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Darf ich Sie bitten? sagte Madame Rameau, als sie sich anschickte, mir die Zimmer zu zeigen, die ich ihr abmieten wollte …
Sie ging durch einen matterleuchteten Korridor, in dem es ein wenig nach kaltem Tabak roch, gegen den hinteren Teil der Wohnung. Sie ging schwebenden Schrittes, den Duft eines vanilleartigen Parfüms hinter sich herziehend und offenbar glücklich darüber, daß sich auf ihre Anzeige im »Figaro« so rasch ein Mieter eingefunden hatte.
– Sie werden in ganz Paris nie wieder eine solche Gelegenheit finden, sagte sie beinah feierlich. Wir vermieten nicht. Lediglich der Umstand, daß mein Sohn sich entschlossen hat, für einige Jahre die Filiale eines algerischen Obsthauses in Batna zu übernehmen, hat uns den Gedanken nahegelegt, sein entzückendes Appartement an einen uns empfohlenen Herren abzugeben … Die Zeiten sind schwer, und man hat nichts zuzusetzen, so gut es einem auch gehen mag. Fräulein Tronchin hat uns so freundliche Dinge über Ihr ruhiges Leben berichtet, daß wir kein Bedenken haben, Sie in unsrem Heime zu beherbergen, sofern Ihnen die Zimmer und die Bedingungen zusagen.
Ich antwortete nicht. Ich betrachtete Frau Rameau. Sie mochte fünfundvierzig Jahre zählen. Ihre Haare waren rötlich blond gefärbt, Puder und Schminke vermochten das »Mitgenommene« ihres hübschen Gesichtes nicht zu verbergen. In diesem Gesicht stand jedoch weit eher die Sorge als die Leichtsinnigkeit. Um den Mund lag eine Bitterkeit.
– Ihr Gatte ist Kaufmann? fragte ich.
– Monsieur Rameau hat viele und bedeutende Vertretungen. Er ist ein in der Pariser Geschäftswelt sehr bekannter Mann. Sie werden ihn wenig zu Gesicht bekommen. Er ist Tag und Nacht unterwegs. Die Arbeit ist sein Element. So war es immer, und so wird es wohl bis zu seiner letzten Stunde bleiben. Selbst die Sonntage kann er oft genug der Familie nicht widmen … Wenn ich meine alte Mutter nicht für mehrere Monate zu mir nähme, würde ich mich oft sehr, sehr einsam fühlen … Übrigens, damit Sie es sogleich wissen und sich nicht erschrecken, wenn Sie ihr einmal in dem Flure begegnen: meine Mutter ist blind … Sie tastet sich manchmal an den Wänden hin, um von ihrem Zimmer in den Salon zu gelangen …
Frau Rameau hatte eine Tür geöffnet. Wir traten in einen kleinen Raum, der an das »Boudoir« einer Kurtisane erinnerte …
– Das wäre Ihr Arbeitszimmer, sagte sie, in meinen Zügen forschend …
– Geht das auf einen Binnengarten? fragte ich, durch den Spalt eines Damastvorhangs schauend, der eine Glastür zu verbergen schien …
– Bitte, machte Frau Rameau, während sie den Vorhang zurückzog und die Türflügel nach innen öffnete – bitte …
Vor mir lag ein kleiner Garten, in dessen Mitte ein dünner Brunnenstrahl sein Silber gegen zwei rotblühende japanische Kirschbäume warf …
– Nun? Gefällt Ihnen das? Ein Garten für Sie ganz allein? Von keiner anderen Seite aus zugänglich?
– So etwas gibt es in Montmartre?
– So etwas gibt es nur in Montmartre – Übrigens: eine Erfindung meines Sohnes Georges. Der Junge hatte immer diese Liebe zum Orientalischen … Sehen Sie nur, wie geschmackvoll er sich seinen Salon eingerichtet hat. Was Sie da sehen, ist echt. Vom maurischen Rauchtisch bis zum türkischen Seidenkissen. Die Lanzen, welche den Baldachin über dem Diwan halten, sind von Berbern gekauft.
– Darf ich die anderen Räume sehen?
Frau Rameau, enttäuscht, wenn nicht beleidigt darüber, daß ich nicht in ihre Begeisterung eingestimmt hatte, zeigte mir das Badezimmer.
– Das ist herrlich, sagte ich. Das blinkt ja von Nickel und weißen Kacheln. Ist es das Badezimmer der Familie – oder …
– Es ist ausschließlich das Ihre, mein Herr … Ich werde Ihnen nachher das meine zeigen: unter der Voraussetzung, daß Sie nicht neidisch werden … Ich hoffe übrigens, Sie werden mir nicht soviel Wasser verschwenden wie mein Sohn Georges, der seine sämtlichen Freunde und Freundinnen zum Baden einlud, wenn draußen vierzig Grad Hitze waren …
– Bestimmt nicht, Frau Rameau. In meinem Alter geht man mit Freundlichkeiten solcher Art spärlicher um.
Frau Rameau lachte, während sie die Haare im Nacken betupfte …
– In Ihrem Alter? O là! In Ihrem Alter pflegt man am freigiebigsten zu sein …
– Glauben Sie?
Sie sah mich herausfordernd an. Ihre blauen Augen funkelten wie die einer Heroine in der Szene der Abrechnung:
– Ich glaube nicht: ich weiß!
– Je vous en félicite, Madame.
– Merci, Monsieur …
Schon lag ihre weißgepuderte Hand auf der Klinke einer dritten Tür …
– Ah, sagte ich, die Hand gegen die unerwartete Helle hebend, die mir aus einem weitgeöffneten Fenster entgegenkam – dieses Zimmer ist das Allerschönste an der ganzen Wohnung …
Es war ein hellblaues luftiges Schlafzimmer, in dessen Weite selbst das Doppelbett (Louis XV mit Goldgeflecht) verschwand. Durch das schönvergitterte Fenster blickte man auf einen dreieckigen Square mit Lindenbäumen, Fliedersträuchern, Jasminbüschen und drei moosgrauen Holzbänken, auf denen alte Frauen strickend saßen. Das Schlafzimmer lag also eigentlich unter freiem Himmel, mitten in Montmartre, sozusagen noch im Schatten von Sacré coeur.
