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Auch in der Dichtung will man die Dinge heute aus dem Bereich des »Übernatürlichen« entrückt und auf das »rein Menschliche« beschränkt wissen. Gibt es aber etwas »rein Menschliches«, so ist es die Abhängigkeit vom Ungewissen, das Tasten der zaghaften Seele am Rande des Dunkeln und Unbekannten, das bange Pochen an der Pforte der Zukunft, die schauernde Umschau nach Erkenntnis und Erleuchtung, die bebende Frage nach dem Bevorstehenden, das furchtsame Lüften des Schleiers über dem Verborgenen, die Angst um Gewißheit. Diese Angst in der Not des Daseins, die zum Forschen nach dem Unerforschlichen, zum Ergründenwollen des Unergründlichen treibt, ist der ureigentliche Grund, die Mutter alles Glaubens und Aberglaubens. Jeder weist in den Rätseln des Lebens zum Vertrauen auf göttliches Walten, auf eine Vorsehung. Wenn aber alles Hoffen fehlschlägt und versagt, und alle Ergebung nicht mehr vorhalten will, die Seele auf das Marterbrett vergeblichen Harrens gespannt wird, in Not und Angst, wo jede Aussicht auf Hilfe trügt, die Menschen kalt und verständnislos für unser Leid, unseren Gram, unseren Kummer vorübergehen, daß wir das Herz mit seiner Qual jeder Klage verschließen; wenn selbst das Gebet keinen Trost mehr gewährt und die Verzweiflung Auskunft und Hilfe vom Unbestimmbaren heischt: da faßt die arme Menschenseele auch nach dem Strohhalm, den der Aberglauben über den Abgrund legt, und ist der Halt noch so trüglich, so war doch wieder eine Hoffnung erregt und hat einige Schritte weitergeholfen auf dem Weg zum dunklen Ende.
Die Klugen raten zu Nichtbekümmernis um das Künftige; es werde schon gehen und unser Lebensdrang sich unbewußt hinüberhelfen über den Verderben drohenden Spalt. Und wir gelangen wohl auch hinüber, aber: wie?
Wenn der Adventnebel draußen alles grau umflort, oder der Regen stürmisch um den Giebel platscht, oder der Schnee nicht aufhören will, zu fallen und um Berg und Tal die weiße Hülle sich legt, sitzt gar manches verlassene Mädchen traurig beim Rädchen, spinnt und spinnt ihre unausgesprochene Kümmernis in den Faden hinein und wartet auf die Stunde, wo sie, unbehelligt vom Hohn der Menschen, der innersten Empfindung nachhängen darf, und ganz im stillen eine Frage an das Schicksal oder vielmehr an den geheimnisvollen Zauber zu stellen, den der Volksglauben um diese Zeit walten läßt. Sie hofft vielleicht selbst nicht viel davon, denn auch die Flügel ihrer Hoffnung ermatten in der trüben Zeit; doch sie will auch diesen Schritt nicht versäumt haben, ehe sie alles aufgibt und ihr Los verzweifelnd hinnimmt.
Nach dem Mittagstisch saß auch die Tochter der Juliane Groß in Oberhofen an der Kunkel und spann still ihre Gedanken mit auf die Spule. Nach drei Uhr, da es schon zu dämmern begann, stellte sie ihr Rädchen beiseite und schlüpfte hinaus, über die Straße. Sie ging durch den offenen Hof nach dem Wiesengrunde hin auf dem bereits der Adventnebel lag. Jenseits der Wiesen verfolgte sie rasch den Pfad über den Kirchberg. Niemand war um den Weg, und als sie aus dem tiefen Einschnitt auf die Höhe der Straße gelangte, glühte es noch in den bereits verlassenen Hanflöchern; aber wo eben noch die Hanfbrechbänke geklappert hatten war es bereits abendlich still.
