Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich gehe manchmal einen ganzen Tag lang aufs Geratewohl in Paris spazieren. Von keinem einzigen dieser Gänge bin ich ohne Ernte zurückgekommen. Die Stadt ist um so unerschöpflicher, um so überraschender, je länger man sie kennt.
Eines Sonntagabends – es war Ende August – hatte ich meine einsame Wanderung auf der Place de la Bastille beendet, an jener Ecke, wo das »Café du Tambour« liegt. Die Luft stäubte in Gold und Lila um bewegte Baumkronen, Familien kamen von ihren Ausflügen zurück, Luftballons waren an den Verdecken der Kinderwagen angebunden, die Schaubuden des Jahrmarktes, welcher gerade in diesem Viertel abgehalten wurde, ließen ihre Lampen aufglänzen, die ersten Liebespaare bestiegen die Schaukeln der Karusselle …
Ich war vor einer Roulette stehen geblieben und begann zu spielen. Drei Farben gab es zum Wählen: grün, gelb, rot. Ich warf das 25 Centimesstück zehnmal hintereinander in den Spalt »grün« – und gewann sechsmal 50 und viermal 75 Centimes: also 4,50 Franken, den Einsatz abgerechnet.
Da sagte eine klare, den hellen Pariser Akzent bewußt unterstreichende Stimme hinter mir:
– O là là! Wie ich Sie beklage! Wer soviel Glück im Spiel hat, muß wenig Glück in der Liebe haben.
Gelächter der vielen Neugierigen, welche immer den Hazardspieler umstehen, folgte dem Wort. Ich wandte mich um. Der Begutachter war ein schöner junger Mensch von vielleicht neunzehn Jahren: kleinbürgerlich, anständig, hell im Hirn, witzig, seiner »Klappe« unbedingt sicher – aber in sich selbst unsicher, als ich ihm nun fragend in die klugen Augen sah, die unter scharfgezogenen dunklen Brauen standen.
– Meinen Sie? sagte ich schließlich …
– Das Sprichwort meint, lächelte er. Aber das Lächeln war nicht ganz echt. Es war ihm unangenehm, daß er »markiert« hatte, was er nicht war.
– Würden Sie einmal für mich spielen? fragte er nun, um sich aus der Klemme zu ziehen … Ich habe niemals Glück im Spiel …
– Also haben Sie – immer nach dem Sprichwort – viel Glück in der Liebe?
Nun hatte ich die Lacher auf meiner Seite.
– Allons, Gérard, rief einer, on te le donne …
Der Kleine achtete nicht auf den Zuruf. Er hielt mir sechs 25 Centimesstücke hin.
– Und wenn ich nun verliere?
– Dann ist das Geld halt zum Teufel …
– Welche Farbe wollen Sie?
– Das müssen Sie bestimmen.
– Gut.
Ich spielte grün, grün, rot, gelb, gelb, rot – und gewann sechsmal fünfzig Centimes, also 1,50 Franken, den Einsatz abgerechnet.
– Lassen Sie mich Ihr System wissen, rief einer. In einem Jahr bin ich Millionär …
– Darf ich Sie zu einem Glas Kaffee am Zink einladen? fragte der Junge.
– Sie sind ein Kavalier, sagte ich.
– Vous croyez? Et pourquoi pas?
– Ja eben: pourquoi pas?
– Merci! Vous acceptez?
– Oui, j'accepte, et avec le plus grand plaisir …
Wir gingen gegen das »Café du Tambour«.
– Hören Sie, überlegte ich, ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Sie laden mich für später zum Kaffee ein, und ich Sie vorher zum Abendessen. Was meinen Sie dazu?
Gérard errötete bis über die Stirn:
– Zum Abendessen? Sie – mich? Wieso?
– Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Ich war den ganzen Tag über allein. Ich möchte nicht allein essen. Da Sie mir gefallen, können Sie mir Gesellschaft leisten, wenn Sie wollen. Und wenn Sie nach dem schwarzen Kaffee genug von mir haben, können Sie ohne das kleinste Gefühl einer Verpflichtung Ihrer Wege gehen.
