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Ein Novembernachmittag. Es dunkelte. Die Laternen entzündeten sich langsam. In den Schaufenstern brannten längst die Lampen. Die Luft war mild nach langen Regen. Sie roch nach müdem Laub, manchmal nach Rauch, den der Wind von den Dächern wehte, manchmal nach fernem Meer, manchmal nach Erde, die bald für lange schlafen gehen wird.
Ich schritt langsam dahin, ohne Ziel. Noch waren die Spuren einer quälenden Erkrankung nicht überwunden. Noch durfte ich nicht essen und trinken, was ich mochte, noch mußte ich mit der unvorhergesehenen Wiederkehr von Schmerzanfällen rechnen. Aber ich konnte doch wenigstens ab und zu im Freien sein. Während ich überlegte, wo ich mir wohl ein paar Genesungswochen in Sonne und Bläue gönnen würde, meldeten sich wieder die Vorboten eines Krampfes. Ich näherte mich gerade einem der großen Pariser Parke. Ich sage nicht welchem. Vor seinem Eingang winkte eines jener freundlichen, altmodischen Gebäude, die man vor vierzig und mehr Jahren »Chalets de nécéssité« oder »Cabinets d'aisance« zu nennen pflegte. Heute sagt man »Lavatory et W. C.« Ich ziehe die andere Bezeichnung als die menschlichere und tiefere vor. Ich trat ein. Eine silberklare Schelle begann zu schwingen, als ob sie sich nie mehr beruhigen wolle. Ich war mir nicht bewußt, das arme Ding durch allzuheftiges Aufreißen der Tür in diesen Zustand der Erregung versetzt zu haben. Ein Geruch von Gas, Mandelseife und frisch gebrühtem Kaffee erfüllte den starkgeheizten Raum. Es roch auch nach Handtüchern, die man über dem Ofen trocknete. Es kam niemand. Ich hörte das Klappern von Emailgeschirr
– Madame, rief ich …
Wieder keine Antwort. Ich öffnete noch einmal die Tür. Wieder tobte die Schelle in meinen nun sehr lauten Ruf:
– On est pressé, Madame.
– J'y vais, j'y vais, j'y vais! rief eine dünne, hohe, gebrochene Stimme.
Und gleich darauf erschien im Rahmen einer Schiebetür eine dürre kleine Frau, die ihre fünfundsiebenzig Jahre alt sein mochte … Sie hatte ein gutmütiges, ganz verkrumpeltes Gesicht und Hände, die eigentlich nur noch Adern waren. Sie wackelte mit dem hageren Sperberkopf, der auf ebenso hagerem Halse saß. Die langen goldnen Ohrringe machten die Bewegung mit.
– Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie, entschuldigen Sie, lieber Herr, sagte sie dann … Ich konnte mein Tuch nicht finden … Ich war gerade beim Kaffeekochen …
– Das rieche ich, sagte ich … Wollen Sie mir bitte eine Toilette geben …
– Sofort, sofort, sofort … Wollen Sie eine alte oder eine neue?
– Ich kenne den Unterschied nicht. Es ist mir auch wichtiger, sofort eine Toilette zu bekommen, als eine Erklärung über die Unterschiede …
– Ja, ich verstehe … Dann nehmen Sie diese hier, die neue, die aus Mahonny … Gott, ein Herr wie Sie! Was können Ihnen die paar Sous ausmachen … Sie ist oval, und man ruht gut darauf. Alle besseren Herren nehmen sie. Nur ist leider die elektrische Birne zerbrochen, aber morgen kommt ganz bestimmt eine neue … Es tut mir leid, lieber Herr, falls Sie vielleicht Ihre Zeitung lesen wollten –
Als ich, von meinen Schmerzen befreit, wieder zum Vorschein kam, stand die kleine Frau wartend mit Seife und Handtuch im Gang.