Nach wenigen Schritten die Straße hinunter, leuchtete ihr schon das Herdfeuer eines abgelegenen, von Bäumen und Reben fast verdeckten niederen Hauses entgegen, nach dem sie sich wandte. Es war die »Kuckuckshütte«. Das Dach des in den Hügelhang hinein gebauten Häuschens stand nach zwei Seiten auf der Erde auf; die der Straße zugekehrten Fenster hatten bleigefaßte Rundscheiben, und eine in die Quere geteilte Tür, deren untere Hälfte zugeklinkt war, während aus der oberen offenstehenden der Rauch herausquoll und im Hintergrund das Herdfeuer leuchtete. Bei dem Feuer saß spinnend eine alte Frau mit einem rund um den Kopf anliegenden, schwarzgetüpfelten Nebelkäppchen, aus dem noch dicke Strähnen braunen Haares quollen. Auf der Brüstung der geschlossenen unteren Türhälfte saß ein Kätzchen, und als sich nun die Frau erhob, um zu sehen, wer komme, erschien ihr Brustbild im braunen Türrahmen, wie ein Porträt von Franz Hals oder Jean Steen. Ohne Neugierde trat sie dann zurück, indem sie einige sogenannte »Stacheln« – Kiefernäste – dem Herdfeuer zulegte, daß es prasselte und knisterte, indes die Frau sich wieder hinter ihr Rädchen setzte.
»Guten Abend, Weberin«, sagte Susel.
»Was wollt Ihr?« fragte die Frau, deren volles Gesicht mit rötlichen Wangen voll Runzeln einen finsteren Ausdruck hatte, der durch den etwas vorgeschobenen Unterkiefer und den festgeschlossenen, sonst üppigen Mund noch gesteigert wurde. »Seid Ihr durstig, wollt Ihr einen Trunk Wasser oder Milch?« Und sie sah dabei nicht auf.
»Weder Milch noch Wasser, mich dürstet nach anderem, um mit der Schrift zu reden«, sagte Susel. »Ich möchte fragen, ob Ihr unser Garn bald auf den Webstuhl bringen könnt, und dann – noch etwas anderes.«
»So. Reiche Leute kommen nie, um etwas zu bringen, sondern stets um etwas zu fordern. Wer seid Ihr?«
»Susanna Groß.«
»Von Oberhofen? Warum kommst du denn nicht herein?« Und die Frau stand auf und ließ die Außenstehende eintreten.
»Dein Vater, der gute Mann, hat meinem Tochtermann aus der Not geholfen. Schad' um ihn, recht schade. Was kann ich Arme sonst für dich tun? Kann mir's denken, warum du kommst. Ja, guck! Bei all dem Reichtum auch ein Kreuz; sonst wär's gar zu ungerecht ausgeteilt in der Welt. Bei unsereinem heißt's: Wie gefällt sie dir? Bei euch: Was bringt sie dir? Nun soll die Weberin helfen, die Hexe, und andere sehen im hartherzigen Reichtum zu, wie sich andere zu Tod schinden oder grämen. Aber, ich habe keine Liebstöckl für dich, keinen Liebstrank, kann dir nicht helfen; bin keine Hexe, möcht aber manchmal eine sein, um die Hartherzigen zu peinigen – das sag' ich dir, denn du, hört man, bist gut gegen arme Leute.«
»Mein ich, Ihr schickt mich auf den Hexenplatz nach einem zu fragen und jetzt ist's nichts«, sagte Susel, sich mit einem nicht ganz aufrichtigen Lächeln erhebend.