Wir waren während der Unterhaltung gegen die Mitte des Bastilleplatzes gegangen. Gérard hatte seinen braunen Hut vom Kopf genommen und drehte ihn nun zwischen den Händen.
– Wo wollen Sie essen? fragte er zögernd, äußerst unsicher, und geflissentlich darauf bedacht, sich keine Blöße zu geben.
– In einem altmodischen Restaurant am Boulevard Rochechouart, gegenüber vom Collège Rollin. Wir nehmen jetzt den Métro und fahren über Barbès hinauf. Ich habe Hunger …
– Ich auch … Ich wollte gerade zum Essen nach Hause fahren … Zu den Eltern …
– Wo wohnen denn Ihre Eltern?
– In der Avenue Gambetta, im Zwanzigsten. Mein Vater ist Schreiner. Ich übrigens auch. Mein älterer Bruder ist Zimmermann. Wir wollen uns später einmal zusammentun …
– Sind die Eltern noch jung?
– Jawohl. Der Vater ist vierundvierzig, die Mutter vierzig.
– Lebt Ihr gut zusammen in der Familie?
– Gut, jawohl! Aber streng … Sie verstehen? Mit dem Vater habe ich augenblicklich Krach. Wegen der Braut …
– Was? Wegen der Braut? Ein Junge in Ihrem Alter redet von »Braut«?
– Das Mädchen ist hübsch und hat Geld. Wenn ich es mir nicht warm halte, schnappt es mir ein anderer weg. Nächstes Jahr muß ich dienen. Und wenn ich heimkomme, wird geheiratet. Mein Bruder heiratet in vierzehn Tagen in ein großes Zimmermanngeschäft ein. Tiptop, sage ich Ihnen – einzige Tochter und ein sauberes Vermögen …
– Was hat denn Ihr Vater gegen die Braut?
– Ihre Mutter ist nichts wert … Was kann das arme Ding zu seiner Mutter?
– Ist das Mädchen vielleicht auch leichtsinnig?
– Man behauptet es. Ich weiß von nichts.
– Lieben Sie denn diese Kleine sehr?
– Lieben. Mon Dieu, peut-être. Was heißt »lieben«? Sie hat jedenfalls nicht Nein gesagt.
Wir standen vor dem Eingang des Métro.
– Ich möchte nicht mitkommen, sagte der Junge, zögernd.
– Warum denn plötzlich nicht?
– Glatt herausgesagt: ich weiß nicht, wie man sich in einem solchen Restaurant benimmt. Ich weiß nicht, wie man sich beim Essen anzustellen hat.
– Wenn ich alles erwartet hätte, sagte ich, ihm die Hand auf die Schulter legend, eine solche Antwort hätte ich von Ihnen nicht erwartet! Sie brauchen mir doch nur alles nachzumachen.
– Stimmt. Sie sehen, wie dumm ich bin.
– Bleiben Sie ruhig genau so dumm, wie Sie sind. Es steht Ihnen gut – und wird Ihnen Glück bringen. Übrigens: glauben Sie nur nicht, wir gehen in ein elegantes Lokal. Wir gehen zum Père Grivelle, wo die Bürger von Montmartre am Sonntag zu Nacht essen. Gut, nicht teuer und gemütlich. Und unseren Kaffee trinken wir später auf der Terrasse von Lutrin.
Als sich der Métro schon in Bewegung gesetzt hatte, sagte Gèrard:
– Wissen Sie: meine Mutter predigt mir jeden Tag, ich solle da bleiben, wo ich hingehöre.
– Ich würde Ihnen nie etwas anderes sagen. Ihre Mutter ist ohne Zweifel eine kluge und erfahrene Frau.