– Voilà, lächelte sie … Und da ist die Waschkabine …
Während ich mich wusch, trat sie neben mich und schaute mir von der Seite in das Gesicht:
– Gott, sehen Sie blaß aus! Sie sind doch nicht krank? Ein Herr wie Sie!
– Ich war krank. Und ich habe noch sehr unangenehme Störungen … Die Galle, wissen Sie …
– O Gott, die Galle … Ach, es kommen viele hierher, die es auf der Galle haben … Aber wissen Sie, das ist immer noch besser als auf den Nieren! Oh, die Nieren! Wenn die nicht wollen … Was glauben Sie, wie da manchmal die Leute stöhnen … Wie oft habe ich schon einen Wagen herbeirufen müssen, damit sie nur heimkonnten … Ja, ja, glauben Sie mir, lieber Herr, man erlebt allerlei als Directrice d'un Cabinet d'aisance …
– Das glaube ich Ihnen gut und gern … Sagen Sie mir: wie lange sind Sie schon hier?
– Raten Sie! Das werden Sie niemals raten! Fünfundvierzig geschlagene Jahre bin ich hier – fünfundvierzig Jahre!
– Sie müßten ja von der Stadtverwaltung als Wohltäterin der Menschheit gefeiert werden!
– Ach, sind Sie ein freundlicher Herr! Solche Anerkennung tut einem wohl, die kann man gebrauchen! Die Menschen sind ja so roh heute, und so gehetzt. Und keiner mehr will einem etwas erzählen! Und erzählt man selber etwas, so werden sie ungeduldig und drängeln hinaus, als ob man gar kein Mensch wäre, sondern nur eine Maschine mit dem ewigen Wischtuch … Und wie sind sie doch alle im Grunde froh, daß man da ist! Was wollten sie denn machen ohne einen? Auf die Straße können sie sich nicht setzen – und gehen sie in ein Bistrot, so müssen sie etwas verzehren: das kostet sie eine Menge Geld … Ja, ja, so sind die Menschen! Wollen Sie mir glauben: es hat schon solche gegeben, die sich eine » Fine« geben ließen und hätten sie noch nicht einmal bezahlt, wenn ich nicht mein gutes Geld gefordert hätte!
– Halten Sie sich denn Kognak hier?
– Gewiß, mein Herr! Es kommen oft genug Leute, denen es schwach oder schlecht ist … Auch eine Zitrone kann man bei mir haben … Und doppeltkohlensaures Natron ebenfalls! …
– Sie haben also beinah eine Apotheke …
– Gott, lieber Herr, man tut, was man kann, um seinen leidenden Mitmenschen ein wenig zu helfen … Und ein kleiner Nebenverdienst ist ja schließlich auch nicht zu verachten! Bei diesen Zeiten! Es kommen auch manchmal solche, denen ein Staubkorn im Auge sitzt, oder solche, die sich rasch einen Floh fangen wollen, oder solche, denen das Strumpfband gerissen ist … Andere lassen sich einen Knopf annähen, wieder andere drückt ein Fußnagel, den sie sich schneiden … Und es kommen sogar solche, die sich nur ein wenig ausruhen, oder über etwas nachdenken, oder allerhand Papiere vernichten wollen! Lieber Herr: was gibt es nicht alles im Menschenleben – und welches Glück ist es, daß man nicht alles weiß! Viel zuviel weiß man schon – und fröhlicher wird man davon gewiß nicht … Die Menschen erzählen einem immer nur ihr Unglück – ihr Glück verschweigen sie! Glauben Sie aber nur nicht, daß die Frauen mehr erzählen als die Männer! Ich könnte Romane schreiben über die Dinge, welche mir seit vierzig Jahren ältere Männer anvertraut haben! Kommen dann die Frauen solcher Männer, so ist alles gerade umgekehrt … Wem soll man nun glauben?
– Niemandem!