»Das kannst du ja tun, wenn dir's auf den Frauenberg nicht zu weit ist«, bemerkte die Weberin. »Den Weg kann ich dir zeigen, gleich durch's Kuckucksloch auf den Weg hinauf, immer bergan, der Eulenkopf bleibt rechts. In einer Viertelstunde bist du droben auf dem Frauenberg, wo der Gottseibeiuns seine Kirwe hält. Ich bin nie dabei gewesen, darauf kann ich schwören. Und du hast's Herz?«
»Warum denn nicht, wenn's hilft.«
»Ach, helfen tut's insofern schon, als die Zeit damit hingeht, und das Herz über den ärgsten Kummer weghebt. So geh' denn gleich auf den Hexenplatz hinauf, klopf' am ersten Haus am zweiten Fenster und frag', ob jemand da sei. Dann wird einer zum Fenster heraussehen – und – dann wirst du ja hören. Und guck, du könntest mir an der schönen Quelle droben den Krug da füllen, das Wasser hat gar heilsame Kräfte, und bewirkt gute Säfte, wenn man fleißig schafft und sonst gesund bleibt.«
Susel nahm den irdenen Krug am Henkel und eilte von der »Kuckuckshütte« über die Straße, gerade ins »Kuckucksloch« hinein, einer finsteren, steilen, zwischen Wingerten liegenden, von Kastanien überwölbten Schlucht. Sie mußte im raschelnden Laub förmlich waten, bis sie, den jähen Rand erklimmend, nun den sanft bergan führenden Fahrweg auf der First verfolgte, wobei sie nach hereingebrochenem Zwielicht die Häuser des Frauenberger Hofs am Hexenplatz in einer offenen Lichtung des Gebirgsforstes schon vor Augen hatte. Endlich langte sie oben auf dem breiten Bergrücken an. Ihr Tun kam ihr so traumhaft vor, daß sie jeden Augenblick fürchtete, aus dem Schlafe zu erwachen. Aus dem Talgrunde links scholl der städtische Straßenlärm von Bergzabern herauf; ein Hund bellte, als sie leichtfüßig über die mit Obstbäumen besetzte Waldblöße des Hexenplatzes eilte, um vorerst von der Quelle des Bleichrasens ihren Krug zu füllen, und dann nach dem einsamen Hause auf dem breiten Rücken des Frauenberges zurückzukehren. Die Fensterläden waren schon geschlossen; das Haus schien unbewohnt. Susels Herz schlug, als sie anpochte. Beim drittenmal drang durch die Ladenspalte ein Lichtschimmer, man stieß von innen fluchend die Läden auf. »Ein Donnerwetter fahr drein, was gibt's?«
»Ist jemand da?«, fragte Susel.
Man streckte den Kopf heraus. »Niemand außer mir. Aber heute morgen ist einer da vorüber nach Birkenhördt hinein zur Holzversteigerung und will abends noch heim.«
»Ist das alles, was Ihr mir zu sagen habt?«
»Willst du noch mehr wissen? Na, wart', mein Schatz, ich komm' gleich hinaus.«
Dann warf er, ohne die Läden zu schließen, das Fenster zu. Susel aber, von Schreck und Scham über ihre Torheit übermannt und auf weitere Kunde verzichtend, wartete nicht ab, sondern flog auf dem Weg, der sie heraufgeführt hatte, zurück.
»Ja, ja«, sagte die alte Frau, als Susel ihr enttäuscht ihre Erfahrung berichtete, »es soll einer, der beim Dreher nach dir gefragt hat, heut' morgen auf der Holzversteigerung sein. Na, er wird's wohl sein.«
»Wer?« fragte Susel, mit einem unwillkürlichen Schauder.
»Er wird's wohl brauchen können«, fuhr die Weberin nachdenklich fort.
»Was denn?«
»Was? Holz!«
Susel wußte selbst nicht, warum sie nicht bloß mit einem Gefühl der Enttäuschung und Selbsterniedrigung, sondern großer Beklommenheit die »Kuckuckshütte« verließ, um mit der Straße die Höhe des Kirchbergs zu übersteigen, und in Pleisweiler, wo längst schon alle Lichter angezündet waren, beim Dreher nach den zur Ausbesserung gegebenen Spulen zu fragen. Zwei fremde Burschen, die ebenfalls auf Arbeiten des Meisters warteten, unterhielten sich da laut.
»Er will seitdem nichts, ein für allemal nichts mehr von ihr wissen«, sagte der eine. »Das Leben ist doch auch die Reichste nicht wert. Und dann könnt' einem doch auch genieren, daß ihr Va –« Hier wandte sich der Dreher so laut und mit so geschwätziger Zuvorkommenheit an die Eingetretene, daß sie von den Reden der Burschen, die ohnehin die Unterhaltung bald abbrachen, kein Wort verstand. Susel, unter dem lebendigen Eindruck, daß die Äußerung sich auf sie beziehe, zog sich mit den ausgebesserten Spulen rasch zurück, ohne an weitere Erkundigungen zu denken. Sollte der Bursche wahr gesprochen, Schorsch sie wirklich aufgegeben haben? War seine Liebe so schwach begründet, daß sie beim ersten heftigen Sturm entwurzelte? Und galt seine Neigung nur ihrem Gelde? O Gott, nein, sie konnte und wollte es nicht glauben.