Gérard sah mich einen Augenblick lang aus weitgeöffneten Augen an. Zweifel, die er noch gehegt hatte, schienen nun zu schwinden. Dann blickte er auf die Streckentafel, die an der Decke des Wagens aufgehängt war, als ob er noch niemals die Namen der Haltestellen gelesen hätte. In seinen Zügen war jene Trauer erwacht, die weder mit dem Wissen noch mit dem Nichtwissen um die Dinge etwas zu tun hat, jene verräterische Trauer, mit welcher – unwollend – die ewig wache Angst der Mütter ihre gefährdeten Söhne umkleidet. Ich hatte, gelangweilt, meines Alleinseins müde, einen Pariser Sommerabend um die Ohren schlagen wollen – – und war in die Falle einer doppelten Verantwortung geraten.
Sein eigenes Leben und das Leben seiner Familie hatte mir Gérard während des Abendessens erzählt. Gérard, der naseweise Pariser »Schwadronneur«, dem das gescheite Mundwerk wie eine Mühle neben dem Wesen herlief – Gérard, der kleine Schreiner mit einer fragwürdigen Braut, dessen Herz noch ohne Erlebnis war, zerdehnt nur von der Sehnsucht nach Erlebnis, und doch schon umdämmert von dem Vorgefühl, es lohne sich vielleicht gar nicht, allzusehr hinter den »Erlebnissen« herzusein.
– Ja, sagte er abschließend, nun wissen Sie, wie die Dinge liegen, und werden wahrscheinlich finden, daß Sie das alles ja gar nichts angeht. Wozu ich Ihnen diese ganze Geschichte erzählt habe, ist mir nicht recht klar. Es geschieht übrigens – ich kann Ihnen darauf mein Ehrenwort geben – zum erstenmal, daß ich mich einem Unbekannten eröffne. Ich schäme mich eigentlich über meine Vertrauensseligkeit – aber es hat mir wohlgetan, zu Ihnen zu sprechen.
– Das freut mich. Wenn Sie je das Bedürfnis verspüren, sich anzuvertrauen, so wenden Sie sich an mich.
Gérard stellte das Weinglas, das er schon gegen die Lippen gehoben hatte, auf den Tisch zurück:
– Wie? Sie werden nicht in einer halben Stunde in der Menge auf dem Boulevard verschwinden, nachdem Sie mich auf Nimmerwiedersehn nach Hause geschickt haben?
– Nein. Das werde ich bestimmt nicht tun.
– Aber so sagen Sie mir doch nur, was Ihnen an mir liegen kann.
– Die Frage ist falsch gestellt. Als ich Sie, aus einer Sonntagabendlaune heraus, bat, mit mir zu essen, waren Sie mir völlig gleichgültig. Nur Ihr Pariser Mundwerk hatte mir Spaß gemacht. Als ich erkannte, daß dieses Mundwerk nicht Ihrem Wesen entspricht, wurde ich neugierig. Und nun, da meine Neugierde befriedigt ist, finde ich, daß man Sie nicht aus dem Auge verlieren sollte. Sie müssen, wie Ihre Mutter ganz richtig gesagt hat, zwar da bleiben, wo Sie »hingehören«: aber Sie müssen sich – im Schutz Ihres Mundwerks, verstehen Sie, im Schutz? – so entwickeln, wie Sie wirklich sind. Sie dürfen nicht glauben, das Achselzucken der Kabarettphilosophen oder die fatalistische Melancholie der Schmarren, welche die Lély oder die Brantoque oder die Mouche uns vorsingen, seien das Letzte, was über dieses Leben zu sagen wäre. Sie müssen sich einmal darauf besinnen, was eigentlich Ihr geheimster Wunsch ist. Wir alle haben einen solchen: und an ihm erkennen wir am sichersten, wer wir sind und was überhaupt mit uns los ist.
Gérard schwieg. Er schaute durch die offne Tür in die Menge, die unter den Bäumen gegen die Place Pigalle hinstrebte. Plötzlich sagte er fast laut:
– Ich möchte der Sohn eines Großindustriellen sein, meinen Wagen haben, viel arbeiten, für das Geschäft reisen, mir dann und wann ein schönes Wochenende mit einer hübschen Kleinen in Nizza oder Biarritz gönnen dürfen, ich möchte mir einen guten Platz im Theater leisten können, schöne Bücher kaufen, im Bois Tennis spielen und tanzen, bei einem guten Schneider arbeiten lassen – und beim besten Schuster. Ich liebe schöne Schuhe. Sage mir, welche Schuhe du trägst, und ich sage dir, wer du bist.
