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Jane Fersen, die Tochter eines schwedischen Kammerherrn und Braut eines in Tokio beschäftigten schwedischen Gesandtschaftsrats, war nach Paris gekommen, um sich im Gebrauch der französischen Sprache zu vervollkommnen. Man sagte ihrem zukünftigen Gatten eine hervorragende Laufbahn voraus. Nicht weil er besonders fähig gewesen wäre: sondern weil er sich Beziehungen zu schaffen und auszunutzen wußte.
Jane, mit der ich mich sehr befreundet hatte, zeigte mit eines Tages sein Bild. Ich sah sie an.
– Sie sagen gar nichts? fragte sie ruhig.
– Was soll ich sagen?
– Sie konnten kein vernichtenderes Urteil fällen.
– Wieso vernichtend? Was kann Ihnen daran liegen, wie dieses Bild auf mich wirkt? Sie haben doch zu wählen gehabt, nicht ich …
– Ich hatte weder zu wählen noch zu entscheiden …
– Was soll das heißen?
– Dieser Mann ist mir ganz einfach bestimmt worden. Es ist nichts gegen ihn einzuwenden … Er ist hübsch, elegant, gebildet, geschmeidig im Beruf. Er hat kein besonderes Appeal, aber er wirkt körperlich angenehm. Ich habe niemals eine welterschütternde Liebe für irgend jemanden gehabt. Warum sollte ich mit Arthur Södenstierna nicht in einer guten Ehe leben können?
– Ja, natürlich, warum nicht …
– Sie sind widerwärtig …
– Warum fragen Sie mich denn? Es scheint Ihnen doch an meiner Meinung etwas gelegen zu sein.
– Es wäre mir an einer Bestätigung meiner Auffassung etwas gelegen gewesen.
– Ich habe sie Ihnen ja gegeben …
– Das genaue Gegenteil haben Sie getan …
– Also lassen Sie sich meine Antwort im Kopf herumgehen … Sie wissen, daß ich Sie sehr verehre und sehr lieb habe. Ich könnte Ihr Vater sein. Sie sind sage und schreibe zwanzig Jahre alt. Sagten Sie mir das, was Sie mir gesagt haben, nach einer großen Erschütterung, nach dem Zusammenbruch einer großen Liebe, die vielleicht Ihr ganzes Schicksal in Frage gestellt hätte, so würde ich vielleicht weniger besorgt um Sie sein …
– Meinen Sie denn, ich glaubte, daß die Ehe eine Frau von dem Erlebnis einer solchen großen Erschütterung ausschließen solle?
– Nein. Aber die Ehe würde doch dadurch wohl sehr gefährdet … die Folgen wären unberechenbar.
– Was ist nicht unberechenbar? sagte Jane, die Augenbrauen hochziehend und vor sich hinstarrend …
Ich trat vor sie:
– Jane: Was hat Ihnen Paris angetan?
– Was es allen antut, die mein Leben führen: am Tage im Hörsaal und am Abend auf Bällen und Festen … Es hat mir eine Unzahl von Vergleichsmöglichkeiten und gefährlichen Witterungen gegeben.
– Welche Witterungen?
– Was ein Mann – als Mann – sein kann, und wie er es sein kann …
– Sind Sie Ihrem – »Fall« begegnet?
– Wenn ich es doch wäre! Ich bin hundert Nuancen meines »Falles« begegnet, die fünfzig verschiedenen Männern angehörten.
– Ja … Das eben ist Paris vom Umkreis der Feste und Bälle aus gesehen … und zwar: von einer Nicht-Pariserin.