»Wo bist du denn den ganzen Nachmittag herumgestrichen?« fragte daheim ihre Mutter in übler Laune. »Hab' keinen Menschen, den ich zu Abraham schicken könnte, wegen der kranken Schafe. Es ist ja doch keine Kleinigkeit!«
Susel erklärte sich trotz ihrer Müdigkeit bereit zu dem Gang. Sie traf den alten Schäfer in einem gedeckten, schwach beleuchteten Schafstall, wo die versammelte Herde des Dorfes irgendeine Kur durchzumachen hatte. Denn es roch stark. Er befand sich eben in einer jener Unterhaltungen mit seinen Tieren, die im Felde schon mancher vorüberkommenden Magd Grauen eingeflößt hatte. Denn er sprach mit den unvernünftigen Geschöpfen wie mit seinesgleichen, mild zuredend, mahnend, warnend, strafend, lobend, je nach dem einzelnen Fall.
»An dir, Schwarzkopf, ist Hopfen und Malz verloren! Was meinst denn? Ich werd' mich lang hinstellen und warten, bis es dem Herrn gefällig ist. Guck' einmal, die Ramsnas' da. Die ist immer bei der Hand und hält ihr Vließ sauber. Recht brav, mein Hämmele. Aber der Struppigel ist ein elender Tropf. Sagen kann ich, was ich will. Mein guter Struppigel kümmert sich nicht viel darum! Meinst' ich laß es dir hingehen, Schafskopf, du? den Teufel laß ich... Guck, guck, die Susanne! Die Ehre! was führt denn unsere Susanne daher?«
Susel richtete ihren Auftrag aus, und nach einigen Worten fing er an: »Gelt, die Münsterer haben böse Sachen gemacht insofern auf unserer Kirwe. Hätt's dem Schorsch nicht zugetraut, sintemalen er alsfort so freundlich guten Tag gerufen hat, wenn er an mir oder meiner Schäferhütte im Feld vorüber ist, gewissermaßen.«
»Habt Ihr ihn seitdem nicht wieder gesehen?« fragte Susel nach einigem Bedenken.
»Nein. Der hat sein Teil gleichsam und kommt nicht wieder nach Oberhofen. Oder soll« ich ihn zitieren, insofern?«
»Ich möchte wissen, wie er denkt«, meinte Susel zögernd und befangen.
»Schwierigkeiten, sozusagen. Aber er muß bei. Oder will unsere Susanne ihren Zukünftigen erkennen, gewissermaßen? Na, hab' da insofern ein gutes Rezept, will's auftreiben!« sagte er, stellte sich mit gespreizten Beinen unter das Stallicht, zog ein dickes fettiges Notizbuch aus seinem hellen Zwillichmutzen und fing an, aus demselben auf ein herausgerissenes Blatt laut lesend Folgendes zu notieren: »Nimm einen Schafskopf, häng' ihn in den Schornstein – ja so! das ist für die Drehkrankheit!« Und es ausstreichend, fing er wieder an: »Tu dem Schaf das Maul auf; ist ihm die Zunge schwarz, so wird das Lämmlein auch schwarz, ist sie weiß, so wird das Lämmlein auch weiß, ist sie –«
»Aber, Abraham!« mahnte Susel.
