Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Hugo Bettauer

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Moderne Mädchen.

Regina Rosenow, das einzige Kind des billionenreichen Generaldirektors der Mitteleuropäischen Kreditbank, hatte ihre Jourgäste um sich versammelt. Nicht etwa in dem elterlichen Palais in der Pötzleinsdorfer Allee, sondern bei Hopfner in der Kärntnerstraße. Dort hatte sie für jeden Mittwoch von fünf Uhr nachmittags einen kleinen Saal gemietet, der mit den anstoßenden Separees ihr und ihren Gästen zur Verfügung stand. Nicht alle ihre bekannten Herren hatten Zeit genug, nach der entlegenen Pötzleinsdorfer Allee zu kommen, außerdem fühlte sich die junge Dame hier ungenierter, sie mußte nicht die Hausfrau spielen, konnte es den Kellnern überlassen, nach dem Rechten zu sehen, und schließlich durfte man, wenn die Zeit vorgerückt war, sich auch mehr gehen lassen als zu Hause. Und dann die Separees! Regina hatte volles Verständnis für alle Möglichkeiten, und dieses paarweise Verschwinden in den hübschen kleinen Zimmern, in denen neben dem Sektkübel das Sofa die hervorragendste Rolle spielte, erhöhte die gute Stimmung, verlieh den Jours der Regina Rosenow eine besonders pikante Note.

Abgesehen von allen diesen äußeren Vorteilen: Hier war Regina vor ihrer guten Mama sicher. Nicht daß Frau Rosenow ihrer Tochter irgend etwas in den Weg gelegt hätte. O nein, dazu imponierte der braven Frau aus Bielitz das Töchterchen allzusehr. Aber sie konnte es doch, trotz der heftigen Vorwürfe, die sie nachher von der Tochter bekam, nie unterlassen, in deren Appartements zu erscheinen, die anwesenden jungen Damen und Herren aufzufordern, ordentlich zu essen und beim Weggehen zu sagen: "Seid‘s nur recht brav, Kinderln!"

Das störte die Stimmung, und wenn auf solche altmütterliche Ergüsse die kleine Baronesse Mädi Sekkingen mit dem Grafen Udo Waldeck einen spöttischen Blick wechselte, war Regina die Laune für den ganzen Abend verdorben.

Diesmal ging es bei dem Jour der schönen Billionärstochter, deren rotblonde, kurzgeschnittene Haare in apartem Gegensatz zu den grünen, schillernden Augen standen, besonders hoch her. Es war der erste Tee in dieser Saison, der erste auch nach dem mißglückten großen Souper bei Rosenow, das so jäh geendet hatte, die Wahlen waren auch vorüber, es gab also Gesprächsstoff genug und von den intimen und weniger intimen Bekannten des jungen Mädchens fehlte niemand. Der Mehrzahl nach waren es junge Mädchen unter zwanzig und Herren unter dreißig, Otto Demel mit seinen zweiunddreißig Jahren war der älteste. In seiner Begleitung war auch ein schlanker, junger Mann mit glattrasiertem, beweglichem, clownartigem Gesicht erschienen, den Demel als Josef Hort, Gutsbesitzerssohn aus Oberösterreich, einführte.

Eben drehte sich das Gespräch wieder um die Ermordung der schönen Frau Lia Leid. Der dicke Rudi Poper, preisgekrönter Rennfahrer, im Nebenberuf Prokurist bei seinem Papa, erzürnte sich:

"Skandal das! Wenn eine Frau schon ein Verhältnis hat, so muß sie wenigstens wissen, mit wem. Aber diese Frau Leid scheint sich den erstbesten Kerl von der Straße aufgelesen zu haben."

"Vielleicht war es ein sehr schöner Mann, dem sie nicht widerstehen konnte," sagte Hilde Spitzer, ein streng katholisches Mädchen aus jüdischem Haus, mager, sommersprossig, blaß, aber mit bebenden Nasenflügeln und üppigen, feuchten Lippen.

"Wenn sie auf schöne Männer geflogen ist, dann hätte sie sich im Sommer einen feschen Tiroler Bergsteiger kaufen können," meinte blasiert Baron Eichhorn, der jetzt als schlichter Eichhorn Börsendisponent einer anrüchigen Bankfirma war.