– Wenn dies alles Ihre Wünsche sind, Gérard, dann müssen Sie Ihr Leben so einrichten, daß diese Wünsche eines Tages wenigstens zum Teil verwirklicht werden können. Sie müssen Kapital beschaffen, eine Großschreinerei auf die Beine stellen, Tag und Nacht hinter Ihrem Ziel wie ein Besessener her sein, sich diesem Ziel opfern und niemals auch nur eine Minute lang glauben, daß einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Glauben Sie, daß Sie eine solche Willensstärke und Zähigkeit aufbrächten?
– Vielleicht. Wenn der Karren erst einmal im Rollen wäre. Hell genug wäre ich schon, eine große Sache zu schmeißen, aber vielleicht würde ich mich fragen, ob sich ein solcher Kraftaufwand lohnt. Denn bis eine solche Sache von selber liefe, wäre doch die Jugend vorbei.
Ich lachte:
– Da haben wir's. Meinen Sie denn, Gérard, die Aufgabe oder die Schönheit der Jugend bestehe im unverdienten Genießen? Und meinen Sie, zweitens, das schöne Leben sei nur der Jugend vorbehalten? Streichen Sie diese beiden Irrtümer aus Ihrem Denken – und sagen Sie sich: wenn Sie so gearbeitet haben, daß Sie einmal Ihrem Sohne geben können, was Sie sich heute selber wünschen: dann ist Ihr Leben ausgefüllt, nützlich, also in sich schön gewesen. Glauben Sie aber ja nicht, daß dem Sohne eines Großindustriellen andere und weniger gewichtige Fragen gestellt würden als Ihnen heute.
– Warum setzt man uns diese Schwindelfilme aus der eleganten Welt vor, wo alles wie in Öl läuft?
– Weil die meisten Menschen das im Bilde sehen wollen, was ihrer Vorstellung von Glück entspricht. Wüßten sie, wie es in Wirklichkeit in dieser sogenannten »monde« aussieht, so würden sie vielleicht weniger Illusionen haben.
– Aber wie ist denn nun das Leben in dieser »monde«? Wenn ich manchmal im »Figaro« die Berichte über Empfänge, Bälle, Hochzeiten und Gott weiß was lese …
– So lesen Sie die Verbrämung von soviel Sorge, Kampf, Lüge und Unzulänglichkeit, wie Sie gar nicht ahnen. Es gibt kein Glück, mein Lieber, das an eine Gesellschaftskaste gebunden wäre. Was wesentlich, ich meine: was menschlich-wesentlich ist, sprengt immer den Rahmen, innerhalb dessen es entstand, nach oben – und nach unten.
– Und der Kampf gegen die Ausbeutung der arbeitenden Klassen?
– Berührt nicht die Frage des »Glückes« menschlicher Herzen, von der wir eben sprechen.
– C'est juste, sagte Gérard, aber ich war nicht überzeugt davon, daß er wirklich dieser Ansicht war.
Er nahm die Zigarette, die ich ihm hinhielt.
– Sie rauchen schwarzen Tabak?
– Mit Vergnügen.
– Ich dachte, Sie rühren so etwas nicht an.
– Dann haben Sie etwas Falsches gedacht.
– Ja, ja … Ich glaube, allmählich, ich habe schon sehr viel Falsches gedacht.
– Das haben wir alle getan.
Wir schwiegen lange. Die Falten, in welche Gérard seine Stirne gelegt hatte, erklärten sich, als er unvermittelt ausbrach:
– Ich habe noch niemals mit einer »dame du monde« gesprochen.
– Dieses Vergnügen können sie sehr bald haben.
– Wieso? Sie denken doch nicht etwa daran, mit mir in eines dieser Lokale zu gehen, wo sich manchmal Frauen der Gesellschaft mit dem Gelichter der »gens du milieu« herumtreiben?