– Gott, wissen Sie Bescheid! lachte nun der zahnlose Mund … Ich glaube auch niemandem, aber ich mache mir schon meinen Vers zusammen – – Heilige Maria, mein Wasser kocht wieder – entschuldigen Sie nur eine Sekunde, ich komme sogleich zurück …
Ich suchte meine Soustücke zusammen und sah mich dann ein wenig um. Schon war die Alte wieder da.
– Sagen Sie, fragte ich, was ist das mit den »alten« und den »neuen« Toiletten?
Sie öffnete eine Tür …
– Sehen Sie: dies ist eine ganz altmodische. Da sitzen Sie auf einem viereckigen Kasten, die Öffnung ist klein, und die Spülung ist schwach … Der Messingknopf wird nach oben gezogen … Das Papier schneide ich aus alten Zeitungen und Fahrplänen … Hier zahlen Sie die Hälfte …
– Und wer nimmt diese Toiletten?
– Die Frauen, lieber Herr, vor allem die Frauen … Was wollen Sie? Was nicht ausgegeben ist, das ist gespart …
– Haben Sie viel zu tun?
– Gott, es ist unterschiedlich. Im allgemeinen: ja. Es geht hier wie beim Omnibus. Es gibt Stunden, wo er immer besetzt ist, und andere, wo man immer Platz bekommt. Im Sommer geht das Geschäft natürlich besser als im Winter. Auch ist es dann für mich abwechslungsreicher, weil die vielen Fremden da sind, die das Pariser Wasser und Klima nicht vertragen … Sie essen und trinken Gott weiß was durcheinander, und wundern sich dann, wenn sie laufen müssen … Mir kann es ja so nur recht sein … Des einen Mühe ist des anderen Lust … So war es, und so wird es bleiben … Wenn ich ganz ehrlich sein soll, ist mir trotz des geringeren Verdienstes und der geringeren Abwechslung der Winter lieber … Da kommt die Stammkundschaft, die man seit vielen Jahren kennt … Glauben Sie mir: ich habe Kunden, die ich schon seit ihrer Kindheit bediene! Ich habe sie sozusagen unter meinen Augen groß werden sehen! Und andere grau – und andere weiß! Ach, und wie viele haben es nicht mehr nötig zu kommen! Die sind am glücklichsten …
– Vielleicht. Aber das wissen wir nicht …
– Nein, nein, das wissen wir nicht … Aber was wissen wir denn überhaupt? Wenn ich manchmal so allein sitze und über meinem Strickzeug nachdenke, dann kommt mir dieses ganze Leben doch sehr merkwürdig vor … Alles dreht sich um dieses ewige Essen und Trinken und wie man das Genossene wieder fortschafft! Oben rein – unten raus … Und davon lebe ich – und davon leben Tausende meinesgleichen, Millionen, auf Gottes weiter Erde … Es kommt hier des öfteren ein alter General zu mir – ein prächtiger Mann, sage ich Ihnen –, der erklärt mir immer, daß alles, alles im Leben und auch das Leben selbst nur ein großer, ewiger Durchgang sei. »Wissen Sie, Frau Combarieu, sagt er immer: man muß erst gar nicht anfangen, nachzudenken! Man muß seine Pflicht tun – und den Rest dem großen Unbekannten da droben überlassen. Gibt es einen, so wird er schon wissen, warum er alles so eingerichtet hat, wie es ist. Und gibt es keinen, so hat man wenigstens seine Pflicht getan.« Das meine ich auch. Es kann einem dann jedenfalls nichts Böses geschehen …
Ich zündete mir eine Zigarette an.
Madame Combarieu wehte sich mit der Hand den Rauch unter die spitze Nase, während sie das Kinn etwas vorschob und die Lippen des eingefallenen Mundes aufeinanderpreßte …
– Wollen Sie auch eine rauchen?
– Um Gottes willen – was denken Sie, lieber Herr! Ich rieche nur guten Tabak gerne … Es wird viel geraucht in den Kabinen – aber ich merke sofort, was blonder und was schwarzer Tabak ist. Ich bin für blond, auch heute noch …
Und sie lachte so laut, daß ich fast erschrak.