Frau Rameau war glücklich. Sie wußte, daß ihr dieser Mieter nicht entgehen werde …
– Schließen Sie bitte die Augen eine Minute, lächelte sie …
Ich tat es. Ich hörte das Zurückschieben zweier Eisenriegel, dann das leise Knarren eines amerikanischen Schlüssels:
– Voilà! rief sie … Voilà, Monsieur …
Und ich stellte fest, daß dieses Zimmer eine Tür hatte, welche in die durchsonnte Verträumtheit des Squares führte …
– Sie haben Ihren eignen Eingang in die Wohnung. Ich nehme an, Sie wissen dieses Glück zu schätzen und zu – werten …
Wir waren vor die Tür getreten. Eine ziemlich steile Treppe führte von dem Boulevard bis zu dem Square und weiter aufwärts in der Richtung Place du Tertre … Wäsche flatterte zwischen den Balkonen der seitlichen Häuser gegen die Bläue des Aprilhimmels, kleine Kinder spielten auf den Stufen, Katzen sonnten sich auf den Baumästen, ein Scherenschleifer sang in das Surren seines Rades – – unten aber sausten die Wagen, schrien die Zeitungsverkäufer die Mittagsblätter aus, rannten die Menschen gegen die Untergrundbahnhöfe, strömten in ihren schwarzen Schürzen Knaben aus einer Schule auf den mittleren Gehsteig …
Ich stand und schaute, verloren in das Unsägliche dieses Frühlingstages …
Frau Rameau hatte die Rechte auf ihre volle Hüfte gestützt, die Linke vor die Augen gehoben … Sie blinzelte in die Helle. Ihre Züge waren die Züge lang vergangner Jahre geworden: entspannt, heiter fast, absichtslos … Wo mochte sie wohl aufgewachsen sein? Welche Bilder füllten ihre Jugend?
Plötzlich schaute sie mich an:
– Wie man hier so zusammensteht, sagte sie …
– Ja, erwiderte ich … wie man hier so steht …
Im Süden, hinter Montparnasse, warfen die Scheiben aufgeklappter Dachfenster ihre Blendfeuer in den mittaglichen Dunst … An der Kuppel des Invalidendomes lief das Silber in gebrochenen Bändern …
– Da unten, sagte sie, mit der Hand gegen den Horizont deutend, liegt meine Heimat: Nevers … Kennen Sie Nevers?
– Und wie kenne ich es … St-Etienne, die romanische Kirche, welches Wunder! Und der Fluß am Abend – und die Dächer des Nachts im Mondschein …
– O ja, der Fluß am Abend … Die Bootfahrten, die heimlichen, von denen die Eltern nichts wissen durften … Comme c'est loin … On dirait que ça n'a jamais été …
Sie wandte sich und trat in das Zimmer zurück – Sie nannte mir den Preis. Er war um ein Drittel niedriger als ich gedacht hatte.
– Darf ich Sie bitten, sich in das Büro meines Mannes zu bemühen. Wir wollen dort unseren Vertrag ausfertigen … Ach so … Sie haben ja noch einen kleinen Raum zur Verfügung, den ich beinahe vergessen hätte, Ihnen zu zeigen.
Nun öffnete sich die fünfte Tür vor meinen erstaunten Augen: eine fast unkenntliche Tapetentür neben dem Kamin des Schlafzimmers. Wir traten in ein schmales Gemach, dessen Fenster auf die vom Boulevard aufsteigende Treppe mündete.
– Diesen Raum können Sie benutzen, wenn Sie einmal einen Logiergast haben: das heißt unter der Voraussetzung, daß ich zur gleichen Zeit nicht ebenfalls einen habe. Darüber werden wir uns von Fall zu Fall einigen. Sie zahlen mir dann einen kleinen Betrag für Wäsche und Bedienung. Die Tür ist von beiden Seiten verschließbar.
– Ich danke Ihnen, Frau Rameau. Ich glaube jedoch kaum, daß dieser Fall eintreten wird.
– Comme vous voudrez, Monsieur. On ne peut jamais savoir … Das Leben bringt soviel Unerwartetes …
– Allerdings …
Wir waren wieder in den Flur getreten.
– O ja – und dann noch etwas … Sehen Sie: hier hört der goldbraune Fußteppich Ihres Appartements auf und beginnt der bordeauxrote des meinen … Dieser Strich ist die Grenze – Sie verstehn? In Ihrem Reiche sind Sie natürlich der unumschränkte Herr. Sie können darin tun und lassen, was Sie wollen … Diese Grenze aber – Sie verstehen? – bitte ich Sie, unter allen Umständen zu berücksichtigen …
– Aber das versteht sich doch von selbst, Madame …
– Monsieur: nichts versteht sich von selbst … und ganz und gar nicht in der Welt, so wie sie heute ist. Diese Welt ist vulgär geworden. Ich sollte meinen, daß Sie meine Ansicht teilen … Ich weiß, daß Sie es tun, auch wenn Sie mir nicht antworten –
Ich antwortete nicht. Wir gingen in das »Büro«, einen ziemlich großen Raum mit Aussicht auf den Boulevard. Hunderte von kleinen Kästen und Büchsen standen auf hohen Gestellen.
– Die Muster der Waren, für welche mein Mann die Vertretungen übernommen hat …
Ich konnte feststellen, daß es sich um Eßwaren jeder Art handelte: Gemüse, Obst, Pasteten, Kaviar, Fleischkonserven, »Spécialités régionales«, Hühnerfutter, Vogelfutter, Zuckerzeug und Schokolade … Auch Weine, Liköre, Kaffee und Tee.
Als wir eben eingetreten waren, rief eine alte Frau, die, auf einem Stock niedergebeugt, in einem Lehnstuhl am Fenster saß:
– C'est toi, mon enfant?
– Ja, Mama. Ich habe Georges Wohnung vermietet.