– Doch. Ich wollte Ihnen gerade klarmachen, daß Sie nur dort Ihre Laufbahn beginnen sollten.
– Verzeihen Sie meine dumme Frage.
– Sie ist Ihnen verziehen. Sie sagt mir mehr über Ihre Natur, als Sie ahnen. Und sie beweist mir – so wenig ich sie verdient hatte – daß mich ein sehr sicheres Gefühl geleitet hat, als ich Sie bat, den Abend mit mir zu verbringen.
– Gehen Sie denn manchmal in diese Lokale?
– Warum nicht? Es gibt dort für einen erwachsenen Menschen viel zu lernen, wenn er richtig zu sehen versteht. Nichts sehr Fröhliches. Aber manchmal sehr überraschende Dinge. Die Frauen, die sich dort herumtreiben, sind alle sehr unglücklich.
– Sie haben nichts zu tun, sagt meine Mutter. Deshalb kommen sie auf diese Nichtsnutzereien.
– Manchmal, ja. Aber ganz so einfach ist diese Frage doch nicht zu beantworten.
– Kennen Sie viele glückliche Frauen?
– Ich liebe das Wort »glücklich« nicht sehr. Ich kenne jedenfalls eine ganze Reihe von Frauen, die sich niemals unglücklich nennen würden.
Gérards Züge wurden nachdenklich. Er rauchte vor sich hin.
– Was ist das für eine »dame du monde«, mit der Sie mich bekannt machen wollen? fragte er schließlich, ohne mich anzusehen.
– Eine meiner besten Pariser Freundinnen. Zweiundvierzig Jahre alt. Mutter zweier jungverheirateten Töchter. Gattin eines bekannten Politikers. Ich gehe jeden Monat einmal mit ihr in unbekannten Vierteln der Stadt spazieren. Wir nennen diese Gänge unsre Forschungsreisen durch Paris. Wenn Sie wollen, können Sie uns auf einer solchen Reise begleiten. In welchem Viertel sagten Sie, daß Sie wohnen?
– In Ménilmontant.
– Also zeigen Sie uns Ménilmontant. Können Sie sich an einem Nachmittag gegen fünf Uhr frei machen?
– Nur am Montag.
– Gut. Morgen in acht Tagen werden wir diesen Gang machen.
– Sans blague?
– Sans blague. Sie ziehen sich genau so an wie heute und essen am Abend mit uns in einem ähnlichen Restaurant wie diesem, oben an den Buttes Chaumont. Sollten wir verhindert sein, so schicke ich Ihnen ein Pneu – und die ganze Sache wird um acht Tage hinausgeschoben. Einverstanden?
Ich erhielt keine Antwort. Ich fühlte, fast körperlich, die Strahlung des heftigen Mißtrauens, das sich erneut Gérards bemächtigt hatte.
– Werden Sie auch wirklich kommen? Und mit dieser Dame?
Ich wollte aufbrausen. Aber ich sagte, mich ein wenig über den Tisch neigend:
– Gérard: haben Sie denn wirklich den Eindruck, daß ich mit Ihnen spiele oder Ihnen weh tun will?
Über die angespannten Züge des schmalen Gesichtes glitt ein Lächeln, gelöst von Schmerzlichkeit und doch das Bittere des Zweifels noch ahnen lassend, aus dem es mein Wort enthoben hatte.
– Es wäre nicht das erstemal, daß mir etwas versprochen wurde, worauf ich mich freute wie ein König – – und dann nicht gehalten. Un garçon de Ménilmontant; Mon Dieu, c'est pas pour ça qu'on se dérange.
– Ich werde Sie eines anderen belehren, mon petit garçon de Ménilmontant. Nun aber Schluß mit diesem Unfug! Ich habe Lust auf einen schwarzen Kaffee und auf eine »fine«. Avanti! gehen wir die paar Schritte zu Lutrin hinüber.
– Zum Kaffee habe ich Sie eingeladen, sagte Gérard.
– Aber die »fines« stifte ich. Und ein paar echte Türken ebenfalls. Die Führung des Gespräches werden Sie nun übernehmen, eines lustigen Gespräches, hören Sie? Ich habe genug getan für heute.
