in Billionen umher? Verlassen Sie sich darauf, ich werde meine Netze wieder auswerfen und den großen Fischzug tun."
"Das Bild ist nicht glücklich gewählt, Egon! Unwillkürlich kam ich mir in diesem Augenblick selbst wie ein Goldfisch vor, der in Ihrem Netz zappelt. Aber schließlich – ich bin glatt und jedes Netz hat Maschen."
Während so zwei Menschen ihrem Schicksal entgegengingen, fanden sich der Journalist, Otto Demel, sein Freund, der angebliche Gutsbesitzer Hort, und Frau Liane Christens an einem kleinen Tisch bei einer Flasche Champagner zusammen. Das Gespräch drehte sich zuerst um die bevorstehende Italienreise der Frau Liane, dann um Dr. Leid.
"Ich habe ihn heute zum erstenmal nach dem schrecklichen Ereignis wieder gesehen und bin erschrocken. Er sieht erbärmlich aus und scheint über die Geschichte nicht hinwegkommen zu können. Er ist einer der feinsten und gütigsten Menschen, die ich kenne, und es tut mir weh, ihn so leiden zu sehen."
Otto Demel nickte.
"Nicht nur, daß er seine unglückliche Frau nicht vergessen kann, der Gedanke, daß der Mörder straflos umhergeht, bereitet ihm unendliche Qualen. Neulich erst hat er mir ernsthaft versichert, er würde mit Freuden sein ganzes Vermögen hergeben, wenn dadurch die Entdeckung des Mörders gefördert werden könnte."
Horak hatte schweigend das Gespräch verfolgt, nur seine Augen waren unruhig hin und her geflackert, hefteten sich abwechselnd auf das feine Gesicht der Frau Christens und auf eine wundervolle Perlenschnur, die sich um den schlanken Hals und die im Schimmer der weiblichen Reife prangenden Büste legte. Einen Augenblick preßte er die Hand auf die Stirne, dann war sein Entschluß gefaßt.
"Ich sehe, daß gnädige Frau dem Rechtsanwalt eine gute Freundin sind. Und außerdem habe ich, obwohl ich gnädige Frau kaum eine halbe Stunde kenne, den Eindruck, in Ihnen eine ganz außergewöhnliche Intelligenz und absolute Vertrauenswürdigkeit vor mir zu haben. Daher entschließe ich mich, meine Maske fallen zu lassen. Ich bin nicht der Gutsbesitzer Hort, sondern der simple Kriminalbeamte Josef Horak, den der Herr Redakteur in seine Kreise eingeführt hat. Ich bin nämlich hinter einem Wild her, und dieses Wild ist niemand anderer als der Mörder der Lia Leid. Und nun, gnädige Frau, eine Frage, um deren aufrichtige, offene, freimütige Beantwortung ich bitte: Würden Sie persönliche Anstrengungen und Opfer, ja vielleicht sogar Gefahren scheuen, wenn es sich darum handelt, den Mörder der Lia Leid zur Strecke zu bringen?"
Frau Christens war leicht errötet und erwiderte fest und lebhaft:
"Nein, durchaus nicht! Mir wäre kein Opfer zu groß, wenn ich dadurch Doktor Leid, den ich als Menschen und Freund verehre und schätze, von seiner Seelenqual befreien könnte."
"Dann bitte ich Sie, sich als freiwillige Detektivin in den Dienst der Sache zu stellen. Gnädige Frau fahren übermorgen nach Italien. Wie Sie selbst gesagt haben, wollen Sie, von Venedig ausgehend, eine Rundreise durch alle sehenswerten Städte machen. Sie haben auch erwähnt, daß Sie nicht perfekt, aber doch recht gut italienisch sprechen. Vor allem aber, und das ist für mich das Wichtigste, Sie haben eine herrliche Perlenschnur, die, wenn ich mich nicht täusche, einen ganz außerordentlich hohen Wert repräsentiert. Ich irre mich nicht? Gut, dann ist alles in Ordnung. Ihre Aufgabe wird es sein, in Venedig, Mailand, Florenz und allenfalls noch in Rom mit Hilfe Ihrer Perlen nach dem Mörder zu fahnden. Leicht wird das nicht sein, gnädige Frau. Sie werden in diesen Städten eine Rolle spielen müssen, und zwar die Rolle der abenteuernden Frau! Ich sehe, daß Sie, im Gegensatz zu allen anderen Damen, kein Lippenrouge, keine Schminke aufgelegt haben. In Venedig, Mailand, Florenz und Rom werden Sie dies zu gewissen Stunden tun müssen. So sehr, daß, wenn Sie zudem noch ihre Toilette auffallend genug gestalten, niemand zweifeln wird, es mit einer jener umherziehenden Abenteuerinnen zu tun haben, die heute Juwelen haben, morgen sie verkaufen müssen und denen sogar ein kleines Geschäftchen mit Verbrechern zuzutrauen ist. Genaue Instruktionen muß ich mir selbst erst ausarbeiten und werde so frei sein, sie Ihnen morgen zu übermitteln."
Otto Demel verglich unwillkürlich das Leben mit einem Filmstück. Das Gesicht der Frau Liane war von Freude und Erregung übergossen. Sie streckte dem Beamten die Hand entgegen und sagte ehrlich begeistert:
"Nicht ich werde Ihnen einen Dienst erweisen, sondern Sie mir! Aufrichtig gesagt: Mir graute ein wenig vor dieser Reise, die, ohne Ziel und Zweck, nur meine Gedanken betäuben sollte. Und nun hat sie Ziel und Zweck, birgt Geheimnisse und Abenteuer in sich, die ich, ohne mir etwas zu vergeben, wagen darf."