– Wie soll das weiter gehen? Sie wissen, wie man mir den Hof macht … Sie wissen, wie man sich in Gott weiß was für Kreisen um meine Blondheit reißt – meinen Sie, daß mich nur ein einziges Mal der Flirt, geschweige denn das Abenteuer, gelockt hätte? Nur in Gedanken gelockt hätte? Nicht einmal mit Gérard La Place, dem doch die Frauen verfallen wie einem Halbgott … Und wie hat er sich mir aufgeschlossen! Wie ehrlich, wie rührend hilflos war, was er mir über die Leere seines Lebens gesagt hat. Das Letzte, das Entscheidende fehlt diesen Männern von Welt. Sie sind »des relativismes ambulants« wie neulich die entzückende Liliane de Thouars zu mir sagte …
– Aber sie hat zugefügt: »avec de bien rares éclaricies d'absolutisme …«
– Na … ich habe von diesen seltenen »Lichtungen des Absoluten« noch nichts gespürt …
– Sie können sich Zeit lassen …
– Es hätte nun gerade noch gefehlt, daß Sie zu mir sagten: wait and see … Dann wären Sie diese Unterhaltung auf die zeitgemäßeste Art und Weise losgeworden …
– Ich habe weder Ihre Bitterkeit noch Ihren Spott verdient. Unmögliche Fragestellungen gebären unmögliche Antworten. Ich sage Ihnen allen Ernstes: wait and see. Wenn Sie aber glauben, »gesehen« das heißt in diesem Falle »gespürt« zu haben: dann vergessen Sie bitte nicht, wem sie sich anvertrauen können …
Jane war gerade in die kleine Küche neben dem Atelier gegangen, das sie am Boulevard Saint-Germain bewohnte, um Tee zu machen, als Liliane de Thouars eintrat.
– Das trifft sich ja ausgezeichnet, sagte sie zu mir, und erspart mir langes Telephonieren. Ich habe für Freitag abend auf eigene Faust die Parkettloge zu acht Plätzen im »Théâtre du Peuple« gemietet. Es wird ein unerhörtes Stück gespielt, das wir uns ansehen müssen: »Les Mystères de la Palmeraie« … Anscheinend eine nicht zu schildernde Verulkung der Bourgeoisie in unseren Kolonien … Sie kommen natürlich beide mit. Mit meinem Mann sind wir vier, mit La Place fünf, mit dem Ehepaar Greven sieben, und mit Georges de la Tailhède acht. Wir essen alle vorher zusammen bei Poulis. Einverstanden?
– Und wie einverstanden! rief ich.
– »Théâtre du Peuple«? fragte Jane, was ist das?
– Das ist jenes bezaubernde Volkstheater in Montrouge, in das Anna Greven seither ein ihrer Obhut anvertrautes »junges Mädchen« nicht mitnehmen wollte.
– Ach ja, ich entsinne mich. Wollen Sie diese Verantwortung übernehmen, Liliane?
– Dreimal! Wenn unsere Gesellschaft Schaden nehmen sollte an etwas, worüber sich das prachtvolle Pariser Volk krank lacht: dann wären wir alle, die »jungen Mädchen« einbegriffen, zum sofortigen Untergange reif.
– Das scheint mir auch, sagte ich. Sie haben wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen …
– Haben Sie gute Nachrichten von Arthur? wandte sich Liliane an Jane.
– Sehr gute. Er scheint an dem neuen Handelsvertrag beträchtlichen Anteil zu haben. Nur meint er, schwerlich vor einem Jahre nach Europa kommen zu können …
– In solche Dinge darf eine Frau nicht hineinreden … Ein Mann darf einem niemals sagen können, daß man Notwendigkeiten seiner Laufbahn durchkreuzt habe. Das Gegenteil muß der Fall sein. Das ist oberstes Gesetz für die Gattin eines Diplomaten oder eines Politikers. Ja sogar schon für die Braut.
– Liliane: Sie sind wirklich das rationale Frankreich in Person …
– Weit gefehlt, mein Lieber. Ich bemühe mich nur, der gesunde Menschenverstand zu sein.
– Hatten Sie bei anderen Menschen viel Erfolg mit diesen Bemühungen? fragte Jane, während sie Tee eingoß.
– Ich weiß nicht. Aber jedenfalls bei mir selbst. Und das ist doch wohl das Wichtigste. Oder sind Sie etwa anderer Ansicht?
– Nein. Aber ich glaube, Henry hat kein unbedingtes Zutrauen zu diesem »gesunden Menschenverstand« …
– Ich liebe ihn sehr und habe ihm immer ehrlich gedient. Ich finde nur, daß er – leider – nicht ausreicht, um einem Leben seine Richtung zu geben.
– Gewiß nicht, sagte Liliane ernst. Aber in neunzig Fällen von hundert verhindert er die – Entgleisung. Nicht die gesellschaftliche – was man so nennt – sondern eben die menschliche: was übrigens – machen wir uns nichts vor – manchmal das gleiche sein kann …
– Liebe Liliane, fragte Jane, während sie die Holzscheite im Kamin zurechtrückte: ist die ausgezeichnete und vorbildliche Ehe, die Sie führen, auch ein Ergebnis des gesunden Menschenverstandes?