Gérard fuhr sich mit der Hand über die dichten dunkelblonden Haare, ehe er sich vor dem Wandspiegel ziemlich umständlich seinen Hut aufsetzte.
Dann summte er im Gehen (auf die Melodie des »Parlez-moi d'amour«) die Worte:
»Fichez-moi la paix,
Madame, cherchez-vous un autre,
Partez sans délai …«
Liliane de Thouars war begeistert von dem Gedanken, sich Ménilmontant von dem kleinen Gérard zeigen zu lassen. Der Tag, den wir gewählt hatten, konnte für eine solche Wanderung nicht schöner sein: einer jener frühen Septembertage, in denen die Sonne noch leuchtet und wärmt, ohne zu blenden oder zu brennen. Da Liliane eine Einladung für den Abend hatte, trafen wir uns schon um vier Uhr am Untergrundbahnhof Belleville.
Gérard lehnte nachlässig am Gitter der Eingangstreppe. Wir erkannten ihn von weitem, während wir den Wagen zum Parken abstellten. Als er uns gewahrte, gab er sich Haltung und ging uns entgegen. Ins Knopfloch seines dunkelblauen Anzugs hatte er eine weiße Nelke gesteckt – in der Linken hielt er die braunen Lederhandschuhe, ohne welche Frankreich nicht Frankreich wäre. Liliane war ganz in Schwarz-Weiß gekleidet: sie erschien frisch wie ein junges Mädchen. Die Lichtfülle ihrer schwarzen Augen, deren Tiefe grundlos war, verkündete, welche Freude ihr das Außergewöhnliche dieses Nachmittags bereitete.
– Also hier haben wir unsren kleinen Führer, sagte ich, Monsieur Gérard Chavaroc.
Liliane hielt dem Jungen, der sich Mühe gab, seine Verlegenheit zu verbergen, die Hand hin.
Gérards Blicke hingen an der zarten Gestalt.
Jede Fiber der Netzhaut haftete auf dem Bildnis, das da im sommerlichen Duft von süßen Wicken, im kaum fühlbaren Streichen blauen Windes und im Anhauch rötlichen Sonnengoldes vor ihm stand. Seinen Hut hielt er immer noch in der Hand.
– Mais couvrez-vous donc, Monsieur, sagte Liliane.
– Madame, brachte Gérard errötend hervor, Madame, je vous demande pardon: ich habe Ihren Namen in der Eile der Vorstellung nicht verstanden.
– Ah bravo, rief Liliane, ihren Sonnenschirm gegen die Helle drehend. Es gefällt mir sehr, daß Sie genau wissen wollen, wen Sie führen.
– Verzeihen Sie meine Vergeßlichkeit, Gérard, sagte ich. Die Dame, der wir beide heute diesen Spaziergang verdanken, ist die Gräfin Thouars, und ihr Gatte ist der bekannte Abgeordnete, dessen schöne und großzügige Reden Sie sicher schon gelesen haben.
Gérard verneigte sich:
– Ich bin glücklich, Madame, Ihnen diesen kleinen Dienst erweisen zu können.
– Aber es ist ja ein großer Dienst, den Sie mir erweisen, lächelte Liliane. Wenn Sie so klug wie hübsch sind, dann werde ich Ihnen bestimmt ein paar schöne Stunden zu verdanken haben.
– Madame: ich hoffe ich bin etwas klüger. Denn mit meiner Hübschheit ist es doch weiß Gott nicht weit her.
– Hm, machte Liliane: das wissen manchmal andre Leute besser als wir selbst.
– Vielleicht, sagte Gérard leise.
– Bestimmt!
– Wenn dem so ist, Madame, dann erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie die bezauberndste Frau sind, die ich je im Leben und im Film gesehen habe.
– Enfin, nous y sommes! ergänzte ich, mir eine Zigarette aus dem Etui nehmend. Es scheint, diese Wanderung steht unter einem freundlichen Stern.