"Das tun die Amerikanerinnen mit Vorliebe. Drüben in den States sind sie keusch und prüde, predigen Wasser und Sittlichkeit, wenn sie in Europa sind, saufen sie Whisky und kaufen sich dazu einen sympathischen Bergführer oder den Liftboy im Hotel per Nacht."

Regina Rosenow lag halb in ihrem Fauteuil, so daß ihre schlanken Beine bis zu den Strumpfhältern enthüllt waren. Die Blicke der Jünglinge, die sich auf diese Beine konzentrierten, genierten sie nicht im mindesten. Sie blies den Rauch ihrer Zigarette in Ringen vor sich hin und sagte bedächtig:

"Selbstverständlich hat die arme Lia das Recht gehabt, ein Verhältnis mit wem sie wollte zu haben. Ob Bergführer oder Graf, das ist schließlich gleichgültig, wenn sie erotisch nur auf ihre Rechnung kam. Die Hauptsache ist, daß eine Frau den richtigen Instinkt hat. Witterung, das ist alles. Und daran scheint es bei Lia Leid gefehlt zu haben. Sonst wäre sie nicht auf einen Kerl hineingefallen, der sie in ein Zimmer geschleppt hat, nicht um sie zu besitzen, sondern um sie zu berauben."

Der engagierte Klavierspieler begann einen Tango Milonga zu spielen, die Paare schmiegten sich aneinander, ließen ihre Körper verschmelzen, vermählten ihre Schenkel und Hüften. Otto Demel, der ein vorzüglicher Tänzer war, glitt mit Regina Rosenow einher.

"Herr Egon Stirner ärgert sich. Ich bin ihm zuvorgekommen. Hübscher Mensch übrigens. Ich glaube, er ist im Begriff, mit Ihnen einen Flirt zu eröffnen. Gefällt er Ihnen?"

"Gefallen? Das wäre wohl nicht der richtige Ausdruck. Er interessiert mich. Er ist klug, beherrscht, strotzt von verhaltener Energie und nebenbei scheint er eine Bestie zu sein. Er hat Raubtieraugen, die manchesmal, wenn er einen durchdringend ansieht, aufleuchten, wie die einer Wildkatze."

Demel lachte kurz auf. "Mit einem Wort, Ihre Tugend ist in Gefahr?"

Regina ließ sich zurückführen.

"Tugend? Was ist das? Meinen Sie damit das ‚ich möcht‘ schon, aber ich trau‘ mich nicht‘ unserer Mütter? Nein, bei mir ist nichts in Gefahr, weil ich genau weiß, was ich will."

Graf Udo Waldeck erzählte, von jungen Damen umringt, einen Witz, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Während die Mädchen kicherten, pfui riefen und, die Verschämten spielend, dem ehemaligen Grafen die dekolletierten Rücken wandten, lachte Hilde Spitzer nervös auf. Auf ihren brennroten, üppigen Lippen bildete der Speichel kleine Bläschen, ihre Nasenflügel zuckten und heiser flüsterte sie dem Waldeck, dem man den Aristokraten auf hundert Schritte Entfernung ansah, zu:

"Erzählen Sie noch etwas!"

Udo Waldeck entkleidete mit kalten grauen Augen das Mädchen, ließ seine langen knochigen Finger über ihren nackten Arm gleiten:

"Ja, gerne, aber nicht hier, wenn alle die Gänse zuhören. Kommen Sie in eines der Partikuliers, wir werden dort eine Flasche Champagner trinken."

Wie hypnotisiert folgte ihm das Mädchen, das vor einem Jahr erst das Sacré Coeur verlassen hatte. – –

Egon Stirner schob seinen Stuhl dicht neben Regina Rosenow. Er sprach von der Einsamkeit seines Daseins. Seine Eltern habe er verloren, als er an der italienischen Front stand. Nach dem Umsturz sei auch noch seine Schwester an der Grippe gestorben. Er selbst habe sich wochenlang erhalten, indem er Zeitungen auf der Straße verkaufte. Tagsüber habe er Zeitungen kolportiert, in der Nacht Wechselrecht und Bankwesen studiert und schließlich eine Stellung bei der Mitteleuropäischen Kreditbank gefunden.