»Ja so, paßt gewissermaßen hier nicht, gleichsam. Will man den Liebsten für seine Untreue strafen, sozusagen, sein Blut verdörren, gewissermaßen – – –«
»Um Gottes willen!«
»Nimm eine Unschlittkerze, schreib' seinen Namen darauf, zünd' sie um Mitternacht an, stich mit der Nadel hinein und sprich: Ich stech' das Licht, ich stech das Licht, ich stech das Herz, das ich liebe! – so muß er sterben!«
»Hört auf, Abraham«, rief Susel, vor Entsetzen zurückweichend, um den ihr unheimlich gewordenen Menschen sofort zu verlassen. Doch hielt er sie noch zurück, um ihr zu sagen, daß er als »gewanderter Mann« auch Rezepte für Liebestränke habe; der Wurzelsaft vom Liebesstöckel sei unwiderstehlich. Doch Susel erklärte, nichts durch Zaubermittel erzwingen zu wollen, selbst wenn sie's vermöchte.
»Unter solchen Umständen weiß ich gleichsam nicht zu helfen, insofern«, sagte der verschrobene Geselle.
»Na, gute Nacht, Abraham. Mir wäre nur daran gelegen gewesen, zu erfahren, ob ich noch auf ihn bauen darf, um meinen Verwandten zu widerstehen.«
»Verstehe, gewissermaßen, will ihn zitieren, daß er kommen muß«, sagte der alte Schäfer in seiner geschraubten Weise. »Will schon machen, insofern.«
»Tut um des Himmels willen nichts, was ihm schaden könnte«, bat Susel ängstlich.
»Nichts an Leib und Leben«, tröstete der Schäfer. »Aber unserer Susanne will ich noch gleichsam anvertrauen, was heut' am St. Andreasabend gut und heilsam ist in solchen Angelegenheiten. Ich hab's auf meiner Wanderschaft gelernt, gewissermaßen. Heute nacht, wenn der Mond übers Dach steigt, stell dich ins Kämmerlein, sprich: Grüß dich Gott, mein lieber Abendstern, ich seh' dich jetzt und allzeit gern; scheint der Mond übers Eck meinem Liebsten auf's Bett, laß ihm nicht Rast, laß ihm nicht Ruh', daß er zu mir kommen tu! Und dann muß er kommen, sei er wo er sei, es treibt ihn fort, und wenn er die ganze Nacht gehen muß, um zu dir zu gelangen. Ist probat. So aber unsere Susanne noch das St. Andreasgebet hinzufügen will, wird sie sehen, wer erscheint, – so sie aber den Bettstollen betritt, wird es ihr künftiger Mann sein, der kommt. Ich weiß noch mehr, sozusagen, doch ist's genug insofern. Geruhsame Nacht, Susanne.«
Susel begab sich nach Hause. In seltsamer Stimmung saß sie nach dem Abendessen wieder an der Kunkel, deren Flachs mit einem einfachen blauen Seidenband umschlossen war, während das rote Kunkelband der Bawel von Gold- und Silberflittern blitzte. Auch dieser Abend floß trüb, langweilig, träge beim eintönigen Schnurren und Surren der Rädchen und Spulen dahin; jedermann schien mit seinen Gedanken beschäftigt. Nur einmal sagte die Aplone laut und bedeutsam: »Heute ist St. Andreasabend!« Sich umsehend, fügte sie die Bemerkung hinzu: »Warum sieht denn unsere Susel so blaß aus?«
Auch die Mutter, der es schon aufgefallen war, fragte, ob sie sich etwas zugezogen habe. Sie möge sich doch niederlegen, es sei ohnehin schon spät. Und Susel begab sich denn auch in ihre Kammer neben der Haustür.
Das Gemach hatte zwei nach dem Hof gehende Fenster, beide mit weißen Vorhängen verhüllt, jedoch so, daß die kleinen Flügel über dem Querrahmen des Fensterkreuzes unverhängt blieben. Draußen schien sich das Wetter noch mehr aufgehellt, das Nebelgewölk in weiße Schwaden aufgelöst zu haben, die eilig über das beleuchtete Firmament dahin flogen. Die Sichel des Mondes mochte bereits hochstehen, denn einzelne Firsten und Giebel der Nebengebäude waren schon beleuchtet. Aber noch war der Mond nicht über das gegenüberliegende Dach hervorgetreten.