– Und wie! Plus Zuneigung als Voraussetzung.
– Und die Liebe?
– Ist ein Begriff, mein liebes Kind, den sich jeder Mensch auf einen besonderen Nenner schreiben muß. Man sollte sich selbst und anderen gegenüber mit diesem Worte sehr vorsichtig sein …
Jane schaute durch den dünnen Vorhang vor dem gewaltigen Fenster in das Sinken des Oktoberabends. Um den Glockenturm von Saint-Germain des Prés wob rötliche Dämmerung. In den Fenstern der gegenüberliegenden Häuserfronten blinkten langsam die Lampen auf. Liliane stellte mir mit den Augen eine Frage …
Ich zuckte die Achseln …
Jane kam an das Feuer zurück.
– Ist es übrigens wahr, fragte sie unvermittelt, daß diese ungarische Gräfin – Gott, wie heißt sie doch, Bölös oder so ähnlich – die wir neulich noch bei Anna Greven trafen, mit ihrem Chauffeur auf und davon ist?
– Mein Gott, rief Liliane fast erbost, daß man uns doch endlich einmal mit den Geschmacklosigkeiten dieser Mänade verschonte! Mag sie sich zum Teufel scheren mit ihrem Chauffeur – was geht sie uns noch an, wenn sie sich freiwillig aus unserem Rahmen entfernt? Der Rahmen verpflichtet. An diesen Gemeinplatz sollte man wirklich nicht mit Passionen rühren. Passionen werden – coûte que coûte – innerhalb dieses Rahmens ausgetragen. Und bedauernswert sind nur diejenigen, welche durch ein Mißgeschick bei dieser Austragung erwischt werden. Voilà tout. In diese Lage können wir alle kommen. Dann haben wir halt Pech gehabt – und müssen die Folgen mit Anstand tragen. Mit unserem Wert aber hat ein solches Pech nicht das geringste zu schaffen. Les droits de l'homme ne sont jamais les exhibitions des libertinages!
– Liliane, lachte ich, es ist doch ein Anwalt an Ihnen verloren gegangen! Denken Sie, wenn Sie bei einem Monstreprozeß, in den Talar gehüllt, vor der Rampe solche Auslassungen in den Gerichtssaal schleuderten!
– Dann hätten die Blätter der Linken ein gefundenes Fressen – – und die Blätter der Rechten würden behaupten, ich sanktioniere den heimlichen Ehebruch!
Das Telephon läutete. Jane sprach …
– Gérard La Place fragt an, ob wir alle bei ihm essen wollen. À l'improviste …
Liliane und ich waren am Abend vergeben.
– Sie müssen sich mit mir allein begnügen, sagte Jane.
Liliane nahm den Hörer:
– Sie haben Glück, mein Lieber. Ich mache Ihnen den Vorschlag, mit Jane in der Stadt zu essen, wenn Sie keine anderen Gäste haben, und danach tanzen zu gehen. Wir haben hier beinahe ein philosophisches Seminar abgehalten … Wie? … Aber es tut doch manchmal so wohl, Fragwürdigkeiten überzeugend zu formulieren, nicht wahr?
Es war für mich ein großes Vergnügen, den Eintritt Janes in das »Théâtre du peuple« zu beobachten. Obwohl man von ihr gewiß nicht behaupten konnte, daß sie an Voreingenommenheiten leide – in ihr war, im guten Sinne, das starke Freiheitsbewußtsein skandinavischer Frauen lebendig – blieb sie doch zunächst verblüfft. Was da die engen Reihen des Parketts füllte, die Reihen des ersten und zweiten Ranges, war wirklich Pariser Volk: junges Volk – und nur einige Logen waren von Leuten besetzt, welche, wie wir, den besonderen Reiz dieses Milieus begriffen hatten. Man hatte nicht nur das Schauspiel auf der Bühne zu sehen, sondern auch jenes andere, das im Zuschauerraum ablief.