"Mein Papa sagte mir gestern, daß er Sie zu sich in das Sekretariat genommen habe. Damit ist ja Ihre Karriere gesichert."

"Jawohl, Ihr Herr Papa kann mich gut leiden, ich bin schon jetzt sozusagen seine rechte Hand. Überhaupt, ich kann mich nicht beklagen. Meine Börsenoperationen waren immer von Glück begünstigt – aber einsam bin ich, schrecklich einsam! Es fehlt mir ja nicht an dem, was man Glück bei Frauen nennt – aber was für Frauen sind das! Schauen Sie sich nur alle diese Frauen und Mädchen aus unserem Kreise an. Zu braven Hausfrauen bestimmt, wollen sie um jeden Preis verrucht und mondän sein. Wissen nichts, haben keinen eigenen Willen, Luxusgeschöpfchen, deren man nach dreimaligem Beisammensein überdrüssig wird. In der ersten Stunde des Alleinseins mit dem Manne haben sie sich restlos ausgegeben, in der zweiten eröffnen sie die Unterhaltung schon mit der Frage ‚Was gibt es Neues?‘ Und beim drittenmal kommt man sich, zwischen zwei zärtlichen Umarmungen, wie bei einem Jour der Frau von Pollak vor. Wo aber ist das Weib, das echte, triebhafte, geistvolle, launische und doch hingebungsvolle Weib, das jedes Beisammensein zum hohen Fest, jede Umarmung zum glühenden Erlebnis macht? Ich suche und suche, eile von Frau zu Frau – gefunden habe ich dieses Weib noch immer nicht."

Regina atmete tief auf, um dann zögernd zu fragen:

"Man erzählt, daß Sie mit Lia Leid gut standen? War das nicht die Frau nach Ihrem Geschmack?"

"Eine reizende, schöne Frau – mehr nicht. Übrigens hatte ich nicht das mindeste mit ihr zu tun, ein kleiner, eben begonnener Flirt, das war alles. Nein, auch Lia Leid war nicht die Frau, die mich hätte auf die Dauer fesseln können. Das müßte schon ein besonderes Wesen sein, wie etwa – –"

Stirner vollendete den Satz nicht, versenkte nur seine Augen in die des Mädchens, das jetzt aufsprang und spöttisch lachte:

"Eines mit recht, recht viel Geld vor allem, nicht wahr?"

Egon Stirner zeigte sich weder entrüstet noch gekränkt. Er trat so dicht vor Regina, daß sie seinen Atem fühlte, umfaßte sie zum "Java", der jetzt begonnen wurde, und sagte ruhig:

"Auch Geld müßte sie haben, viel Geld. Denn Geld und Lebenskultur, Lebenskultur und Luxus sind untrennbar, und beides brauche ich bis zur äußersten Möglichkeit."

Otto Demel und der von ihm eingeführte Herr Hort waren, scheinbar in ein Gespräch vertieft, hinter den beiden gestanden und hatten jedes Wort mitangehört. Als der Tanz beendet war, ging der Journalist, von Hort begleitet, auf Stirner zu.

"Wissen Sie schon, daß Sie Börsengespräch geworden sind? Man erzählt von enormen Ankäufen in Krieglacher Holz, die Sie vorgenommen haben. Die ganze Hausse in Holzwerten soll darauf zurückzuführen sein. Uberhaupt, Ihre Kühnheit wird bewundert. Der Kleiner vom Diskontoverein hat mir heute gesagt: ‚Dieser Egon Stirner ist der kommende Mann, vorausgesetzt, daß er sich nicht frühzeitig das Genick bricht.‘ Also, da ich gerne Billionäre zu meinen Freunden zähle, hoffe ich, daß Sie nicht sich, sondern einem Dutzend Baissiers das Genick brechen."

Stirner lächelte verbindlich.

"Man übertreibt natürlich. Ich habe allerdings einige Engagements gewagt, das ist alles. Ein Gräf-und-Stift-Auto, das ich leidenschaftlich gern haben möchte, trägt es vorläufig noch nicht."