– Gott sei Dank, sagte leise die Blinde.
– Du meinst, es ist gut, endlich wieder einen Mann in der Wohnung zu haben, nicht wahr?
– Ja, eben, eben. In diesen Zeiten, wo man soviel von Einbrüchen hört …
– Hier ist der Herr, der nun bei uns wohnen wird … Er möchte dich gerne begrüßen …
Die alte Frau hob mir die Hand hin:
– Ich hoffe, Sie werden sich in der Wohnung meiner Tochter wohlfühlen und uns ein guter Beschützer sein …
– Ich werde tun, was in meinen Kräften steht … Aber ich glaube nicht, daß Sie sich zu sorgen brauchen.
– Ich sorge mich nicht um mich … Ich bin alt, sehr alt, und ich bin blind. Was sollte mir noch am Leben liegen? Aber ich sorge mich um meine Tochter, wenn sie nach meiner Abreise oft eine ganze Woche allein in der Wohnung ist. Denn ich bin nur im Winter hier. Anfang Mai kehre ich zu meinem Sohne nach Nevers zurück …
– Sie haben kein Dienstmädchen? wandte ich mich an Frau Rameau.
– Nein. Ich habe eine außerordentlich zuverlässige Aufwartefrau, welche täglich ein paar Stunden kommt. Sie brauchen nur Ihre Wünsche zu äußern: ich kann in jeder Minute Aushilfe bekommen, falls das nötig wäre … Das bißchen Mittagessen, das meine Mutter und ich brauchen, mache ich selbst – abends ißt meine Mutter nur einen Teller Schleimsuppe mit Rotwein – und ich gehe nebenan in das Restaurant Tellier, wo man ausgezeichnet speist. Herr Tellier ist ein guter Kunde meines Mannes. Ich empfehle Ihnen sehr, bei ihm zu essen. Sagen Sie ihm, daß ich Sie geschickt habe … Sie werden über nichts zu klagen haben … Wenn mein Mann hier ist, essen wir auch mittags unten. Sie glauben gar nicht, wieviel billiger das ist und welche Arbeit es mir spart … Ich habe gerade genug mit der Buchhaltung zu tun …
– Ja, ja, murmelte die alte Frau, meine Tochter hat viel mit der Buchhaltung zu tun, viel zu viel … Sie sollte sich das Leben leichter machen können! Es ist ihr nicht in der Wiege gesungen worden, daß sie so schuften muß …
– Meine Mutter übertreibt, lächelte Frau Rameau …
Aber dieses Lächeln war ihr ganz und gar nicht gelungen.
– Nein, nein, sagte die verbrauchte Stimme, ich übertreibe nicht … Ich weiß schon, wie du hinter allem her bist, auch wenn meine Augen es nicht mehr sehen können … Wie nutzlos sind Blinde, lieber Herr, und was könnte man in so schweren Zeiten noch alles leisten, wenn einem Gott nicht das Augenlicht genommen hätte …
– Allons, voyons, Maman – du courage! Jusqu'ici, c'est allé – et ça ira aussi demain et après-demain. N'est-ce-pas, Monsieur?
– Mais naturellement!
Als ich mich nach Unterzeichnung des Mietvertrages im Salon von Frau Rameau verabschiedete, sagte sie:
– Sie müssen nie auf die Worte meiner Mutter hören, wenn Sie ihr zufällig einmal begegnen sollten. Sie verwirrt manchmal die Dinge. Sie lebt in der beständigen Sorge, ich sei überlastet und nicht an meinem rechten Platze. Sie wissen, wie Mütter sind: sie sehen auch in den erwachsenen Kindern immer noch die Kleinen, um die sie sich einst so gebangt haben.
– Ja, Frau Rameau, ich weiß, wie Mütter sind …
Frau Rameau schaute nach einer jähen Wende des Kopfes durch den dünnen Vorhang in die knospenden Baumkronen des Boulevards.
– Es ist Ihnen also recht, wenn ich morgen nachmittag einziehe? unterbrach ich das wehe Schweigen.
– Aber selbstverständlich. Kommen Sie, wann es Ihnen paßt … Nur läuten Sie mich vorher an, damit ich Ihnen behilflich sein kann …
– Vielen Dank … Sie erlauben, daß ich einen Mann mitbringe, der mir den »Salon« etwas anders herrichtet?
– Den Salon?
– Ja, Frau Rameau. Ich habe ein paar eigne Sachen, die darin Platz finden sollen. Das ist nur möglich, wenn ich dies und jenes entferne. Auch ich habe viel zu arbeiten, sehr viel – – und das geht nicht gut unter persischen Baldachinen …
– Ach so … Sie arbeiten zu Hause – Sie arbeiten nicht in einem Büro?
– Beides, Frau Rameau. Aber das erste häufiger als das zweite …
– Also richten Sie alles so her, wie es Ihnen gefällt …
Es ist auf dem Speicher Platz genug, die überflüssigen Sachen unterzubringen … Werden Sie sich ein eignes Telephon legen lassen?
– Ja.
– Sie haben gesehen, daß der Anschluß da ist?
– Desto besser … Also morgen um drei Uhr …
– Très bien, Monsieur. Au revoir, Monsieur …
Ich ging die Stufen hinunter. Auf halber Höhe der Treppe war die Loge der Concierge. Sie öffnete die Glastür, als sie mich kommen sah:
Verzeihen Sie: sind Sie mit Frau Rameau einig geworden?
– Jawohl. Ich werde morgen einziehen. Sie werden mir mit den Koffern etwas behilflich sein?
– Aber selbstverständlich … Schön, die Wohnung, was?
– Sehr schön. Und morgen abend wird sie noch schöner sein …
– Noch schöner?
– Ja – in meinem Sinn …
– Ach so … Kommen Sie doch bitte einen Augenblick herein … Ich möchte Ihnen etwas sagen …
Sie schloß die Tür und zog mich gegen einen Alkoven, in dem ein Diwan stand.
– Können Sie schweigen? Unbedingt schweigen?
– Das kann ich, wenn ich es für nötig halte.