Die Stücke, welche über diese Bretter gehen, sind, mehr oder minder, alle nach dem gleichen Rezept gemacht: Neben viel drastischem erotischem Beiwerk haben sie alle eine ausgesprochen sittliche Tendenz, der nach Möglichkeit eine patriotische Note beigemischt wird. Gefallene Mädchen werden aus den Händen skrupelloser Verführer gerettet und einem wohlgeordneten Leben zurückgewonnen … Der durch falsche Glücksbegriffe auf die Bahn des Verbrechens gelockte junge Mensch wird durch die uneigennützige Liebe einer mütterlichen Freundin zum rechtschaffenen Mitglied der französischen Gesellschaft zurückerhöht … Der betrügerische Bankier, der mit den blindlings anvertrauten Spargroschen jener Dummen, die nicht alle werden, den Luxus seiner ihn hintergehenden Mätressen bestreitet, wandert ins Zuchthaus … Der paragraphenreitende Richter erkennt in einer Angeklagten das Mädchen, das er vor vielen Jahren, als es von ihm schon ein Kind trug, heimlich verlassen hat, und wird zum reuigen Versorger ihres Alters und seines »prächtigen« Sohnes … Der durch Parteischiebereien zum Kriegsminister gewordene Ignorant wird von einem tapferen (einarmigen) General als Nulpe entlarvt und in seine Anonymität zurückverwiesen (unter Belassung seines Ruhegehaltes: denn er selbst ist ja nur Opfer des Systems) … Ein lungenkrankes Mädchen, das sich zur Abtreibung verleiten läßt, um dem Staate kein gebrechliches, zum Dienst mit der Waffe untaugliches Kind zu gebären, wird unter Absingung der Marseillaise freigesprochen … Ein Ausbeuter armer indochinesischer Kulis, der den Staat um Millionen betrügt und damit Frankreichs Ansehen in den Kolonien schädigt, geht zu jahrelanger Zwangsarbeit in den Dschungel … Immer triumphiert am Ende das Recht und immer sind, durch allerhand gezeigte Nuditäten, aufgestachelte Begehrlichkeiten und deutlich witterbare Vollzüge der liebenden Vereinigung die Sinne der Zuschauer so angeregt, daß an einer häuslichen Nachahmung des Gesehenen kein Zweifel bestehen kann. Die Zwischenakte werden durch die rührend hilflose Musik eines sechsköpfigen Orchesters ausgefüllt, und in der großen Pause verfügt sich das gesamte Publikum in die dem Theater benachbarten Bistrots, um sich an einer Fine, einem Bock oder einem Café nature zu erfrischen. Sogar Ping-Pong kann man in einem der Theatergesellschaft gehörenden Saal spielen – und es versteht sich von selbst, daß bei eben diesem Spiele allerhand Anknüpfungen stattfinden, deren manche dann ihrerseits wieder in einem Melodram enden, das würdig wäre, als Schauspiel über die Stätte seiner Geburt zu gehen.
An jenem Abend nun war das kleine Theater bis auf den letzten Platz ausverkauft. Dreiviertel des Publikums bestand aus Liebespaaren, woran die lockenden, bunten Plakate schuld waren. Viele junge Leute trugen schiefsitzende Casquetten und seidene Halstücher. Die Mädchen hatten ihr Bestes angezogen. Die Luft stand voll bläulichen Zigarettenrauches. Die Erwartung wies die Spannung vor einer Premiere auf.
Inhalt des Stückes: Der Kolonialminister hat von bösen Übelständen in der Oase Cococazzocón Kunde erhalten. Er beschließt, incognito diese Oase zu bereisen und sich mit eigenen Augen von der dort herrschenden Korruption zu überzeugen. Ein furchtbares Strafgericht erwartet die Schuldigen. Aber die Sache wird von einem in den Plan eingeweihten Rivalen des Ministers an den gefährdeten Steuereinnehmer verraten. Nicht genug. Da man die Schwäche des Kolonialministers für hübsche Tanzgirls kennt, wird schon vor seiner Abreise ein rasch zusammengestelltes Ballett nach Cococazzocón verfrachtet. Außerdem aber wird seiner Frau und einzigen Tochter bedeutet, sich doch heimlich ebenfalls dahin zu begeben, da der Minister gefährdet sei. Unnötig zu sagen, was sich nun abspielt. Die Ministersgattin verliebt sich in den betrügerischen Steuereinnehmer und »réalise son amour« – die Tochter hat die Qual, weil die Wahl zwischen einem Seeoffizier und einem Steward, den sie wegen seiner schönen Uniform ebenfalls für einen Offizier hält, – der Minister