Draußen war alles still. Susel hatte keine Lampe angezündet. Die Großmutter im Nebenhäuschen hatte noch Licht. Was sie wohl trieb? Zauber? Ach nein, in der St. Andreasnacht pflegen ihn nur junge Mädchen, und auch die, welche jetzt den Vorhang zurückschob und hinüber nach dem Dachfirst sah, hatte noch ein junges, liebendes, zagendes, törichtes Herz, das zu seiner Erleichterung, wenn auch mit zweifelndem Glauben, in später Nacht noch des heraufklimmenden Mondes harrte. Was sie vorhatte, war doch wohl keine Sünde. Half es nichts, so schadete es auch nichts. Und nun blickte die Sichelspitze des Mondes über den First, und Susel begann leise für sich hin zu sprechen, wie es ihr der Schäfer Abraham vorgesagt hatte: »Grüß dich Gott, du mein lieber Abendstern, ich seh' dich heut' und allzeit gern. Scheint der Mond übers Eck, meinem Liebsten aufs Bett, laß ihm nicht Rast, laß ihm nicht Ruh, daß er zu mir kommen tu'.«
Es schauerte ihr dabei etwas, und sie kehrte sich um. Der Mondschein fiel durch die oberen Scheiben herein auf das weiße Linnen ihres Bettes in der Zimmerecke. Aber es regte sich nichts, alles blieb still. Finstere Nacht lagerte sich wieder über den Hof. Und nun erst machte sie Licht und fing an, sich langsam zu entkleiden.
Bevor sie jedoch völlig damit zu Ende war, trat sie dicht an ihr Bett heran. War sie so weit gegangen, einmal Zauber zu üben, konnte sie nun auch noch das ausführen, half es auch so wenig wie das andere. Rasch schlüpfte sie aus den Salbandsocken, die in jener Gegend in Holzschuhen getragen werden und auch als Hausschuhe dienen, lauschte, ob alles still und sie vor Überraschung sicher sei, berührte dann dreimal mit der großen Zehe den unteren Bettstollen und sprach dabei: Bettstollen ich tret' dich, heiliger Andreas ich bitt' dich, laß mir erscheinen den Herzallerliebsten meinen, sei er jung oder alt, von welcher Gestalt, wie er vor den Leuten geht und mit mir vorm Altare steht. Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen!«
Sie hatte noch nicht ausgebetet, als sie jemand durch die Eingangspforte neben dem Tor in den Hof herein und den gepflasterten Gang entlang kommen hörte – wohl der heimkehrende Hanjerg oder Stoffel. Und sie wollte sich vollends entkleiden, um nun ins Bett zu schlüpfen, – da klopfte es von außen an das Fenster. »Was ist denn?«
»Will man mir nicht aufmachen?« fragte eine Männerstimme. Es war weder die des Knechtes noch des Stiefbruders.
Hastig den Rock wieder über sich werfend, trat sie zum Fenster und fragte, wer da sei.
»Nur einmal aufmachen«, bat der draußen, der offenbar die Türklinke nicht finden konnte. »Es ist mir spät worden, die Nacht wieder finster, und ich hab' noch weit heim. Da wollt ich sehen, ob noch jemand von euch auf ist. Ihr gebt mir vielleicht eine Laterne mit, Bäschen oder nicht? Ich bin doch wohl recht, – zu Oberhofen bei Bas Juliane Groß?«
»Gewiß«, sagte Susel, wunderlich angewandelt, während jetzt auch ihre Mutter, die sprechen gehört hatte, den Kopf herausstreckend, fragte, was denn vorgehe. »Aber«, fuhr Susel fort, das Fenster so weit öffnend, daß sie durch den Spalt, sprechen konnte, »mit wem haben wir denn die Ehre?«
»Ich komme von der Holzversteigerung in Birkenhördt«, sagte der draußen. »Ich hab' Bauholz steigern wollen, und es ist mir etwas spät und dunkel geworden. Da hab' ich gedacht: Du gehst nach Oberhofen hin zur Bas Juliane, die gibt dir schon eine Laterne mit; hab' ich nicht recht? – Ich will noch heim über Münster zu meinen Kindern nach –« und nun nannte er den Ort, wo er her war.