– Nehmen Sie sich vor dem Alten in acht, wenn er einmal auf ein paar Tage herkommt … Weiter sage ich Ihnen nichts. Nehmen Sie immer den Sondereingang – und bringen Sie sich dann und wann etwas recht Hübsches mit, verstanden? Und wenn Sie dies oder jenes besorgt haben wollen, wenden Sie sich an mich … Ich kenne mich in den Geschäften besser aus, als die Aufwartefrau. Die Anmeldung besorge ich Ihnen …
Ich musterte die hagere Frau von Kopf bis zu Fuß. Dann gab ich ihr Geld, das sie in ihre Bluse schob.
– Je suis à votre service, Monsieur, sagte sie dankend. Endlich einmal ein Herr in diesem Bijou von einer Wohnung … Pourvu que cela dure …
Kein Zweifel: ich war in ein Paradies eingezogen. Tagelang bekam ich die Frauen überhaupt nicht zu Gesicht. Gespräche fanden nicht mehr statt. Ordnung und Sauberkeit ließen nicht das geringste zu wünschen übrig. Das Frühstück war ausgezeichnet. Niemals brauchte ich den Wohnungsbereich Frau Rameaus auch nur zu betreten … Dann kam der Tag, an dem die Blinde von ihrem Sohn abgeholt wurde. Als sie sich von mir verabschiedete, hielt sie lange meine Hand:
– Ich gehe diesmal leichter, weil ich weiß, daß nun ein so ruhiger Mann hier im Haus ist. Gebe Gott, daß ich Sie bei meiner Rückkehr im November wiederfinde … Arbeiten Sie nicht zuviel! Und vor allen Dingen nicht zu spät in die Nacht! Der Schlaf vor Mitternacht ist der gesündeste.
Dann, leise an meinem Ohr:
– Halten Sie mich auf dem laufenden, wie es meiner Tochter geht … Ich mache mir viel Sorge um ihr Leben …
Einen Tag nach der Abreise der alten Mutter kam der Herr des Hauses von einer »Tournée« in Südfrankreich zurück. Ich hatte mich gerade umgezogen, um einer Abendeinladung zu folgen, als Frau Rameau an die Tür klopfte.
– Monsieur Rameau möchte sich gerne mit Ihnen bekannt machen …
– Ich bitte ihn, in das Arbeitszimmer zu gehen. Ich komme sogleich.
– Bien, Monsieur …
Als ich eintrat, stand mir ein Boxer gegenüber, ein blonder, gutgekleideter Mann mit einem brutalen, engen Kopf, der in kerzengrader Linie aus breitem Nacken aufstieg. Er hielt mir eine Pranke entgegen, die meine Hand mit einem einzigen Griffe hätte zermalmen können.
– Enchanté, Monsieur …
– Enchanté, Monsieur … Nehmen Sie bitte Platz …
– Sie haben hier Luft gemacht, sagte er, sich umsehend …
– Ja. Ich brauche Platz für meine vielen Bücher …
– Ich verstehe … Jeder muß sich sein Leben nach seinen Neigungen einrichten …
– Nach seinen Anlagen und Fähigkeiten, Herr Rameau …
– Wie Sie wollen … Bücher sind nichts für mich … Sie werden verschwinden, glauben Sie mir. Das Radio und der Film werden sie überflüssig machen …
– Gewisse Bücher, vielleicht. Aber bis dahin hat es noch gute Weile …
– Möglich … Meine Frau sagt mir, Sie leben sehr ruhig … Warum? Sie brauchen sich hier keinen Zwang aufzuerlegen …
Er beugte sich ein wenig vor:
– Nutzen Sie die Jahre aus, sage ich Ihnen … Gerade die Ihren sind die besten … Erledigen Sie noch, was Sie können, ehe Sie zu bequem werden, sich – »dafür« auszuziehen …
– Sie sprechen aus Erfahrung?
– Bei meinem Wanderleben, Sie verstehen? Bei meiner Konstitution! Dazu Tag und Nacht unter Alkohol und gepfefferten Speisen! Wo wollen Sie Ihre Ware absetzen, wenn nicht beim Fressen und Saufen … Die Lieferungszettel werden am hemmungslosesten unterschrieben, wenn ein Wirt einen sitzen hat und den ersten Druck auf der Leber spürt.
– Jeder Beruf hat seine Schwierigkeiten …
– Na – sehr unterschiedliche …
– Aber in dem Ihrigen wird wenigstens gut verdient?
– Ich kann nicht klagen. Die Unkosten sind allerdings sehr groß … Ich gebe zu: ich brauche allerlei für meine Bärennatur, wenn ich gute Arbeit leisten soll …
– Ich nehme an, Sie werden sich jetzt hier in Paris ein wenig Ruhe gönnen?
Herr Rameau zog seine Lippen in die Breite, senkte die Mundwinkel und sah mich mit einem lauernden Blick an:
– Ruhe gönnen? So was gibt es nicht in meinem Leben, lieber Herr … Ich werde vierzehn Tage lang meine hiesigen Kunden bearbeiten – und dann in die Kolonien gehen … Sie wissen, ich habe meinen Sohn drüben … Keine reine Freude, einen Sohn zu haben, den die Mutter verzogen hat … Der Junge hat kein Gefühl für das, was »Geschäft« heißt … Skrupel, Bedenken, Mangel an Zähigkeit – und den Kopf voll von »Fummel« …
Er wollte, daß ich ihm einen Modesalon einrichte! Fällt mir ein! Ich werde für seidne Lappen riskieren, was ich mit Freßware schwer genug verdient habe … Zuzusetzen hat heute keiner etwas … Ich weiß, warum ich vermiete … Was eingebracht werden kann, muß herein! Drei Jahre Untermiete – das macht schon eine ganz schöne Summe …
– Drei Jahre … Solange vermieten Sie schon?