– Ich auch, sagte ich.
Wieder eine Lachsalve …
– Aber doch nicht für dieses aufgeklatschte künstliche Blond, das sich heute jedes Kinderfräulein herrichten läßt? Es kommen viele Bonnen und Erzieherinnen hierher, wenn sie die Kleinen ausführen. Eine toller gefärbt als die andere. Kaum herein: schlupp, vor den Spiegel … Und dann geht ein Getupfe und Gerücke und Gestreiche los, als ob die ewige Seligkeit von der Frisur abhänge … Aber die alten Herren im Ruhestand, welche meistens vormittags zwischen elf und zwölf kommen, machen es nicht besser. Bei denen geht es um den Schnurrbart. Der wird hier nachgewichst und ausgezogen … Die kleine Bürste haben sie immer in der Tasche … Sagen Sie mir nur, welche Frau heute noch nach einem Schnurrbart schaut! Ich konnte diese Suppenschlurzer niemals leiden – – und als mein Mann mir mit einem solchen Doppelpinsel ankam, habe ich ihm das Ultimatum gestellt: der oder ich!
– Mit welchem Erfolg, Frau Combarieu?
– Sie fragen? Oh, Monsieur, vous n'auriez jamais demandé si vous m'aviez connue jeune! … Am Tage darauf war die Lippe frei!
– Ich gratuliere …
– Warten Sie einen Augenblick, sagte die kleine Frau, deren Augen fast einen Glanz bekommen hatten …
Zwei Minuten später hielt sie mir ein Bild hin, das sie einer Schublade entnommen hatte. Das zarte, fröhliche Gesicht eines Mädchens, das nach der Mode der achtziger Jahre gekleidet war, lächelte mir entgegen.
– Ich begreife, Frau Combarieu, sagte ich, daß sich ihr Gatte den Schnurrbart abnehmen ließ …
– Das freut mich! Er wußte, was er zu verlieren hatte! Und dann war doch ich es, die ihn zuerst verlor … Er war Dachdecker. Er ist abgestürzt … Ach, das waren böse Tage – und böse Jahre, die da folgten …
– Hatten Sie Kinder?
– Nein, lieber Herr. Dieses Glück ist mir versagt geblieben … Zwei Fehlfälle … Danach war Schluß … Was wollen Sie? Destinée …
– Woher stammen Sie eigentlich, Frau Combarieu?
– Aus Orléans … Aus der Stadt der Jeanne d'Arc … Aus dem schönen, stillen, vornehmen Orléans … Dort sind meine Eltern begraben, meine beiden Brüder, meine Schwester und mein Mann … Und dort habe ich mir auch schon den Platz gekauft, an dem ich einmal ruhen will. Ja, das ist alles festgelegt. Die Papiere liegen bei dem Notar … so lange, bis man sie herausholen muß …
– Das wird so bald nicht der Fall sein, lächelte ich. Sie sind sehr gesund, und Ihr Lebensgeist scheint mir unverwüstlich …
– Mir auch, mir auch, rief überglücklich die Alte … Ich glaube, ich höre in zehn Jahren auch noch die Schelle hier bimmeln …
Die Schelle schien die letzten Worte bestätigen zu wollen, denn sie begann ein wahres Festgeläute.