Regina Rosenow war kein Wort entgangen. Und sie nahm sich vor, morgen mit Papa über diesen Egon Stirner, der ihre Sinne erregte, zu sprechen. Natürlich, sie konnte bessere Partien machen, ein deutscher ehemaliger Prinz und ein englischer Lord bemühten sich um sie, aber dieser Stirner – er war ein Mann, ein ganzer Mann. – –

Es war elf Uhr, und die Stimmung mehr als ausgelassen. Hätte ein Fremder den Saal betreten und alle die Mädchen beobachtet, die mit heißen Gesichtern, derangierten Kleidern und Haaren, in den Armen der jungen Männer lagen und sich der Erotik der Tänze bis zur Ekstase hingaben, hätte der Fremde die Gespräche mitangehört und gesehen, wie die Paare aus den verfinsterten Separees huschten, um anderen, schon wartenden Paaren Platz zu machen, dann würde er nicht geahnt haben, daß hier ausschließlich Mädchen aus reichen Häusern, junge Männer, die den Wiederaufbau des Staates besorgen sollten, beisammen waren.

Nur vier Nüchterne gab es im Saal. Demel, sein Begleiter Hort, der Bankbeamte Stirner und allenfalls noch Regina Rosenow, die aus Furcht vor sich selbst nicht allzuviel zu trinken wagte. Sie kannte sich und wußte, daß, wenn sie sich nicht hütete, ihre auflodernde Sinnlichkeit hemmungslos werden konnte. – –

Um Mitternacht begannen die Automobile vorzufahren, um die jungen Mädchen nach Hause zu bringen. Die kühle Nachtluft machte dem Sinnenrausch ein brutales Ende. Die Mädchenhände, die eben noch liebkost hatten und sich liebkosen hatten lassen, erwiderten kühl und nüchtern den Druck ihres Flirtes, Lippen blieben beim Abschiedskuß fest geschlossen, Rendezvous wurden verweigert, verschoben, nicht in der Junggesellenwohnung gewährt, sondern für Zikan vereinbart, Versprechungen achselzuckend zurückgenommen.

Morgen war Börsentag, noch dazu einer, der stürmisch werden konnte. Die Mehrzahl der Herren beschloß daher nach einem kurzen Kaffeehausbesuch nach Hause zu gehen. Man mußte den Kopf klar haben. Einige erinnerten sich, daß schließlich ihre Maitressen noch aufzusuchen wären, um das Werk der Demi-vierges zum Ende zu führen, eine Gruppe, unter ihnen Graf Waldeck, fuhr mit dem Auto nach der Melchiorgasse 56. Sigi Moskowitz erklärte, daß dort immer hübsche Mädchen zu treffen wären. "Neulich hat mir die Greifer sogar etwas von einer veritablen Jungfrau vorgefaselt, die demnächst zu ihren Klientinnen gehören würde."

Otto Demel ging mit dem von ihm eingeführten Herrn langsam und nachdenklich die Kärntnerstraße entlang. Der Journalist spuckte plötzlich aus.

"Pfui Teufel! Und da wagt man es, die armen Mädeln zu verachten und zu verfolgen, die ihren Körper verkaufen, weil sie das Geld brauchen, das ihnen schließlich diese Bande irgendwie stiehlt. Aber warum sich entrüsten? Schließlich sind diese Mädchen und Jünglinge doch nur Produkte ihrer Zeit, also unverantwortlich für sich und ihr Treiben. Und nun, lieber Horak, erzählen Sie mir, wozu ich Sie hier unter falschem Namen einführen mußte und was Sie eigentlich gegen diesen Egon Stirner haben."

Der Polizeibeamte Horak, dies war der angebliche Gutsbesitzerssohn Hort, ließ eine volle Minute vergehen, bevor er antwortete.

"Was ich gegen ihn habe? Viel und wenig und vor allem dasselbe wie Sie, Herr Redakteur! Nämlich einen Verdacht. Den Verdacht, der Mörder der Frau Lia Leid zu sein!"

Demel blieb stehen und erwiderte erregt:

"Jawohl, diesen Verdacht habe ich. Ich weiß nicht, wann und wie er in mir aufgekommen ist. Vor wenigen Tagen erst, als man erzählte, daß Stirner plötzlich unter die kühnsten Spekulanten gegangen sei, tauchte schrecklicher Verdacht in mir auf, sah ich seine kalten und doch schillernden Raubtieraugen vor mir, fühlte ich, daß von allen den Leuten, die sich um Lia herum bewegt hatten, er der einzige ist, dem ich einen Mord zutrauen würde. Und ich war durchaus nicht überrascht, als Sie mich baten, Sie in die Kreise, in denen auch er verkehrt, unter falscher Flagge einzuführen. Nun aber bitte ich Sie, mir alles zu sagen, was Sie wissen."

