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In der Nähe meiner Wohnung liegt ein kleines Bistrot, in dem es einen ausgezeichneten Kaffee zu trinken gibt. Es ist im Sommer angenehm kühl in dem Raum, dessen Steinfliesen oft von Madame Laurent, der immer freundlichen Wirtin, gekehrt und gesprengt werden. Selten nur stört das Radio die Gespräche der Gäste. In Stunden, in denen es wenig zu tun gibt, läßt sich Madame Laurent manchmal Tanzmusik spielen.
– Cela me repose, sagt sie dann. Cela me fait oublier les affaires qui ne marchent pas comme elles devraient.
Das entspricht zwar nicht der Wahrheit, aber es sagt sich so schön und läßt den Verdacht nicht aufkommen, man lege womöglich alle Abend ein paar Hundertfrankenscheine auf die hohe Kante.
Die Geschäfte gehen vorzüglich, den ganzen Tag, besonders gut aber in den späten Stunden. Denn dieses Bistrot schließt erst nachts um zwei seine Tore, nicht schon um eins, wie die meisten anderen. Es verkehren in ihm angenehme und freundliche Leute. Zum Beispiel: Zwei Antiquare, die in der Nähe ihre Läden haben und herzlich miteinander befreundet sind, obwohl eigentlich der eine dem anderen unentwegt ins Gehege kommt. Einige junge Friseure (aus dem Salon »Victoire de la Beauté«) mit schön ondulierten Haaren und beängstigend polierten Fingernägeln, ein Rumäne, der in einem dumpfen Hauseingang Strümpfe und Socken verkauft, ein Tessiner Kastanienröster, der seine »Fine« mit Maronen bezahlt, ein Obst- und Blumenhändler, dessen hochbeladener Karren an der nächsten Straßenecke jeden Abend ausverkauft ist, ein paar Angestellte der nahen »Caisse d'Epargne«, einige Diener benachbarter »Herrschaftshäuser«, unter ihnen ein Engländer, der des öfteren für mehrere bezahlt, und ein Luxemburger, der eigentlich als Tenor zur Bühne gehen wollte, Madame Bouty, welche vorgibt, in Scheidung zu liegen – aber die Sache läuft nun schon seit zwei Jahren, und sie kann immer noch nicht ihren Weinhändler aus Lyon heiraten, Gepäckträger und Chauffeure des Südbahnhofs, und – wohl als beste Kundin – Madame Maigre.
Madame Maigre ist etwa fünfundsechzig Jahre alt, mittelgroß, stark und asthmatisch. Ihr Gesicht ist blaß und von vielen Schmerzen verzogen, ihre Beine sind angeschwollen und vermögen den gedrungenen Körper kaum zu tragen. Jeder Schritt wird ihr zur Qual. Sie trägt ziemlich kurze Röcke, fleischfarbene Strümpfe, schwarze Lackpumps mit silbernen Schnallen und ausgeschnittene Kleider, welche eben noch den Ansatz eines ermüdeten Busens ahnen lassen. Gerade über dem Beginn dieses Busens ruht, von einer dünnen Platinkette gehalten und in Platin gefaßt, ein unwahrscheinlich schöner Diamant, ein »Solitaire«, wie man zu Zeiten unserer Großmütter zu sagen pflegte. Dieser »Solitaire« ist das Mysterium des Cafés. Um ihn kreisen alle Wünsche und alle Vermutungen.
Madame Maigre hat ihr gutes Auskommen. Sie ist die Witwe eines Gerichtsvollziehers, der schon lange das Zeitliche der überzeitlichen Stadt Paris gesegnet hat. Mehr weiß man nicht. Madame Maigre wohnt um die Ecke, im Erdgeschoß eines muffigen Hinterhauses, das nach Katzen riecht. Da in diesem Gebäude eine Druckerei ist, riecht es auch nach Öl und Druckerschwärze. Ein Lindenbaum in der Mitte des Hofes kann nicht recht gedeihen, und auch die Geranien vor den blinden Fenstern wollen nicht vorwärts kommen.
Alle Abend, gegen sechs Uhr, wird Madame Maigre von einer halbtauben Person, welche auf den Namen Fanny hört, in das Bistrot geführt. Zu diesem Weg, den ein gesunder Mensch in zwei Minuten zurücklegt, brauchen die beiden Frauen zehn Minuten. Im Café ist der mit Baumwollkissen ausgelegte Sitz für Madame Maigre schon vorbereitet, dicht neben der Eingangstür, aber so, daß beim Öffnen keine Zugluft an die kranken Beine gelangen kann. An dieser Stelle verharrt Madame Maigre bis zur Stunde, in der das Café geschlossen wird. Sie kann durch die Glasscheiben sehen, was auf der Straße vorgeht, und kann gleichzeitig am Leben des Cafés selbst teilnehmen. Draußen und drinnen sind ihr zu einem einzigen Inhalt verwachsen, zur Welt, deren Erscheinungsformen sie noch wahrnehmen kann.