In die weitgeöffnete Tür, hinter der eine nebelfeuchte Abendlandschaft um Gitter, Häuserwände, Schornsteine und entlaubte Baumkronen aufblaute, trat eine in alle Farben der Palette gekleidete, gewaltige Frau, die in der Linken einen Schirm hielt und mit der Rechten vorsichtig eine runde Kuchenschachtel gegen die Polsterung des Busens drückte …
Frau Combarieu stürzte ihr entgegen – flog ihr an den Hals …
– Gott, Augustine, ich machte mir schon Sorgen um dich – ich dachte schon, du ließest mich im Stich …
– Entschuldige, meine Gute, sagte die Dame Augustine mit der dunkelquellenden Stimme einer Tragödin, mein Omnibus ist mir vor der Nase fortgefahren … Und als ich dann schließlich im nächsten saß, fiel mir ein, daß ich das Licht in der Küche hatte brennen lassen … Ich hoffe, du hast dir die Zeit nicht allzu lang werden lassen
– Im Gegenteil, ma chérie, im Gegenteil … Ich habe einen charmanten Unterhaltungspartner gehabt … Du ahnst nicht, wieviel Verständnis der Herr für alle menschlichen Fragen aufbringt …
Die Dame Augustine verneigte sich wie dankend mit einem gemessenen Lächeln gegen mich und betrachtete mich sehr genau aus kurzsichtigen, gekniffenen Augen.
– Frau Bigourdan ist meine Kollegin von der anderen Seite des Parkes, sagte Frau Combarieu …
– Und Sie, mein Herr, Sie sind der Abgeordnete Delaisi, lächelte Frau Bigourdan … Leugnen Sie nicht ich kenne Sie nach Bildern. Ich kenne alle Leute, von denen Paris spricht … Ich wiederhole: leugnen Sie nicht! Auch ein Deputierter ist den Zwangsläufigkeiten des menschlichen Lebens unterworfen … Ich schätze mich glücklich, Ihnen hier begegnet zu sein … Ich könnte Ihnen viele bedeutende Namen nennen, deren Trägern ich persönlich nahe gewesen bin …
– Ich zweifle nicht daran, aber ich bin wirklich nicht …
– Leugnen Sie nicht, Herr Deputierter! Und selbst wenn Sie nicht Herr Delaisi wären, könnten Sie es sein! Aber – Sie sind es …
Was blieb mir übrig, als mich einer so würdevoll-diktatorischen Feststellung zu beugen?
Frau Combarieu nahm der Kollegin die Schachtel aus dem Arm.
– Schokoladekuchen?
– Gut geschnuppert, gut geraten …
– Mein Leben lasse ich für Schokoladekuchen, wandte sich Frau Combarieu gegen mich. Alle Wochen einmal besuchen wir uns und trinken Kaffee zusammen. An unserem freien Tag. Wer besucht wird, kocht den Kaffee. Wer besucht, bringt das Gebäck … Und einen gemeinsamen Freund haben wir auch, der uns Gesellschaft leistet. Aber der kommt meistens ein wenig später …
– On s'arrange, monsieur, sagte Frau Bigourdan, endlich einen bläulichen Schleier über die bordeauxrote Hutkrempe zurückschlagend, so daß ich ihr Gesicht sehen konnte …
Welches unaussprechliche, in braunem Puder verschwimmende Gesicht zwischen Fiebertraum und Wirklichkeit … Welcher pompöse und verbrauchte Mund … Zwischen kohlschwarz ausgezogenen Brauen eine tiefe, senkrechte Falte. Dunkelblaue Augen voll Feuchte und Feuer … In den Ohren lachsfarbige Korallen …
– Frau Bigourdan war Schauspielerin, sagte die Freundin, nachdem sie den Kuchen in das kleine Binnenzimmer getragen hatte … Sie hatte große Erfolge im Süden …
– Sie haben Heldinnen gespielt? fragte ich …
– Ausschließlich. Corneille, Racine, Voltaire, Dumas père … Bis zur Weltausstellung 1900. Dann bekam ich ein Stimmbandleiden – und die große Laufbahn war zu Ende … Que voulez-vous? Destinée … Für das kleine Kabarett hätte der Ton nach meiner Genesung noch gereicht. Aber das gefiel mir nicht … Wer groß begonnen hat, mag nicht klein enden! Und dann, Herr Deputierter: bei dieser skandalösen Bezahlung! Wann, wann, frage ich Sie, wird dieses Elend in unserem reichen Frankreich behoben werden? Kennen Sie diese Gagen? Wann wird das Herz der Bourgeoisie für die armen kleinen Kabarettisten zu schlagen beginnen? Wann wird dieser Herzschlag die Geldbeutel der Ausbeuter-Direktoren öffnen? Wann? frage ich Sie … Wann endlich?