"Das will ich, nicht nur, weil ich Sie für einen Ehrenmann halte und sicher bin, daß Sie absolutes Stillschweigen bewahren werden, sondern auch aus egoistischen Motiven: ich brauche Sie nämlich! Aber ich möchte nicht hier auf der Straße sprechen. Beim Gehen wird man leicht laut und es könnte jemand, ohne daß wir es wissen, zuhören. Das Café ‚Habsburg‘ hat heute bis drei Uhr offen, suchen wir uns dort eine Nische."

Kleine Kokottchen, Bürgerfrauen mit ihren Männern, blasse, paarweise auftretende Jünglinge mit gebrannten Locken und grellen Krawatten, Kommis, die noch ein billiges Abenteuer erleben wollten, alte Herren, denen es nur mehr darauf ankam, ihren Augen eine Sinnesfreude zu bereiten, Balkanier auf der Durchreise, üppige Frauen, die bereit sind, vom Handel mit sich zum Handel mit anderen überzugehen, lärmende Musik, mißtrauische Kellner, Blumenmädchen und Hausierer mit Streichhölzern, die in den Taschen aber auch obszöne Bilder und pornographische Bücher haben, ein Gewimmel von Menschen aller Klassen und Rassen füllte das Café "Habsburg", in dem der Journalist und der Polizeibeamte nach langem Suchen einen Fenstertisch fanden.

Und nun erzählte Horak:

"Ich kannte Herrn Stirner nicht, hatte nicht den mindesten Anlaß, gerade gegen ihn einen Verdacht zu hegen. Erst von dem Augenblick an, da ich das Zimmer der Frau Lia Leid durchsuchte, begann ich mich mit ihm zu beschäftigen. Im Schreibtisch fand ich keinerlei Anhaltspunkte. Um so stärkere aber auf dem Telephonapparat neben dem Diwan der Frau Leid. Die kleine Steinplatte auf dem Apparat war mit Ziffern vollgekritzelt. Sie wissen es ja selbst, daß man, wenn man mit dem Hörrohr in der Hand wartet, unwillkürlich die Nummer, die man eben braucht, vor sich hinzukritzeln pflegt. Mir fiel nun auf, daß die Zahl 98972 am häufigsten niedergeschrieben war und im Gegensatz zu den anderen Zahlen frisch und deutlich erschien. Ich notierte mir die lesbaren Zahlen und kontrollierte sie nachher. Alle bis auf 98972 waren unverdächtig, bezogen sich auf Schneiderateliers, Modistinnen, Kürschner, auf die Villa Rosenow, die Kanzlei des Doktor Leid. Die immer wiederkehrende Nummer 98972 aber auf die Mitteleuropäische Kreditbank, und zwar auf das Sekretariat dieser Bank.

Nun nahm ich mir die Liste der Gäste vor, die damals an dem Unglücksabend bei Rosenow erschienen waren. Es befanden sich unter ihnen vier Beamte der Bank: Vizepräsident Nagelstock, ein alter Herr von sechzig Jahren, Verwaltungsrat Doktor Pramer, ein kleiner Herr mit einem Höcker, der Prokurist Ludwig Winterfeld, ein dicker Herr mit einem enormen Bauch, nebenbei sechsfacher Vater, und Herr Egon Stirner. Als Liebhaber einer schönen Frau konnte natürlich nur Stirner in Betracht kommen, auf ihn konzentrierten sich nunmehr alle meine Beobachtungen.

Ich werde Ihnen alles sagen, was ich ermittelt habe.

