August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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26

Advent

Bis spät in den Advent hinein bildeten die Ereignisse jenes Kirchweihtages den Gegenstand aller Gespräche an den trüben Herbstabenden im Ort und in der Umgegend. Daß drei oder vier Münsterer die ganze mannhafte Jugend eines Dorfes aus dessen Tanzstube geschlagen hatten, war ein Vorgang, den man nur daraus zu erklären Lust hatte, daß unter den Jungen im Ort kein Saft und keine Kraft mehr sei. Auf das hin pflegten Stoffel und seine Kameraden tückisch zu lächeln.

Aber nicht bloß von dem kühnen Wagnis und der Großtat jener vier ging in den Adventswochen die Sage am Gebirg hin, sondern auch von großer Untreu, von Falschheit und weiblicher Arglist, von bösen Fallstricken, Wortbruch und Doppelzüngigkeit. Um den Wert dieser Gerüchte zu ermessen, müssen die Ereignisse hier nachgeholt werden.

Als nämlich Susel mit der Mutter an jenem Kirchweihabend heim kam, waren sie erstaunt, noch Licht durch den Oberstock gehen zu sehen, von Zimmer zu Zimmer, von Stube zu Stube. Und dennoch war niemand im Hause zurückgeblieben, die Kirchweihgäste schon vor Nacht weggegangen; die alte Aplone schlief an solchen Festtagen sich für monatelanges Wachen im Dienste der Familie aus, und die Großmutter hatte sich ebenfalls früh niedergelegt. weil es ihr »nicht recht just« gewesen und der Appetit ausgegangen war. Was war das nur für ein Licht da droben, das durch alle Zimmer ging? Fürs erste versuchten Mutter und Tochter leise in die Wohnstube zu gelangen, wo sie ebenfalls Licht anzündeten. Wunderlicherweise fanden sie auf dem Tisch eine Serviette und in ihr, zum Teil in die ausgerissenen Blätter eines alten Buches gewickelt, lange Schnitten und Scheiben von eingemachten Zungen, Schinken und kaltem Braten, die sich auf Kirchweih im Hause anhäuften; dünne Schnitten von allen Kuchen, die gebacken worden waren, Zuckerstücke in Menge, sowie mit Honig gefüllte Nußschalen und andere süße Sachen. Erstaunt ging Susel in die Küche, um dort nachzusehen, ob sich etwas ähnliches vorfinde. Doch draußen löschte ihr ein plötzlich durch den Schornstein tosender Wind das Licht, und in demselben Augenblick kamen leise Schritte von oben auf der knarrenden Treppe. Nicht ohne einiges Grauen verharrte Susel ungesehen an ihrer Stelle, als jemand die Stufen herunterkam, in einer Hand das Licht, in der anderen ein Messer!

Die Gestalt trat, ohne sich umzusehen, durch den Flur in die Wohnstube an den Tisch, auf den sie das Licht stellte, schnippelte mit ihrem Messer von diesem oder jenem Bissen und holte aus ihrer Tasche andere Stücke, die sie in derselben Weise einwickelte, worauf sie die Serviette darüber schlug und plötzlich aufhorchend flüsterte: »Bawel, bist du's wieder?« – als Frau Juliane, den Vorhang des Alkovens zurückschlagend, laut aufschrie: »Aber um tausend Gottes willen, was macht Ihr denn da, Schwieger?«

Susel, in der Meinung, die Großmutter nicht aus dem Nachtwandel schrecken zu dürfen, wofür sie das Umherschleichen ansehen mußte, eilte ebenfalls herein, um einer etwa schädlichen Wirkung des Schreckens der alten Frau vorzubeugen. Doch, solche Sorge war nicht vonnöten. Mit ihrem greisen Lächeln sah sich die alte Frau nach den Heimgekehrten um und sagte ohne besondere Befangenheit: »Etwas für die Mäuschen, die mich in meiner Verlassenheit heimsuchen, und für die Kinder der Eve, wenn sie einmal zu ihrer alten Großmutter kommen! Na, dem Doktor Flax hat ja keiner 's Trinken zugebracht, dem Spion, dem alten, der mich gern für eine Hexe verzollen tät, der! Ich will's ihm aber zeigen, ob ich eine alte ehrliche Frau bin oder nicht. Der könnt' einem schön ins Gerede bringen, der! – Na, schön gewesen, brav getanzt?«

»So, so!« erwiderte Juliane, die bei ihrer alten Schwieger gern die Augen zudrückte und sich über ihr Treiben nicht lang aufhalten mochte.