– Seit der Junge draußen ist …
– Hatten Sie nette – Untermieter? …
Herr Rameau lachte und schlug sich mit der Hand auf das Bein, während er aufstand:
– Ich hatte einige recht passable »poules« hier wohnen … Stars vom Varieté »Les Joies de Paris«, drüben, auf der anderen Seite … Die waren hier wie im Himmel …
– Das kann ich mir denken …
Herr Rameau schaute nach der Stelle, wo der türkische Diwan gestanden hatte:
– Schade eigentlich, daß Sie das Ding fortgetan haben … Sie gehören zu den Altmodischen, was? Das Bett – und zartes Geflüster?
– Nicht in diesem Sinne … Aber ich bin in schönes weißes Leinen verliebt …
– Na – das haben Sie ja hier im Hause. Die Wäsche, die meine Frau in die Ehe gebracht hat, ist nicht von schlechten Leuten … Wie gefällt Ihnen meine Frau?
– Ausgezeichnet. Sie können sich gratulieren, eine so fleißige Gehilfin zu haben …
– Ja, fleißig ist sie … Und sparsam auch … Sparsamer als ich … Aber zum Donnerwetter: das ist doch auch ihre verdammte Pflicht! Was fehlt ihr? Sie kann sich alle Vergnügungen leisten, auf die sie Wert legt und hat einen Mann, der sie auch nach fünfundzwanzig Jahren Ehe noch nicht vernachlässigt … Wenn sie etwas weniger dem Einfluß ihrer blinden Mutter unterworfen wäre, hätte sie es leichter als sie sich's macht … Übrigens: wir möchten uns revanchieren für die schönen Rosen, die Sie ihr neulich zu ihrem Geburtstag geschenkt haben … Wollen Sie morgen abend mit uns in der Reine Pédoque essen? Ich liefere dorthin en masse … Sie werden ein phantastisches Diner bekommen … Im Séparé … Ich werde noch einen Geschäftsfreund mit seiner Freundin bitten … Also abgemacht. Ich hole Sie hier um halb neun ab, und wir fahren mit meinem Wagen hinunter … Ich will Sie jetzt nicht aufhalten … Vous allez dans le monde … Viel Vergnügen … Ich habe mich sehr gefreut … Auf Wiedersehn …
Eine Minute später tönte aus dem Korridor seine Stimme:
– Was? Du bist noch im Hemd? Ich werde dir Beine machen, ma chérie … Wie lange brauchst du denn, um das Gestell in Ordnung zu bringen? Wenn du in einer Viertelstunde nicht fix und fertig bist …
Der Rest des Satzes wurde von einer zufallenden Tür verschluckt.
Am 10. Mai verließ Herr Rameau Paris mit dem Flugzeug, um sich in Marseille nach Algier einzuschiffen. Am Abend desselben Tages bezahlte ich seiner Frau eine Rechnung für einige Auslagen. Sie saß, eine Stickerei in der Hand, am offnen Fenster des Salons, durch das eine leichte Brise den Duft regenfeuchten Laubes vom Boulevard herübertrug. Sie schien erleichtert, glücklich …
– Sie erwarten keinen Logierbesuch in den nächsten vierzehn Tagen? fragte sie, ohne mich anzusehen …
– Nein, Frau Rameau. Im ganzen Sommer nicht. Am 1. Juli gehe ich, wie ich Ihnen schon sagte, für zwei Monate nach England. Im September allerdings werde ich wohl Besuch mitbringen …
– Mein Gott, bis dahin, seufzte sie …
Pause. Draußen lichtete sich der Himmel auf. Gold flog von Westen her in die Baumkronen …
– Sagen Sie, Frau Rameau, wie sind Sie eigentlich mit Ihrem Untermieter zufrieden?
– Durchaus nicht …
– Wieso? Ich mache doch gar nichts …
– Eben deswegen! lachte sie laut …
– Es tut mir leid, daß ich Sie so sehr enttäusche –
– Nein, Sie enttäuschen mich nicht. Ich habe mir einen Witz erlaubt. Ich habe größtes Zutrauen zu Ihnen. Ich glaube nicht, daß Sie einer Frau Böses antun könnten …
– Also was wollen Sie mir anvertrauen?
– Anvertrauen? Nichts. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß Sie an einem der nächsten Tage einen Nachbarn in dem kleinen Tapetentürzimmer bekommen werden, meinen Neffen Roland, den Sohn meiner Kusine Thérèse Levavasseur, einen sehr wohlerzogenen jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren, der im französisch-schweizerischen Zolldienst beschäftigt ist und seine Ferien in Paris verbringen möchte. Da er, wie Sie sich denken können, gerade nicht im Golde schaufelt, habe ich ihm angeboten, bei mir zu wohnen. Das ist vielleicht in Abwesenheit meiner Mutter und meines Mannes etwas leichtsinnig – aber, mein Gott: mit allen Vorsichten der Welt kommt man ja doch um das Gerede nicht herum, wenn man so viel allein ist wie ich. Schließlich dürfte ich Sie ja dann auch nicht in der Wohnung behalten, nicht wahr? Wo soll man mit den Vorsichtsmaßregeln anfangen und wo enden? Solange ich mit meinem Gewissen in Ordnung bin, ist mir der Rest gleichgültig. Ich habe nur, um vor dieser bösartigen Concierge meine Ruhe zu haben, eine einzige kleine Bitte an Sie, die Sie mir bestimmt erfüllen können: Wenn Herr Levavasseur Ihnen gefällt – und er wird Ihnen gefallen –, dann lassen Sie ihn doch ab und zu einmal – gemeinsam mit Ihnen – Ihren Sondereingang benutzen. Die Concierge sieht jeden Menschen, der da auf und nieder geht …
– Aber selbstverständlich …
– Vielen, vielen Dank für Ihre Zusage. Zeit stehlen oder Ihnen zur Last fallen wird dieser junge Mann bestimmt nicht … Er hat die Gründlichkeit der Provinz. Er geht in Museen, sieht sich alle Denkwürdigkeiten der Stadt an und wird nur am Abend mit mir draußen essen oder ins Theater gehen …
Wissen Sie übrigens, daß wir hier in nächster Nähe eine ganz ausgezeichnete, wenn auch altmodische Bühne haben, die den Namen führt: Le Théâtre du temps passé? Dort müssen Sie hingehen. Vielleicht sehen wir uns dort einmal alle drei ein Stück an, was meinen Sie?