So lebt sie nun seit Jahr und Tag. Ihr Essen wird ihr um acht Uhr gebracht. Gutes Essen. Den Rotwein, den Kaffee und die Liköre kauft sie bei Madame Laurent. Sie trinkt viel. Sie spricht wenig. Sie liest, sofern sie nicht beobachtet, nur die Zeitungen der Rechten. Ich habe sie des öfteren mit der royalistischen »Action Française« in der Hand gesehen. Als sie eines Tages das gleiche Blatt auch bei mir gewahrte, sagte sie laut durch den menschengefüllten Raum:
– Ja, ja, die Krise! Wenn wir einen König hätten!
– Und was wäre dann, Madame Maigre? fragte ich.
Ein paar Arbeiter lachten. Robert, der dicke Gepäckträger aus Toulouse, schlug sich mit der Hand auf die Schenkel:
– Sapristi, Madame Maigre! Dann würden Sie Hofdame bei Ihrer Majestät sein und könnten Ihren »Solitaire« von einem Marquis befingern lassen.
Vielleicht war Robert erstaunt, daß der Beifall ausblieb, den er wohl erwartet hatte … Er fuhr sich etwas verlegen mit einem buntgemusterten Sacktuch über die erhitzte Stirn …
– Enfin, sagte er, sich fast entschuldigend … Les goûts ne se discutent pas … Noch ein Bock, Madame Laurent, und ein Brot mit Salami …
Ein etwas angeheiterter, dunkler Chauffeur näherte sich Madame Maigre:
– Weiß Gott, ein herrlicher »Solitaire« … Erlauben Sie, daß ich das Ding einmal anfasse?
Madame Maigre hob ihre stillen, schwermütigen Augen zu dem jungen Manne auf. Da er den Blick offenbar für eine Bejahung seiner Frage hielt, nahm er den Diamanten vorsichtig in seine breite, gutgehaltene Hand, schaute ihn lange aus etwas verschwommenen Augen an und ließ ihn langsam gegen den Spitzensaum des Kleidausschnittes zurückgleiten …
– Weiß Gott, Madame Maigre, ein schöner »Solitaire« … Man sollte sagen: ein glitzernder Tautropfen auf einer Frühlingswiese …
Auch nun blieb das Lachen aus. Aber die Gäste des kleinen Cafés hatten sich etwas dichter um den Tisch gedrängt, auf dem Madame Maigre soeben das geleerte Kognakglas beiseite schob … Nun schüttelte sie ganz langsam den Kopf gegen den Chauffeur, den sie nicht eine Sekunde lang aus dem Auge gelassen hatte … Und dann lächelte sie ein wenig, man wußte nicht genau, ob mit den Brauen oder den Mundwinkeln oder der kaum gehobenen, abwehrenden Hand:
– Mein junger Freund: gebe Gott, daß Sie bis an Ihr seliges Ende den erschöpften Busen einer alten Frau für eine Frühlingswiese halten und einen leblosen Stein für einen glitzernden Tautropfen! Dann dürften Sie sich diesem »Solitaire« vergleichen und sagen: »So etwas gibt es nur einmal auf Gottes mühsamer Erde.« Kommen Sie, mein Lieber, führen Sie mich nach Hause, zwei Schritte um die Ecke … Ich bin lange nicht mehr am Arm eines hübschen jungen Mannes gegangen, um zwei Uhr nachts … Machen Sie mich für ein paar Minuten vergessen, daß ich bin, was ich auf meiner Brust trage: solitaire – und machen Sie mich noch mehr vergessen, daß dieser »Solitaire« nur ein toter Kristall auf einem abgeernteten Acker ist … Die Schnitter sind lange auf und davon – und für meinen Stein schenkte mir heute keiner mehr ein Tausendstel der Gefühle, die man mir früher einmal für einen einzigen Augenaufschlag gab.
Sie erhob sich langsam – es war nicht einer der Umstehenden, der sich nicht fast demütig beeilt hätte, ihr behilflich zu sein – nahm den Arm des Chauffeurs, der ihr mit vollendeter Ritterlichkeit geboten wurde, und verließ – eine Fürstin, die das letzte Wort gesprochen hatte unter lächelndem Grüßen nach allen Seiten den rauchigen, nach Kaffee und Alkohol riechenden Raum, um in ihre nach Katzen und Druckerschwärze riechende Wohnung heimzukehren.