»Na, mit der Liesel wird's ja auch heute noch richtig werden«, fuhr die Alte fort. »Die langt zu, und der Susel geht alles hinaus! Weißt du's schon, Juliane?«

»Ah, pah!« sagte diese mit wirklichem oder angenommenem Gleichmut, während die Greisin die Beute zu ordnen begann. »Die Leute haben recht und haben unrecht, wie man's nimmt. Wer's weiß, wird's wissen.«

»Gibt's noch Beeren am Hollerstock, Susel?« fragte jetzt die Alte, ihre Serviette vollends zusammenschlagend, so plötzlich, daß das Mädchen sich verfärbte, während die Mutter sich erkundigte, was das zu bedeuten habe. »Ach, ich meine nur Susel soll heute keine Hollerbeeren mehr essen. Man kriegt davon eine schwarze Zunge, das ist nicht schön und morgen doch auch noch ein Kirwetag.« Sie packte ihre Serviette zusammen und ging, als sei nichts vorgefallen, zur Tür hinaus, zum Altensitz hinüber.

»Was ist denn das mit dem Hollerstock?« fragte Juliane.

»Ich weiß nicht, was sie meint«, war der Tochter Antwort; doch für sich fragte sie doch: weiß die Alte, ahnt sie's oder ist's Zufall? – –

»Er tanzt gut, aber er hat gar nichts; und nicht einmal guten Tag, Frau Groß! gesagt. Darf ich mit Ihrer Susel tanzen? Nein, als ob ich nicht da wär'.«

Auf diese Art von Selbstgespräch der Mutter wurde es der Tochter unendlich warm ums Herz. Es schwoll von Glücksgefühl.

»Ach Gott, Mutter, er traute sich nicht! Wenn er geahnt hätte, daß Ihr darauf wartet!«

»Wart' ich darauf? Was dir einfällt. Es hätt' sich nur gehört!« meinte die Mutter mild.

Juliane war nicht recht entschlossen, sich des Kirchweihstaates vollends zu entledigen. Sie war nachdenklich und zerstreut, voll Unruhe, ging öfters ans Fenster und sah dann und wann auf ihre Tochter. »Die Großmutter hat so lange nach Schätzen gesucht«, fing sie an, »daß sie das Umgehen nicht lassen kann. Meinst du nicht, Susel, daß es noch etwas früh ist, für ins Bett? Wir hätten noch dem Tanzen zuschauen können! Es war hübsch heut' abend. Ihr habt schön miteinander getanzt, das ist keine Frage.«

Welche Um- und Anwandlung! Der Tochter war's als wolle sich der Himmel öffnen. Juliane bereute, den Tanzplatz mit ihr verlassen zu haben und war bereit, sofort dahin zurückzukehren, falls sie darum bat. Sie war wohl auch gesonnen, es zu tun, als sich auf der Gasse wieder rasche Schritte hören ließen, so daß die Mutter, nochmals das Fenster öffnend, meinte, was das nur wieder sei. Man hörte laufen, in einiger Entfernung mit Hast sprechen. Leute rannten hin und her, blieben stehen und riefen einander zu. »Was gibt's denn?« fragte die Mutter hinaus.

»Eine große Schlägerei im Wirtshaus«, antwortete jemand, »die Münsterer machen Kehraus!«

»Ah«, rief jemand anderes, »sie haben sich ein bissel gerupft, – weiter nichts. Die Jugend muß getobt haben, hat selbiger Bettelmann gesagt, als ihm das Kind aus dem Rückkorb gefallen ist.«

Die Mutter plauderte noch zum Fenster hinaus, als es Susel einfiel, daß die halbe Stunde herum und Schorsch wohl ihrer schon am Hollerstock harre. Sie durfte nicht länger säumen, die Gelegenheit war günstig – und sie schlüpfte zur Tür hinaus, in den Hof. Rasch schürzte sie ihr Kleid höher, band sich ein leinenes Taschentuch um den Kopf und eilte dem Scheunentor zu – mit pochendem Herzen. Küssen wollte sie ihn, an ihr Herz drücken wollte sie ihn, liebhaben, – so lieb, so lieb! Und ihm Vorwürfe machen wollte sie, daß er sich hergewagt, sich ihretwegen in Gefahr begeben; auszanken wollte sie ihn, den lieben, bösen Menschen. Ja, das wollte sie!