– Warum nicht?
Ich erhob mich. Auch Frau Rameau stand auf und machte mit mir ein paar Schritte durch das Zimmer … Sie kämpfte mit einer inneren Entscheidung … Sie wollte noch etwas sagen, das ihr nötig erschien – – aber das Wort blieb aus …
– Bonne soirée, sagte sie schließlich, als ich mich verabschiedete … Ich glaube, ich werde mich bei einer Freundin ansagen … Ich möchte heute abend nicht gern allein sein …
Nun hatte ich eine Entscheidung zu fällen:
– Willst du noch weiter ins Vertrauen gezogen werden oder nicht?
– Nein, sagte die Stimme mit unerbittlicher Härte. Die äußerste Grenze ist lange erreicht.
Herr Maurice Levavasseur gefiel mir ausgezeichnet. Er war ein gesetzter, kluger, lebendiger Mensch, völlig unverbraucht und voraussichtlich auf unabsehbare Zeit hin unverbrauchbar. Er war groß, gut gewachsen, dunkel von Gesichtsfarbe und schwarz von Haar. Das Bäurische seiner Herkunft ließ sich in nichts verleugnen. Und eben dieses machte ihn so angenehm. Wo und wie Frau Rameau an ihn geraten war, blieb unergründlich. Nicht minder unergründlich, wie und wodurch er sich hatte fangen lassen. Denn es blieb unvorstellbar, daß … Ich erschrak ein wenig über die Selbstverständlichkeit, mit der er sich an mich schloß. Frau Rameau schien diese Annäherung nicht ungern zu.sehen …
– Gott, sagte sie eines Tages, der gute Junge hat noch soviel zu lernen! Comment voulez-vous qu'on s'élève dans la banlieue?
– Nennen Sie Bellegarde »la banlieue«?
– Ich nenne »banlieue« alles, was nicht Paris ist …
Ich fand gar nicht, daß der »gute Junge« noch soviel zu lernen habe. Ich fand vielmehr, daß sich Frau Rameau als sehr schlechte Menschenkennerin erwies, indem diese ihren Neffen zu einem Ferienaufenthalte nach Paris einlud – und ich war überzeugt, daß das Gelächter und Gezwitscher, das beschwingte Hin und Her durch die Wohnung, das Gekoche und Gemische von Schleckereien der ersten drei Tage sehr bald einen gemäßigteren Rhythmus annehmen werde.
Schon am vierten Tage seines Aufenthaltes hatte »Monsieur Maurice« entdeckt, daß es ein Pariser Nachtleben gab. Was ihn veranlaßte, erst am Vormittag des fünften nach Hause zu kommen … Am sechsten Tag fuhr er nach Chartres, um in der berühmten Kathedrale zu beten, kehrte aber vor dem Abend des siebenten nicht zurück … Von diesem siebenten, der ein Samstag war, weiß ich nichts. Am achten schwebte Frau Rameau wieder lächelnd durch die Wohnung. Am neunten, zehnten und elften Tag betrat »Monsieur Maurice« durch meinen Sondereingang das Haus, da er wußte, daß ich noch spät arbeitete. Er brannte darauf, mir seine Abenteuer zu erzählen und sich bei mir Rat zu holen … Was er erlebt hatte, übertraf nicht den Durchschnitt der Montparnasse-Erlebnisse. Ihm selbst wollte es außergewöhnlich erscheinen. Ich ließ ihn in seinem Glauben. Am zwölften Tag gingen wir zu dreien in das »Théâtre du temps passé«. Es war ein recht trauriger und gequälter Abend … Am dreizehnten Tag verschwand der Zöllner abermals, um erst in der Frühe des fünfzehnten Tages wieder zu erscheinen – er gab an, bei einem Freunde in Rouen gewesen zu sein – und am gleichen Tag, das heißt in der Nacht zum sechzehnten, kam die Bombe zum Platzen.
Es mochte zwei Uhr sein. Ich war von einem Sommerfest in Neuilly nach Hause gekommen, und hatte, vom Tanzen schlaff und feucht, mir eben mein Bad gerichtet. Die Nacht war sehr heiß, eine verfrühte Vorläuferin jener Juni-Nächte, in denen die Luft über der Stadt wie fortgenommen erscheint.
Während ich meine Kleider in Ordnung legte, Manschetten- und Brustknöpfe aus dem Hemd entfernte, die Unterwäsche in den Korb warf, wurde stark an die Tür geklopft. Noch ehe ich antworten konnte, stand Frau Rameau vor mir, aufgelöst vor Entsetzen – und gleichzeitig fast heroisch in ihrer diktatorischen Entschlossenheit.
– Zu überflüssigen Erklärungen ist keine Zeit. Es geht um mein Leben. Mein Mann hat mich mit Maurice bei Graff gesehen. Er ist offenbar unerwartet – oder durch Spitzel unterrichtet – zurückgekommen. Nehmen Sie Maurice zu sich und erklären Sie ihn als ihren Gast. Der Name stimmt. Mein Neffe … enfin: überflüssige Erklärung. Ich rechne auf Sie. Hören Sie genau, was sich in der vorderen Wohnung ereignet. Ich wiederhole: es geht um mein Leben.
Sie verschwand. Ich entriegelte die Tapetentür. Der Neffe hatte offenbar schon auf diesen erlösenden Augenblick gewartet.
– Ist das Zimmer gegen das Schlafzimmer von Frau Rameau abgeriegelt?
– Jawohl.
– Liegen bei Frau Rameau keine Dinge, die Ihnen gehören?
– Nein. Ich war niemals in ihrem Zimmer …
– Kommen Sie – rasch: Pyjama aus. In meine Badewanne. Sie sind mein Gast. Wir kennen uns von Genf her … Haben in Savoyen Bergtouren gemacht …
Durch den Korridor tönten die Faustschläge des Hausherrn gegen die Eingangstür … Und nun, deutlich vernehmbar, die heiser herausgebrüllten Worte des Betrunkenen:
– Willst du jetzt wohl aufmachen? Was? Du verdammte Metze … Soll ich die Tür eintreten oder die Polizei rufen?