selbst aber ist von Liebe und Champagner so erschöpft, daß er den Zweck seiner Reise vergißt und unter der Wirkung von Haschisch in den Wahn versinkt, er verlebe seinen Urlaub in der Verzauberung der »Palmeraie« … Daß am Ende alles gut ausgeht, versteht sich von selbst. Die allgemeine Verzeihung ist endgültig – der Steuereinnehmer ersetzt die versehentlich beiseitegelegte Summe, die Tochter verlobt sich mit dem schönen Leutnant, nachdem sie, ebenfalls versehentlich, die Wonnen einer Wüstennacht mit dem noch schöneren Steward geteilt hat – und die Ehegatten finden beide, daß es doch sehr erfrischend sei, einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, der europäischen Verlogenheit entronnen zu sein. Die Ehre Frankreichs ist gerettet, und der Vorhang fällt unter dem auf die Melodie der »Wladimira« von allen Schuldig-Unschuldigen gesungenen Refrain:
Ivres de joie de vivre,
Coeurs que l'amour enivre …
So also war der Inhalt des Stückes, das uns an jenem Abend vorgespielt – nein, mit unwahrscheinlicher Lebendigkeit vorgelebt wurde …
Ich saß, zur Linken von Jane, auf dem Ecksessel der ersten Logenreihe. Die vier anderen Herren hatten die hinteren Sessel eingenommen. Seit Jahren hatte ich kein solches Zusammengehen von Schauspielern und Zuschauern gespürt. Diese fast körperlich fühlbare Einheit war es auch, welche die Darsteller zu ihren besten Leistungen anspornte … Das Stück drängte auf die große Pause zu … Gerade war der Steward in seinem blendend-weißen, mit Goldknöpfen besetzten Anzug dabei, im betörenden Dufte und schummrigen Zwielicht der Oasennacht mit der Tochter des Ministers zum Ziele zu kommen, als sich Janes Hand auf die meine legte.
Ihr Gesicht war blaß und erregt. Sie deutete auf ein Liebespaar, das unmittelbar vor der Rampe unserer Loge im etwas tiefer liegenden Parkett saß.
Ein junger Mann – vielleicht ein Arbeiter – der mir durch seine herrische, wenn nicht brutale Schönheit schon während des ersten Zwischenaktes aufgefallen war, hatte, halb betäubt durch die Seufzer und Saitenklänge, die von der Bühne herüberdrangen, ein schmächtiges, in seinen Armen fast zerbrechendes Mädchen auf seine Knie gezogen und ihm seinen Mund wie trinkend an die Gurgel gelegt … Das Mädchen hielt die Augen geschlossen. Sein Gesicht schien aufgezehrt von Glück – schien den Biß zu erwarten, der in das Nirwana des Paradieses hinüberführte …
Janes Finger zitterten. Der Mund des Mannes schien noch tiefer in das Fleisch des weißen Halses zu dringen …
– Aber sehen Sie doch, was er tut, sagte Jane plötzlich ganz laut auf französisch …
Niemand in der Loge achtete auf ihr Wort. Alle waren von den Vorgängen auf der Bühne hingenommen. Janes Bemerkung konnte genau so gut auf die Gesten des Stewards bezogen werden, der soeben die Tochter des Ministers genommen hatte, um sie auf ein Ruhebett hinter einem Gewirr von Lianen zu tragen …
Der junge Arbeiter aber hatte verstanden, daß diese Worte ihm galten …
Ganz langsam löste er seinen starken Mund von der Kehle seiner Freundin – und ganz langsam hob er seinen unerhörten Kopf gegen Jane nach rückwärts. Unbeweglich verharrte Jane – unfähig eine Bewegung zu machen oder sich aus dem Bann dieses sie aufzehrenden Gesichts, nein: Antlitzes ohne Herkunft noch Alter, zu lösen …
– Nique, sagte dann ganz leise, fast klagend, die Stimme des blassen Mädchens, Nique, wo bist du? Was tust du?
Nique atmete tief, lächelte – und wandte seinen Kopf gegen das arme, kleine Gesicht, als ob er über soviel Armut weinen müsse.
Jane saß noch immer regungslos, als der Vorhang fiel …
Als wir in der Pause einen Kognak nahmen und uns Zigaretten kauften, sah ich, daß Nique Jane, die ihr Taschentuch hatte fallen lassen, in diesem Taschentuch einen Zettel zuschob. Sie wußte, daß ich es gesehen hatte …
– Haben Sie keine Furcht, sagte sie auf dem Heimweg. Sobald ich es nötig finde zu sprechen, werde ich es tun. Unvorsichtigkeiten, die mich gefährden könnten, werde ich bestimmt nicht begehen. Ich werde genau wissen, was ich zu tun habe. Ich bin Jane Fersen.