Gegen halb sieben hatten wir unseren Gang beendet. Liliane war in ihren Wagen gestiegen. Sie reichte Gérard noch einmal die Hand über die Tür:
– Anfang Oktober bin ich in Paris zurück. Dann werde ich Ihnen einmal die Gegend zwischen Place des Vosges und Hotel de Ville zeigen. Und was Ihr Vorwärtskommen angeht, so wird man überlegen, was zu tun sei, und mit Ihren Eltern sprechen.
Gérard stand schweigend, fast abwesend, in der goldgrauen Luft. Plötzlich senkte er den Mund nach dem weißen Handschuh.
– Darf ich?
Liliane lächelte:
– Ja, Sie dürfen.
Der Wagen wendete und entglitt in den sinkenden Abend.
– Und was machen wir beide nun mit unserem Tagende?
– Was Sie wünschen. Vielleicht wäre es das beste, Sie lassen mich allein. Ich werde bestimmt sehr einsilbig sein.
– Das schadet ja nichts. Es ist durchaus nicht nötig, daß man immer redet. Lieben Sie diese Stunde in Paris?
– Und wie liebe ich sie!
– Dann kommen Sie mit auf meinen Balkon und sehen Sie mit mir die Nacht auf die Dächer sinken. Es ist meine Stunde, die nun begonnen hat.
Unsäglich sank die Nacht, blau und warm, und ohne Wind.
– Ich sehe zum erstenmal Paris, sagte Gérard, den Hinterkopf gegen die graue Wand stützend, die Augen nach dem Fluß senkend, in dem die Lichter zu spiegeln begannen. Ich sehe überhaupt zum erstenmal.
– Was sehen Sie?
– Wie schön das Leben sein kann.
– Ja, Gérard, das Leben kann sehr schön sein, sobald man nur einmal aufgehört hat, an die »anderen« – mehr Forderungen zu stellen als an sich selbst.
– Mein Gott, welche Frau, sagte Gérard leise vor sich hin. Welches Leben, welche Fülle, welche Haltung – und welche Traurigkeit.
– Das spüren Sie?
– Warum sollte gerade ich es nicht spüren?
– Jede Haltung ist Traurigkeit.
– Gibt es denn viele solche Frauen wie die Gräfin Thouars?
– Ja, Gérard. In jeder Schicht. Man muß nur den Blick für diese Art Frauen haben. Wer ihn einmal vom Schicksal geschenkt erhielt, wird ihn nie mehr verlieren. Er wird vergleichen lernen – und der Vergleich wird ihn vor Verwechslungen bewahren, mag er was immer – als Mann – erleben. Ich weiß nicht, ob Sie schon ganz verstehen, was ich Ihnen nun noch sagen werde: Das Leben jedes Mannes wird durch ein Bildnis bestimmt, das er in sich trägt. Dieses Bildnis begleitet ihn oft – über alle Notwendigkeiten seines Daseins hinaus und ohne diese je zu schwächen – bis in seinen Tod. Leben ist immer: zu fühlen, daß man fühlt. Schönes Leben aber ist: das Schöne schön zu fühlen. Dieses Vorrecht ist Ihnen in der Wiege mitgegeben worden. Hören Sie also niemals auf, Ihrem Schicksal dankbar zu bleiben. Lenken Sie Ihren Weg immer zu diesem Geschenk des Anfangs zurück. Dann kann es Ihnen niemals schlecht gehen.
Als wir eine Stunde später auf einer Terrasse am Ufer zu Nacht aßen, sagte Gérard:
– Man muß offenbar zwanzig Jahre alt werden, um überhaupt erst zu begreifen, wo man hingehört. Das habe ich heute begriffen.
– Und wo gehören Sie hin?
Gérard setzte sich gerade, reckte Arme und Schultern:
– Nur in meinen Willen! Seit heute abend weiß ich, daß mich keiner mehr von dem Wege fortbringt, den ich mir bahnen werde. Und selbst wenn alles doch ganz anders würde, als man es sich vorgestellt hat: es muß wohl schon etwas Gutes dabei herausspringen, gewollt zu haben.