– Rege dich doch nicht so auf, Augustine, beschwichtigte Frau Combarieu. Es nützt doch nichts! Es wird ja doch nichts anders! Das weiß keiner besser als der Herr Deputierte … Was kann dir denn heute noch an diesen Dingen liegen! Du hast deine gute und anständige Beschäftigung gefunden, hast dein anständiges Auskommen – was willst du eigentlich noch mehr? Die Kabarettisten sollen sehen, wie sie ihre Lage bessern. Das ist ihre Sache, nicht mehr die deine!
– Ah, meine gute Emilienne, sagte Frau Bigourdan in der tiefsten Tonlage ihrer ungebrochenen Stimme, wenn alle so denken wollten wie du – wo bliebe die große, wo bliebe die edle Tat in der Welt? Ich habe die Welt kennengelernt – von beiden Seiten: Schein und Wirklichkeit … Ich habe meine Schlüsse gezogen! Die Wirklichkeit dem Scheine anzupassen: das ist die ganze Frage! Aber dazu gehören Männer, Herr Deputierter! Dazu gehören – große Männer! Das Geld und die Größe liegen am Rande der Straße – man muß sie nur aufzuheben wissen!
Frau Combarieu warf verzweifelt die Augen gegen das summende Gaslicht …
– Augustine: das hast du doch seit dreißig Jahren schon tausendmal gesagt … So zieh doch endlich den Mantel aus und mach dir's bequem …
– Mein Gott, rief Augustine – ich habe vergessen, meinen Brief einzuwerfen … Eine Minute – die Post ist um die Ecke – ich bin sofort wieder da …
Kopfschüttelnd schaute Frau Combarieu der Davoneilenden nach, die einen wahren Dunst schlechten Parfüms in dem kleinen Raum zurückgelassen hatte, und sagte fast entschuldigend zu mir:
– Sie müssen nicht so tragisch nehmen, was sie sagt … Sie hat sich die Vorlieben ihrer Jugend bewahrt. Auch dieses aufdringliche Parfüm hat sie immer getragen. Sie ist eine sehr gute und anhängliche Freundin. Aber auch heute noch, bei ihren 65 Jahren, geht ihr das Gefühl durch.
– Sie war natürlich Kabarettistin?
– Selbstredend! Sie will es nicht Wort haben. Bei Wohltätigkeitsvorstellungen in kleinen Nestern hat sie manchmal aus großen Rollen deklamiert … Aber lassen Sie sich um Gottes willen nichts merken … Sie grämt sich heute noch darüber, daß es zur Tragödin nicht gereicht hat.
– Und warum ist sie vom Kabarett fortgegangen?
– Gott, ich nehme an, das Publikum fand sie langweilig. Sie konnte sich nicht anpassen. Sie war altmodisch …
– Und wie hat sie sich mit ihrem Berufswechsel abgefunden?
– Ausgezeichnet. Sie ist sehr beliebt … Wenn sie allein ist, sagt sie sich ihre Lieblingsrollen auf. Es sind schon oft genug Leute vor dem Chalet stehn geblieben. Sie singt auch ihren Kunden die Lieder der vergangenen Zeiten vor … Das bringt ihr allerhand ein, glauben Sie mir. Oh, elle est bien débrouillarde! Plus que moi!
– Das ist ja sehr erfreulich zu hören … War sie verheiratet?