Aber sie fand das Tor der Scheune verschlossen, zu ihrem Erstaunen auch den Schlüssel nicht vor. Sie rüttelte vergebens. Dann besann sie sich, daß eine kleine Tür aus dem Kuhstall in die Scheuer führe, – aber auch diese war versperrt. Wer hatte denn nur all diese unnötige Vorsorge heute getroffen? Es war seltsam, und sie sann nach, wie sie dennoch in den Garten gelangen könne, als von der Haustür her ihre Mutter mehrmals nach ihr rief. »Susel, Susel!«

»Ja, Mutter!« antwortete sie und sah mit Verwunderung Leute über den Hof rennen und dann, unter sich flüsternd, im Nebenhaus verschwinden.

»Wo steckst du denn? Was tust du denn im Kuhstall? Tausend Sappermost, komm gleich her!«

»Was gibt's denn, Mutter?«

»Frag' lang. Mord und Totschlag gibt's, und du bist – komm einmal herein – du bist schuld daran!«

»Ich?« Und das Mädchen erblaßte.

»Deinetwegen sind die Holzschlegel gekommen, haben alles haarklein zusammen und zum Tanzsaal 'naus geschlagen; Gläser, Bänke, Glieder sind gebrochen, Knochen und Rippen entzwei. Siehst du! Ich hab' ja immer gesagt, es wird noch ein böses Ende nehmen!«

»Aber dafür kann ich ja nichts, Mutter. Und – die Münsterer haben gewonnen?« fragte Susel, während die Eingedrungenen draußen erst ungestüm gegen die Scheuer hinstürmten, als suchten sie sich neu zu bewehren, wie es andere in den Nebenhäusern ebenfalls taten, dann aber, zusammen flüsternd, sich im Dunkeln verloren, indes die Großmutter von der Scheuer her in ihre Stube zurückkehrte.

»Gewonnen? Zertrümmert haben sie alles, wie die Schinderknechte haben sie gehaust«, berichtete die Mutter. »Deinem Bruder haben sie die Nasenknorpel eingeschlagen, er sieht fürchterlich aus. Unserer Eve ihrem Jerg hängt die Haut von der Stirn wie ein Schleier, und der Hannes sieht gar aus wie geschunden. Der ist ihnen noch beigestanden, der Gickel!«

»Ah, da dauert er mich!« sagte Susel in wirklicher Teilnahme.

»Recht ist ihm geschehen, dem scheelen Gickel!« rief die Mutter in völliger Umwandlung ihrer Gefühle und Laune. »Weißt du denn nicht, was er getan hat? Eben sagte mir die Annemarie, daß in der Tat schon alles in Richtigkeit sei – mit ihm und der Liesel, der falschen Person, und auch die Alten haben ihr Jawort gegeben. Jetzt wird die Schneegans die erste Frau im Dorf!«

»Da will ich doch gleich gehen, ihr heute noch zu gratulieren«, sagte Susel mit dem Hintergedanken, so ihren Weg nach dem Stelldichein mit dem Geliebten am leichtesten zu finden, indem sie einen zwischen den Häusern nach dem Garten laufenden Pfad einschlüge. Aber Juliane war nicht gesonnen, ihr den Willen zu lassen.

»Da bleibst du!« sagte sie. »Hast du denn alle Scham verloren? Mit Fingern werden die Leute auf mich deuten. Oh, mir ist zumut! Wie mir's die Annemarie sagt, hat mich der Zorn nur so in alle Lüfte gehoben. Und daß du mir heut' abend nicht mehr aus dem Hause gehst!« Und dann ging die gestrenge Frau selbst zum Pforteneingang, drehte den Schlüssel um, zog ihn ab und steckte ihn ein.

Noch lange hielten die Ausbrüche des Unmuts der in ihrem besten Wollen gekränkten Mutter an, bis sich draußen im Hof wieder Schritte bemerklich machten, Leute, auch ein Frauenzimmer mit weißem Tuch um den Kopf, sich verstohlen und flüsternd nach dem Nebenhaus zurückzogen, und endlich noch die Großmutter in später Nacht erschien, um sich den Schlüssel geben zu lassen, da man nun doch wohl die Bawel zu dem Doktor Flax, dem schlechten Kerl, wegen Stoffels Nase schicken müsse.