Ich habe mich oft gewundert, warum ich mich wirklich nicht um Jane sorgte. Ich sah sie wenig in den beiden Wochen, welche dem Abend im »Théâtre du Peuple« folgten. Aber nach Ablauf dieser vierzehn Tage waren unsere Begegnungen wieder genau so häufig wie früher. Durch die Ballsäle dieses Winters ging Jane als eine große Siegerin. Sie war so schön, so sicher in ihrem Auftreten, so klar in der Ziehung der Grenzen um sich selbst, daß immer wieder die Frage auftauchte, was die Ursache dieses Wandels wohl sein möge. Es war selbstverständlich, daß man nach dem geheimnisvollen Mann suchte. Aber er war weder zu erraten, geschweige denn zu finden. Man wunderte sich, daß Jane im Januar weder in das Engadin noch in die Pyrenäen fuhr. Sie erwiderte, daß sie zum Arbeiten in Paris sei und ihre Kurse nicht einfach im Stich lassen könne. Man lächelte. Sie lächelte ebenfalls. Gegen Mitte Februar stellte ich fest, daß ihre Frische nachzulassen begann. Anfang März erzählte mir Liliane, sie beginne sich Sorgen um Jane zu machen, die manchmal von einer Minute zur anderen zusammenfalle – ob vielleicht in ihrer Beziehung zu Arthur Södenstierna etwas nicht in Ordnung sei? …
Ich konnte keine Auskunft geben.
Am ersten Aprilsonntag bat mich Jane, zu ihr zu kommen …
– Ich brauche Sie …
– Ich bin zu Ihrer Verfügung …
Wir setzten uns an das Feuer.
– Sie wissen alles, vermute ich?
– Das wäre zuviel behauptet. Ich ahne aber vielleicht das Richtige … Die Spule ist abgelaufen? Der Strom ist unterbrochen? Versiegt?
– Genau das ist es. Es geht jetzt nur noch um die Frage des anständigen äußeren Endes.
– Also – um Nique …
– Ja, um Nique …
– Wie liegen denn die Dinge bei ihm?
– Wenn ich mich nicht ganz außerordentlich irre, genau so wie bei mir. Nur weiß ich nicht, ob er sich das eingestehen will. Es gibt bei Menschen seiner Herkunft eine Art Kanon – einen höchst romanhaften, durch Generationen geheiligten Kanon – wie gewisse menschliche Beziehungen zu lösen seien. Das Volk liebt das Drama, die Szene. Ich weiß nicht, ob Nique sie liebt, obwohl er sehr »Volk« ist. Es käme darauf an, ihm klar zu machen, daß er sich als Herr, denn das ist er, und zwar in ganz bezaubernder Weise, dem Kanon der Frau zu fügen habe, die er, ohne Zweifel, geliebt hat wie nie eine andere zuvor …
– Lassen Sie mich ein paar Fragen stellen, Jane … Was arbeitet Nique?
– Er arbeitet als Mechaniker in den Maschinenwerkstätten der Compagnie du Nord.
– Wie kann er dann so gepflegte Hände haben?
– Er tut keine grobe Arbeit … Er wird für französische Verhältnisse sehr gut bezahlt und lebt mit seiner Mutter in der Avenue Trudaine Sein Vater war Zugführer, Die Frau hat also ihre Pension.
– Waren Sie jemals bei ihm in der Wohnung?
– Niemals.
– War er bei Ihnen?
– Niemals.
– Weiß er, wer Sie sind?