»Mach' doch schnell auf, Susel!« rief die Mutter. »Laß den Vetter Konrad nicht lang draußen stehen. Das ist ja schön vom Kronenwirt, daß er nicht vorbeigeht.«
Susel, die sich indes wieder völlig angezogen hatte, ging mit dem Licht in den Flur hinaus und klinkte die Haustür auf, worauf der Kronenwirt auch in die Stube geleitet wurde. Er hatte sich auf dem Rückweg etwas in Bergzabern aufgehalten, – »man kann doch nicht bei seinen Kollegen vorübergehen, he?« – und wollte noch heim.
»O nein!« sagte Juliane. »Das pressiert doch nicht so. An einer Latern' sollt' es ja nicht fehlen, aber ich denke, du brauchst keine, Konrad, – setz dich doch! Du bleibst bei uns über Nacht. Zwei Betten stehen gemacht in der Oberstube. Susel, hol' doch ein gutes Glas Wein, oder du, Stoffel«, wandte sie sich an den Sohn, der eben hereinkam.
Der Kronenwirt entschuldigte sich, er müsse morgen früh daheim sein bei seinen Kindern und seinen Leuten.
»Ach, die gehen nicht durch«, sagte Juliane. »Wir lassen dich nicht fort. Susel, sorg' doch für eine kleine Auffrischung. Morgen kannst du dann so früh aufbrechen wie du willst, nur heut nicht mehr.«
»Na«, sagte der Kronenwirt, »wenn's sein muß, will ich so frei sein, weil Sie's nicht anders tun, Frau Bas. Ihnen zu Gefallen will ich bleiben. Aber nur keinen Wein mehr, hab' in Bergzabern...«
»Wir trinken mit«, fiel Stoffel ein, und ging in den Keller.
Auch die Großmutter kam noch herüber, und bald saß die ganze Familie plaudernd mit dem Vetter Kronenwirt beisammen, wobei Juliane, noch mehr aber die Großmutter, in deren »Blutsfreundschaft« er eigentlich noch gehörte, eignen Gedanken nachhingen. Der Kronenwirt sprach angeregt und geläufig und machte sich bei Mutter und Großmutter angenehm. Nie entgegnete er anders, als »mit Verlaub, Frau Bas, bin's auch überzeugt, Frau Bas, ich geb' Ihnen Beifall, Frau Bas, es tät mich freuen, Frau Bas, ich bin so frei«. – »Ach, Frau Bas, da haben Sie Ihren klaren Blick bewiesen, es ist wahr, meine Kinder entbehren doch recht der Mutter! Aber nicht wahr, Frau Bas, an eine Mutter für sie, wie etwa eure Susel oder so, darf ich nicht wohl mehr denken, Frau Bas?«
»Oh«, meinte Juliane leichthin, »warum nicht?«
Und als endlich Stoffel den Kronenwirt nach der Oberstube hinaufführte, sagte die Mutter: »Er ist doch ein netter Mensch! und so artlich! Andere nehmen es hin, nicht gicks und nicht gacks, – er aber gar manierlich! Bei allem Vermögen, – wie traurig, Witwer mit zwei Kindern.«
»Oh«, meinte die Großmutter, »manche hat ihre Freude daran.«
»Du aber nicht, Susel?«
»Ich habe Kinder nicht ungern«, meinte diese ruhig, indem sie abräumte und, wie bräuchlich, den übriggebliebenen Wein ins Essigfäßchen an der Ofenbank goß.
»Seine Schwester«, bemerkte noch die Mutter beiläufig, »die Philippine, ist reich, verheiratet und hat keine Kinder. Er wird einmal das ganze Vermögen erben.«
Als Susel wieder ihr Kämmerlein aufsuchte, unterhielt sich der Gast oben laut mit Stoffel, fragte nach den Vorgängen auf der Kirchweih. Sie plauderten noch lange, manchmal laut lachend, während Susel kaum die Augen zu schließen vermochte. Als aber der Gast sie am andern Morgen beim Abschied fragte, ob sie was dagegen habe, wenn er bald wiederkommen sagte sie: »Was soll ich dagegen haben, Vetter!«
»Na, wollen wir sehen. Einstweilen Dank für alle bewiesene Freundschaft, Frau Bas! Adje!«