Für Susel selbst ergab sich, da die Mutter sie nicht mehr aus den Augen ließ, keine Möglichkeit, dem Geliebten ihr Versprechen zu halten. Mit schwerem, betrübtem Herzen zog sie sich auf ihr Zimmer zurück. Der Stolz auf des Geliebten mannhaftes Auftreten und auf seine von Sieg gekrönte Entschlossenheit wollte nicht mehr nachhalten. Sie blieb lange wach, ohne sich zu entkleiden, immer überlegend, wie sie dennoch in den Garten gelangen könne. Über die Dächer konnte sie nicht, Ziegel konnte sie nicht sprengen, und jetzt war längst die Zeit verflossen. Unausgekleidet hatte sie den Kopf auf die Kissen gelegt und war dann eingeschlafen.

Als sie aus ihren Träumen aufschreckte, merkte sie am Hahnenschrei, daß es schon dem Morgen zuging. Aber im Hause war noch niemand wach. Es drängte sie zu dem Gang in den Garten, obwohl jetzt niemand am Ort des Stelldicheins zu treffen war. Diesmal fand sie das Scheuertor unverschlossen, und in der nach dem Garten führenden Hintertür den Schlüssel im Schloß. Es stand ihr also nichts im Wege; dennoch zögerte sie. Aus dem Stall rechts drang das Geräusch des Wiederkäuens der Kühe, aus dem links Pferdegestampf, aus einiger Entfernung jedoch ein Lied, das sie in diesem Augenblick seltsam ergriff. In irgendeinem Nachbarhaus stand wohl eine junge Magd, schon mit dem Zerstoßen des Rübenfutters beschäftigt, und sang dabei in die kühle Nebelfrühe des Novembermorgens hinein:

»Es wollte ein Mädchen in der Frühe aufstahn,
Da traf sie einen Verwundeten an.
Verwundet, ach, war er, vom Blute so rot.
Und als sie ihn verband, war er schon tot.
Ach, soll ich schon sterben und bin noch so jung?
Bin noch ein junges Blut, weiß kaum wie's Lieben tut!
Ach Schätzchen, wie lang soll ich trauern, wie lang?
Bis alle Wässerlein fließen zusamm'.
Alle Wässerlein fließen zusammen im Meer,
Ach, so nimmt mein Trauern kein Ende mehr.«

Mit einiger Anstrengung mußte die Lauscherin den Eindruck, den das so oft gehörte Lied in diesem Augenblick auf sie machte, abschütteln, um den Schlüssel im Schloß zu drehen und hinauszugehen in den Garten. Unverweilt eilte sie an den Hollerstock. Niemand war da; sie hatte auch niemand erwartet. Es war etwas heller geworden; hinter schwerem Gewölk verhüllt, stand unsichtbar irgendwo der Mond. Noch war wenig zu unterscheiden, nur so viel, daß der Boden hier zerstampft, Äste von dem Hollunderbaum gerissen oder verstümmelt waren. Ein Lattenstück lag zerbrochen halb über dem Zaun. Sie nahm es an sich. Was war hier vorgegangen? Beim Lampenlicht in ihrem Stübchen bemerkte sie daran Blut, und Grausen erfüllte sie mit quälender Angst.

Andern Tags hieß es, nach dem Abzug der Münsterer sei es noch recht schön geworden beim Tanz. Man munkelte von Schlägen, zu denen es noch gekommen war; doch verlautete nichts Näheres. Susel trug sich mit einer bestimmten trüben Ahnung, der sie sich jedoch wieder entschlug, als sie zufällig hörte, daß schon am Kirchweihsamstag eine diebische Katze in den Gärten erschlagen worden sei.

Als die erschrockenen Freunde Schorschs den bewegungslosen, auf den Rasen ausgestreckten Körper, in dem sie ihren Kameraden vermuteten, lange vergeblich gerüttelt und geschüttelt hatten, bis sie an die vom »Stumpen« mitgeschleppte Flasche dachten und ihm Gesicht und Hände mit Wein einrieben, erwachte er endlich mit einem schweren Stöhnen aus dumpfer Betäubung.

»Um Gottes willen, Schorsch, was ist geschehen?« sagte Franz.