– Nein … Ich will Ihnen jede weitere Frage ersparen, die peinlich wäre … Ich habe ihn niemals in Paris getroffen … Ich habe einen Unterschlupf in Montmorency gefunden. Sie wissen: in diesem freundlichen Lande fragt man nicht … und vor einer liebenden Frau neigt sich jedes Herz. Müssen es denn immer die Nächte sein? Gibt es nicht die endlosen Nachmittage der Wintersonntage? Der Samstage? Dieser Junge hat mich geliebt, nachdem ich ihm gesagt hatte, daß er nicht wissen darf, wer ich bin. Ich habe ihm, indessen mir fast das Herz brach, gesagt, daß dies die Bedingung sei. Nicht um seinetwillen, sondern um meines Vaters willen. Er hat gelächelt – gewiß, ein wenig traurig – und hat mir den Kopf an die Schulter gelegt … »Eh bien, hat er gesagt, je vous nommerai tout simplement Amour«. Das gibt es, Henry. Das gibt es in Paris. Das gibt es bei einem Menschen, dem seine Kameraden den Namen »Mille-et-une-Nuits« beigelegt haben, weil die Frau nicht zu finden ist, die nicht mit ihm hätte schlafen wollen. Wäre ich für ihn auch nur eine von diesen Unzähligen gewesen: ja, dann wäre die Lösung leicht. Aber ich war alles und jedes, was nie eine von diesen anderen hätte sein können – und das könnte die Lösung zu einer Tragödie machen. Deswegen brauche ich Sie. Sie sind der einzige, der weiß. Sie sind der einzige, der weiter wissen wird. Nique muß unverwundet aus diesem Erlebnis herausgehen.
– Jane: was hat die Spule zum Ablaufen gebracht? Haben Sie gar keine Scheu, sprechen Sie ganz offen …
– Man kann bis zum Wahnsinn lieben, was man als das ebenbürtige und – vor allem – körperlich ebenbürtige Gegen-Element des eigenen Elementes empfindet: man kann jedoch nur solange lieben, als das Drum und Dran der äußeren Lebensumstände, der sogenannten Gepflogenheiten, sich nicht wie Rost an dieses Elementare anfrißt … In welcher Beziehung aber, und wenn sie auf noch so außergewöhnlicher Höhe beginnt, müßte es schließlich nicht dahin kommen? Was für mich gilt, das gilt natürlich auch für Nique. Gerade daß ich dies erwittert habe, gibt mir die Hoffnung, Sie könnten Nique auf diese Fährte bringen und ihm den Verzicht auf mich leicht machen. Um »Abschied« handelt es sich ja gar nicht: es handelt sich ja nur um die – wie soll ich sagen? – um die Reinhaltung dessen, was war …
Ich stand auf und ging durch das Zimmer.
– Was haben Sie? fragte Jane …
– Jane: ich habe viel erlebt, und man hat viel Erlebnis an mich herangetragen. Ich kann es nicht fassen, daß fünf Monate naturhaften Erlebens aus einer Frau das machen können, was aus Ihnen geworden ist. Ich kann es nicht fassen …
– Und doch ist es Wahrheit. Mir ist ein beispielloses Glück widerfahren. Es kann mir nichts mehr geschehen. Ich habe das Wunder erlebt … in der süßesten und vollkommensten Form, die möglich ist. Ich habe erkennen gelernt, daß das Wunder nicht dauern kann, ohne entzaubert zu werden – und ich werde nie mehr auf das Wunder warten. Ich werde tun, was sich für mich an dem mir zugewiesenen Platz und keinem anderen gehört. Die Ehe mit Arthur wird, weder für ihn, noch für mich, ein Versuch des Unmöglichen werden … Aber ich habe von Frauen, die es wissen müssen, sagen hören, daß Ehen Entfaltungsmöglichkeiten des einen Teiles durch den anderen einschließen, die zu einer großen, wenn auch anderen Liebe zu führen vermögen.
– Es muß wohl so sein.
Jane hatte in ihrem Stuhl langsam zu schaukeln begonnen …
– Wenn die sogenannten »Männer von Welt« wüßten, was sie nicht sind – und was ein Mann sein kann! Ich habe nie geahnt, welches Unmaß von Zartheit die Seele des einfachen Mannes ausfüllt … und wie er diese Zartheit auszudrücken weiß …
Ich überließ Jane ihren Träumen. Es hätte keinen Sinn gehabt, in neue Erwägungen einzutreten. Es hatte nur noch Sinn, mit Nique sehr bald in ein Gespräch zu kommen …
– Ich werde mit ihm Tag und Stunde ausmachen, sagte Jane. Am nächsten Sonntag sehen wir uns in Montmorency … Er ist jeden Tag um fünf Uhr frei. Es wird das beste sein, Sie holen ihn in seiner Wohnung ab …
– Ja, das wird das beste sein.