Es erfolgte keine Antwort. Die Faustschläge wiederholten sich, heftiger als zuvor, und von Fußtritten begleitet …
Ich ging nach vorn. Frau Rameau, schlotternd vor Angst, lehnte an der Wand des Korridors –
– Was ist denn los, Herr Rameau? fragte ich. Können Sie denn nicht schellen, damit man Ihnen aufmacht?
– Halten Sie Ihr Maul! Hier bin ich der Herr im Haus …
– Das sind Sie. Aber Sie scheinen den Verstand verloren zu haben. Ich werde die Überfallstelle anrufen. Gemeingefährliche muß man erst zur Vernunft bringen …
– Wenn Sie das tun, fliegen Sie morgen aus meiner Wohnung …
– Oder auch nicht …
– Wollen Sie jetzt aufmachen?
– Ich habe in Ihrer Wohnung nichts auf – und nichts zuzumachen.
– Sodom und Gomorra! Ich will ein Haufen Hundedreck sein, wenn ich diese Tür nicht aufkriege …
Wieder ein Schlag – und gleich darauf ein gurgelnder Schrei … Dann ein Kullern, wie wenn ein Körper die Treppe herunterrollt …
Frau Rameau wimmerte auf und glitt zu Boden …
– Mein Gott, mein Gott, wenn er tot ist …
Nun heulte es aus der Wohnung der Concierge herauf:
– Madame Rameau, Madame Rameau … Ihr Mann liegt blutend auf der Stufe – Madame Rameau, ihr Mann antwortet nicht mehr …
– Raffen Sie sich auf, Frau Rameau, rief ich … Sie erklären sich schuldig, wenn Sie jetzt nicht sofort hinuntergehn … Ich telephoniere auf die Unfallstation … In fünf Minuten ist Hilfe da. Man muß Sie um Ihren Mann bemüht finden.
– Ich gehe, sagte sie, plötzlich zu sich kommend und die Lage begreifend …
Als der Arzt mit dem Krankenwärter kam, wurde festgestellt, daß Herr Rameau, sinnlos betrunken, sich beim Anrennen mit dem Kopf gegen den Türknauf ein Loch in die obere Stirn geschlagen, im Herunterrollen auf der Treppe aber das linke Bein gebrochen hatte. Die Verbände und Schienen konnten auf der Unfallstation angelegt werden. Eine Überführung in ein Krankenhaus war nicht nötig.
Ich begleitete Frau Rameau im Krankenwagen. Der Verletzte phantasierte wie im Delirium …
Sie blieb auf der Station. Ich kehrte in die Wohnung zurück …
– Es bleibt alles bei unsren Abmachungen? Ich kann nun meinerseits auf Sie zählen, Frau Rameau?
Sie nickte unter Tränen.
– Bestimmt?
– Hier ist meine Hand …
– Gut.
Als ich zurückkehrte, stand die Concierge vor der offnen Haustür, umringt von allerlei Leuten, die dem Abtransport beigewohnt hatten …
– Allons, Madame, sagte ich barsch … Es ist drei Uhr nachts. Schließen Sie …
Ich schob sie in das Innere des Hauses und warf die Tür ins Schloß …
Sie sah mich aus ihren frechen Augen an.
– Ja, ja … Das kommt davon …
– Was kommt von was?
– Daß man verpfiffen wird, wenn man sich Liebhaber hält, solange der Mann auf Reisen ist …
– Können Sie etwas beweisen?
– Na wozu soll denn der Schwarze dagewesen sein?
– Der Schwarze? Sie meinen wohl Herrn Maurice Levavasseur? Der hat mit Madame Rameau nicht mehr zu tun als ich, verstehen Sie? Der ist, als mein Bekannter, bei mir zu Gast gewesen und hat von fünfzehn Nächten zehn nicht im Hause zugebracht. Merken Sie sich wohl, was ich Ihnen sage! Denn wenn Sie noch eine einzige dreckige Bemerkung machen, dann werde ich dafür sorgen, daß Ihnen das Maul gestopft wird … Haben Sie mir nicht selbst, ohne daß ich Sie je mit einer Frage angegangen wäre, vor Zeugen erzählt, daß Herr Rameau ein Quartalsäufer sei und seine Frau schon mit der Hundepeitsche geschlagen habe? Also Vorsicht, Madame …
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– Was soll ich tun? fragte Maurice Levavasseur, als ich zurückkam.
– Das einzig Mögliche: noch ein paar Tage hierbleiben. Als mein Gast.
– Ah – wie soll ich das annehmen …
– Aber Sie haben doch auch die Einladung von Frau Rameau angenommen …
– Leider! Leider! Wenn Sie wüßten … Einmal ist da unten in Savoyen eine Dummheit vorgekommen … Was wollen Sie denn machen, wenn eine unglückliche Frau, die Ihnen damals als der Inbegriff der Pariser Eleganz und Anmut erschien, Sie nun nicht mehr los läßt und Sie fast täglich mit Briefen bombardiert, mit Telegrammen und Paketen, daß Sie schon das Gespött der Post in Ihrem Nest werden? Wenn eine Frau ihr Leben an Sie hängt – und dieses Leben vielleicht in einem Augenblick der Verzweiflung von sich wirft, weil man das bißchen Freundlichkeit nicht aufbringt, um das es ihr geht? Was wollen Sie denn machen in einem solchen Falle?
– Dieser Frau mein Bild verleiden – ihre Wünsche ablenken – ihre Überlegenheit beweisen …
– Habe ich hier anderes getan?
– Ich weiß es nicht.
– Aber ich … Und mir geschworen, daß ich diese Klasse in der »École des Femmes« nicht noch einmal durchmache …
– Ich glaube, daß Sie diesen Schwur nicht zu brechen brauchen … Gehen wir schlafen … Das Weitere wird sich morgen finden.