Egon Stirner ist 33 Jahre alt und der Sohn eines verstorbenen Postbeamten. Auch seine Mutter lebt nicht mehr. Er selbst war in seiner Jugend ein Tunichtgut, ist noch vor Absolvierung des Gymnasiums nach Amerika ausgewandert, hat dann ruhelose Jahre in den Vereinigten Staaten, in Afrika und Australien verlebt. Kurz vor Beginn des Weltkrieges kam er nach Wien, rückte als gewöhnlicher Soldat ein, wurde aber bald wegen seiner Sprachkenntnisse dem Spionagedienst zugeteilt. Die letzten zwei Kriegsjahre verbrachte er in der Schweiz, soll dort mehr Spionage für Frankreich als für sein Vaterland betrieben haben. Man erzählt, daß er in Genf mit Vorliebe Deutsche über die Grenze gelockt und in die Hände der Franzosen gebracht habe. Nach Beendigung des Krieges kam er wieder nach Wien, schloß sich den Kommunisten an, rückte aber bald von ihnen ab und betrieb allerlei Geschäfte mit Schiebern und Ketten-händlern."

"Mit einem Wort, ein feiner Kerl," warf Demel ein.

"Jawohl, Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Im Jahre 1920 kam er bei der neugegründeten Mitteleuropäischen Kreditbank an, bei der er noch heute ist. Durch gute Manieren, Sprachkenntnisse und Fleiß kam er vorwärts. Seit drei Monaten sitzt er im Sekretariat, und diesem Umstand hat er seine persönliche Bekanntschaft mit dem Generaldirektor Rosenow und die Einladung in die Villa zu verdanken. Durch Rosenow hat er denn auch Lia Leid und deren Gatten kennen gelernt."

"Aus all dem ergibt sich aber noch immer kein Verdachtsmoment."

"Hören Sie nur weiter zu: Stirner hatte die ganzen Jahre ohne Deckung und mit wenig Glück an der Börse gespielt. Er war schließlich der eigenen Bank sogar eine nicht unbeträchtliche Summe schuldig, was ihm einen scharfen Verweis durch den Prokuristen eintrug.

Zwei Tage nach der Ermordung der Frau Leid hat Stirner seinen restlichen Urlaub von acht Tagen angetreten, und zwar ist er nach Italien gefahren. Angeblich nur nach Venedig, aber das muß nicht wahr sein. Nach seiner Rückkehr beglich er sein Konto bei seiner Bank, hinterlegte bei anderen Banken größere Summen und begann in großem Stil an der Börse zu arbeiten. Die Hausse in Holzwerten ist auf seine Ankäufe zurückzuführen, und würde er seine Engagements lösen, so müßte sich ein kolossaler Gewinn für ihn ergeben. Nach meinen Informationen hat er dies aber nicht getan, sondern sich weiter engagiert."

"Und was gedenken Sie nun zu tun?"

"Das weiß ich heute noch nicht. Es liegt gegen Egon Stirner kein positives Verdachtsrnoment vor, nicht ein Argument, das einen Schritt gegen ihn rechtfertigen würde. Ich habe die Überzeugung, daß Stirner mit den geraubten Perlen und Juwelen nach Italien gefahren ist, um die Beute dort zu verkaufen. Wie aber soll ich ihm das nachweisen? In Italien seine Spur suchen? Leichter noch läßt sich in einem Heuhaufen eine Stecknadel finden. Hat man die italienische Grenze überschritten, so kann man sich, ohne behelligt zu werden, unter einem beliebigen Namen im Hotel einquartieren. Stirner spricht perfekt italienisch, niemand wird dort in ihm einen Wiener vermutet haben. In Venedig, in Mailand, Genua gibt es Dutzende von Händlern, die gestohlene Juwelen und Perlen ankaufen und ins Ausland verschleppen. Wer weiß, vielleicht befinden sich heute die herrlichen Perlen schon in London oder New York. Wenn es nach den beliebten Kriminalromanen ginge, so würde ich ja irgendwo in Venedig in einer düsteren Gasse bei einem weißbärtigen Hehler eine Spur finden. Aber es handelt sich eben nicht um Romane, sondern um das wahre Leben, und die Hehler haben ihre Laden nicht in düsteren Gassen und keine weißen Bärte, sondern sind elegante, mit allen Salben geschmierte Gentlemen. Nein, vorläufig rühre ich mich von Wien nicht weg, sondern hefte mich an Stirner, wie sein Schatten. Hier, in Wien, wo der Mord geschehen ist, muß ich Beweise dafür finden, daß er der Mörder ist. Und sie, Herr Redakteur, sollen mir dabei helfen, indem Sie mich immer wieder in die Kreise einführen, in denen Stirner verkehrt."


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