– Nein. Sehen Sie: der Herr, der später noch kommt, wollte sie heiraten. Er war Witwer. Aber dann hatte er mich gesehen – und wollte mich heiraten … Und dann wollte er wieder Augustine heiraten … Und so ging das ohne Ende … Er hatte uns beide gern – und wir ihn auch … Und so sind wir eben alle drei zusammengeblieben und alle drei zusammen alt geworden … Sie verstehen? Und niemand hat niemand geheiratet … Nun warten wir darauf, wer von uns dreien wohl zuerst abgerufen wird … Denn einmal werden ja nur noch zwei dasein … Aber welche zwei dies immer sein mögen: sie können ihren Lebensabend ruhigen Gewissens in Frieden beschließen. Denn sie haben sich gegen den Dritten, der früher gehen mußte, nichts vorzuwerfen …
Vor der Tür wurden Stimmen laut.
– Ah, Augustine kommt zurück … Sie bringt ihn mit, sie müssen sich draußen gerade getroffen haben …
Herr André Pélissier hätte der um eine Kopflänge größere Bruder der Frau Combarieu sein können. Er hielt in der Hand einen Mimosenzweig:
– Voilà, ma chère amie, les premiers … Un petit souffle du midi …
Frau Combarieu hob die Blüten gegen ihr Gesicht …
– Weiß Gott, die ganze Côte d'azur bringst du mit … Immer hat er diese Aufmerksamkeiten, der liebe, gute Leichtsinn …
– Sie kennen die Riviera?
– Herr Deputierter: wir haben eine einzige Reise zu dreien gemacht, vierzehn Tage lang. Und die ging nach Nizza und nach Monte Carlo. Madame Bigourdan wollte, daß wir ihre Heimat sähen …
Sie drängte uns alle gegen den inneren Raum:
– Darf ich es wagen, Herr Deputierter, Sie zu bitten, mit uns Kaffee zu trinken?
– Glauben Sie mir, liebe Frau Combarieu, daß ich nichts lieber täte … Aber Sie wissen ja, welchen Ursachen ich die charmante Bekanntschaft mit Ihnen verdanke … Kaffee und Kuchen sind meiner Galle nicht erlaubt …
– Galle? sagte Frau Bigourdan … Galle gibt es nicht mehr, seitdem es die Wunder-Pillen des Doktor Caboufigue gibt … Was? Die kennen Sie nicht? Die nehmen Sie nicht? Doktor Caboufigue kommt fast jede Woche einmal bei mir vorbei … Was ich von diesem Manne gelernt habe, Herr Deputierter, und wie er mich versteht: das ahnen Sie nicht! »Der Arzt und der Schauspieler, sagt er, stehen an der gleichen Stelle. Ihre Kunst ist: ihre Rolle gut zu spielen, das heißt: auf die Einbildungskraft der Menschen so stark wie möglich zu wirken. Was sind Krankheiten? Einbildungen, die man durch Einbildungen heilt … Was ist überhaupt – nicht Einbildung? …« Herr Deputierter: als mir meine Stimmbanderkrankung den Lebensweg verlegte: als ich aus den Kulissen der Bühne in die Kulissen meines Cabinet d'aisance übersiedelte, empfand ich mich entwurzelt, ja fast entehrt … Bis ich begriff, Herr Deputierter, daß alle Kulissen des Lebens auf der gleichen Rangstufe stehen … Alle – ohne Ausnahme! Seitdem bin ich mit mir selbst in Ordnung gekommen … Nein, wir Directricen sind nicht weniger wert, als die uns in Anspruch nehmen! Wir sind auch nicht dümmer. Im Gegenteil: Nous avons notrephilosophie à nous. Ja, wir haben unsere eigene Philosophie: die Philosophie des angewiesenen Standortes. Und damit haben wir das Beste, das ein Mensch haben kann!
Frau Combarieus Augen hingen in liebender Bewunderung an der Philosophin. Dann wanderten sie zu mir hinüber:
– Comme elle parle bien, Monsieur le Député, n'es-tce-pas!
Frau Bigourdan atmete tief …
– Wird man jetzt Kaffee trinken können? fragte Herr André Pélissier, während er ein Bündel Zigaretten aus der Tasche zog …