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Der junge Arzt, welcher auf der Unfallstation Herrn Rameau verbunden hatte, erwies sich bei seinem ersten Besuch in der Wohnung als ein ausgezeichneter Seelenkenner. Er bürdete alle Schuld dem Alkohol auf und donnerte mit leisester Stimme den Verletzten in einen Zustand wahrer Zerknirschung:
– Sie sehen, sagte er ganz ruhig, was dieses » animal alcohol« alles anzurichten vermag: es läßt uns Gespenster sehen, die nicht sind, macht uns selbst zu Tieren, zu Mördern vielleicht, und wirft unsre intimsten Angelegenheiten in den Schmutz der Straße. Wären Sie an dem Abend Ihrer Rückkehr nüchtern gewesen, hätten Sie sich das größte Vergnügen daraus gemacht, einem harmlosen jungen Mann, der die Freundlichkeit hatte, Ihre Frau ins Theater einzuladen und danach mit ihr noch ein Glas Bier zu trinken, Ihren Dank abzustatten, wie dies ein Herr tut. Statt dessen haben Sie sich in die Rolle des »cocu« einer Radaukomödie verrannt. Dabei können Sie noch von Glück sagen, daß die Sache – dank meinen Auskünften – nicht in die Boulevardblätter kommt, sondern das Geheimnis von fünf Menschen bleibt, welche zu schweigen wissen. Das ist wohl die Erkenntnis wert, daß Sie sich in Zukunft im Trinken Beherrschung auferlegen werden. Sie haben ja – außer Ihrer tapferen Frau – schließlich noch einen Sohn, der gerne einen sauberen Namen tragen möchte.
Und die Bulldogge, die mit einem Tüllturban um den Kopf und Schienen um das Bein hilflos im vielzubreiten Ehebett lag, hatte wie ein Kind geheult, reumütig um Verzeihung gebeten – die Frau, den Zollbeamten, den Arzt, mich selbst – und bei allen Heiligen ihrer normännischen Heimat geschworen, daß nun ein andres Leben beginnen werde.
Drei Tage später reiste Maurice Levavasseur in seinen Zolldienst zurück. Spät am Abend, als man den Kranken, der oft an starken Schmerzen litt, mit Morphium eingeschläfert hatte, saß Frau Rameau bei mir im Garten vor meinem Wohnzimmer. Sie hatte sich wirklich tapfer gehalten – schien aber nun am Ende ihrer Kräfte.
– Sie wissen alles, sagte sie, langsam ihre Zigarette rauchend, alles. Jeden Zusammenhang. Sie wissen, welche Hölle mein Leben seit zwanzig Jahren war, und wie ich glaubte, mir ein wenig Linderung verschaffen zu können.
Wo Heimlichkeiten sein müssen, müssen auch Lügen sein, nicht wahr? Sie werden diese Wahrheit bei Ihrer Beurteilung in Rechnung stellen … Sie sind, ohne es je gewollt zu haben, in ein menschliches Schicksal gezerrt worden, das nicht den geringsten Bezug zu dem Ihren hat – und umgekehrt.
Seien Sie ehrlich, und geben Sie zu, daß Sie vom ersten Augenblick an – von der Minute an, als wir an jenem Aprilmorgen auf der Treppe standen – die Grenze gegen mich abgesteckt hatten … Überschritten habe ich sie dann später – in meinem Bedürfnis nach, sagen wir, Rückendeckung …
Enfin. Irren ist menschlich. Ich hätte diese Rückendeckung nicht erstrebt, wenn ich mich Ihnen erst einen Tag nach der Ankunft meines früheren Freundes eröffnet hätte: denn es wäre nichts mehr zu eröffnen gewesen. Dieser Besuch war beendet, ehe er begann … Auch dies haben Sie sofort begriffen … Sogar, was ich in diesen Tagen litt, ist Ihnen klar gewesen: nicht litt, weil mir gewisse Wünsche nicht erfüllt wurden: sondern weil ich fühlte, daß meine Macht – als Macht der Frau erloschen war …
Sie griff mit der Linken in die Efeublätter der Wand und hob den Kopf gegen das gestirnte Viereck des Nachthimmels …
– Ich habe lange um einen Entschluß gekämpft, den ich Ihnen noch mitteilen möchte. Ich weiß, daß Sie ihn richtig verstehen werden: Ich muß Ihnen zum ersten Juli kündigen.
– Ich wußte, daß Sie das tun würden …
– Dann sind wir einig. Man kann eine Niederlage schließlich überwinden, aber man kann es nur ganz, wenn der befreundete Zeuge dieser Niederlage einen nicht täglich daran gemahnt, was ein Leben hätte sein können – und was es nicht gewesen ist …
Es wird gut für Sie sein, wenn Sie dieses Viertel wieder verlassen – so schön Sie es hier in der Wohnung auch hatten. Sie gehören nicht auf die äußeren Boulevards … Und dann: im Herbst wird der Square verschwinden samt der Treppe … Es werden große Mietshäuser gebaut … vielleicht sogar wird dieses Haus abgerissen … Ich will versuchen, meinen Mann zu bestimmen, nach Nevers zu ziehen. Dort bin ich lange gut aufgehoben. Und wenn er geschäftlich in Paris zu tun hat, kann er sich ja austoben. Das braucht er. Er ist kein schlechter Mensch – er ist ein Ding zwischen »bonne bête« und »brute« … Man hatte mich seiner Zeit gewarnt, als ich mich in ihn verliebte … Aber die Anziehungskraft der »brute« war größer als die Vernunft. Vielleicht ist nun der Umschwung zugunsten der »bonne bête« erreicht … Was für mich dabei herauskommt, bleibt abzuwarten …
So … das war, was ich Ihnen noch sagen wollte … Als letztes aber: vergessen Sie Ihr Montmartre-Intermezzo und alle Personen, die darin eine Rolle gespielt haben … Es lohnt sich nicht für Sie, es nicht zu vergessen … Bonne nuit, Monsieur, et bon repos …