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Dieses Gespräch mit Nique fand niemals statt. Die Morgenblätter des Samstag brachten in großer Aufmachung folgende Nachricht:
EIFERSUCHTSTRAGÖDIE
BEIM AUSGANG DES CASINO DE PARIS
Ein krankes junges Mädchen erschießt seinen angeblichen Freund, während es die verhaßte Nebenbuhlerin treffen wollte.
Dominique Vannier, ein durch seine Tüchtigkeit bekannter Eisenbahnmechaniker der Compagnie du Nord ist am Freitagabend kurz vor Mitternacht das Opfer weiblicher Eifersucht geworden. Er war durch seine außergewöhnliche Schönheit schon seit frühster Jugend die Zielscheibe weiblicher Begehrlichkeit gewesen. Nicht umsonst hatten seine Kameraden, die ihn ohne Unterschied liebten und seiner anständigen Gesinnung ein glänzendes Zeugnis ausstellten, ihm den Namen »Nique-Mille-et-une-Nuits« (Nique-Tausend-und-eine-Nacht) gegeben. Wir haben kein Recht, einem Mann darüber Vorwürfe zu machen, daß er zugreift, wenn sich ihm so viele Gelegenheiten bieten. Sicher ist jedenfalls, daß Herr Vannier niemandem jemals Heiratsversprechungen gemacht hat. Seit einem Jahr hatte sich Marguerite Marousseau, Inhaberin einer Bügelei in der rue de Dunkerque, offenbar Hoffnung darauf gemacht, die Ehegattin des nun von ihr Erschossenen zu werden. Sie wird uns geschildert als ein noch vor kurzem sehr hübsches, graziöses und geistreiches Geschöpf, das dem schönen Mechaniker vollkommen hörig gewesen sei. Daß eine Beziehung bestanden hat, ist über jeden Zweifel erhaben. Ebenso jedoch, daß Fräulein Marousseau genau darüber Bescheid wußte, wie die Frauen Dominique Vannier nachstellten und wie wenig er sich bitten ließ. Ihr besonderer Haß scheint nun auf eine Dame der hohen Pariser Gesellschaft gefallen zu sein, mit der »Nique-Mille-et-une-Nuits« seit etwa Oktober letzten Jahres eine offenbar sehr leidenschaftliche Beziehung unterhalten hat. Diese Dame – eine nicht mehr ganz junge Brasilianerin – hatte nun für Freitagabend ihren Freund zu einem Besuch der Revue des Casino de Paris eingeladen. Wieso die Büglerin von dieser Tatsache Kenntnis erhalten hat, ist noch nicht festgestellt. Jedenfalls hat sie dem Paar vor dem Gebäude des Casino de Paris aufgelauert und den verhängnisvollen Schuß in dem Augenblick abgegeben, als die Brasilianerin, von Herrn Vannier geleitet, ihr Automobil besteigen wollte. Statt ihrer wurde Herr Vannier so unglücklich getroffen, daß er auf der Stelle tot blieb. Die Täterin ließ sich ohne Widerstand verhaften. Sie ist seit längerem herzleidend. Man kann ihr aufrichtiges Mitleid nicht versagen, denn es liegt auf der Hand, daß sie um den von ihr unfreiwillig Getöteten qualvoll gelitten hat …
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Ich saß neben Janes Bett. Zwei Tage und zwei Nächte hatte ich bei ihr Wache gehalten. Jetzt erst, spät am Montagabend, kam sie ganz zu sich. Sie richtete sich in den Kissen auf:
– Nun bin ich auch mit dem Letzten im reinen, sagte sie … sofern ich den Kummer beiseitestelle, den dieser Tod in mir läßt. Bestätigen Sie mir, daß ich richtig sehe, richtig fühle: Und wenn da – gleichzeitig mit mir noch zehn Frauen gewesen wären: in was könnte das den Sinn meiner Beziehungen zu Nique berühren?
– Liebe Jane: nun haben Sie die wichtigste Reise angetreten. Heute abend werde ich Sie der Obhut der Krankenschwester überlassen, wenn sie um zehn Uhr kommt, und schlafen gehen … Der Sinn der Dinge bedeutet nicht die Dinge selbst. Vergessen Sie nie, daß Ihnen durch Nique die Gnade widerfahren ist … Und tun Sie alles Gute, daß Sie ihm bestimmt auch nach der Trennung noch getan hätten, dem armen, verstörten Geiste dieser kleinen Büglerin …