Aber erst nachdem ihm nochmals Wein eingeflößt war, vermochte er endlich die Worte herauszustoßen: »Oh, oh, Verrat! Wo – ist – mein – Stock? O Schlechtigkeit! o Falschheit!« Seine Stimme versagte und seine Verbitterung gab sich nur noch durch Stöhnen kund.

Ihn vollends aufrichtend, führten und trugen sie ihn von dannen. Versagten ihm anfänglich die Kräfte, so ging es allmählich besser. Er bat nur immer, ihm den Kopf zu waschen. Man tat es mit dem Rest Wein. Doch erst, als man ihn mühsam über die nächste Höhe zur Brücke bei der Ruhbank von Gleishorbach gebracht und ihn auf die steinerne Einfassung gesetzt hatte, hatte man zu seiner Linderung das nötige Wasser bei der Hand, um ihm den verwundeten Kopf zu kühlen. Und hier kam er endlich zum klaren Bewußtsein, das aber immer wieder dazwischen durch förmliche Wutanfälle getrübt schien.

Was man aus seinen Worten über den Vorgang schließen konnte, war dies: An den Hollerstock am Zaun hinangetreten, hatte er die Geliebte an dem umgebundenen weißen Kopftuch erkannt und wollte ihr die Hand reichen, als er einen Mordsschlag aus dem dunkeln Hinterhalt erhielt, der ihn sofort niederstreckte, und ihm das Bewußtsein nahm.

»Ist sie's denn wert«, fügte er mit entsetzlicher Bitterkeit stöhnend hinzu, »mein Leben dranzusetzen?«

»Nein«, sagte Michel; »es ist eine Spiegelguckerin! Und dann die Alte und die Geschichte mit ihrem Vater! Schlag sie dir aus dem Sinn!«

»Es kann nicht sein«, meinte Franz. »Es sieht dem Mädchen nicht gleich.«

Doch der Verwundete war für solchen Trost nicht mehr empfänglich. Und aus wiederkehrender Schwäche und Wutanfällen setzte sich die Stunde zusammen, die verlorenging, bis man ihn unter die Hand des Chirurgen seines Heimatortes zu bringen vermochte. Es war eine traurige Heimkehr. –

Allmählich drang auch zu Susel die Kunde, daß Schorsch bei der Schlägerei etwas abbekommen, auf dem Heimweg sich etwas »zugezogen« habe, daß er krank gewesen und noch krank sei, daß er von seiner Mutter, Schwester und Ochsenwirts Kathel gepflegt werde. Ein bitteres Leid, ein herbes Schicksal, daß sie ihm jetzt fern im Schein der Teilnahmslosigkeit stand! Doch zu ändern vermochte sie nichts daran, auch nicht als man von seiner allmählichen Genesung sprach. War Susels Wissen auch vom wahren Sachverhalt noch weit entfernt, sagte ihr doch eine beklemmende Ahnung, daß sie ihm im falschen Licht erschien, daß sich sein Sinn von ihr abwende. Kein Mittel lag in ihrer Hand, dem zu begegnen. Sollte sie ihm schreiben? Das war in ihren Verhältnissen ein ungewohnter Schritt, daß sie sofort davon abstand. Kein Mädchen vom Lande greift dazu; es behält seinen Jammer und seinen Jubel entweder für sich, oder übermittelt ihn durch mehr oder minder vertrauliche mündliche Botschaft. Schüchterne Versuche damit hatten jedoch keinen Erfolg; denn keinerlei Botschaft kam von ihm zurück. Selbst zu gehen, um eine Verständigung zu erzielen, ging nicht an. Und hätte sie auch den Eindruck, den er inzwischen fälschlich von ihr gewonnen hat, zu verwischen vermocht, dessen stattgehabte Wirkungen waren kaum mehr zu tilgen. Kurz, das arme, bange Herz war ratlos. Denn Susel wußte nicht einmal gewiß, ob eine Entfremdung vorhanden, noch wieweit sie gediehen war, am wenigsten aber, welchen Ursachen sie entsprang.

Um jene Zeit, bei Beginn des Advents, war im Hause der Frau Juliane »Bauge«, das ist große Wäsche, die letzte im Jahr. In großer Bütte stand die Wäsche tagelang mit Pottasche eingeweicht in der Bauge – und es regnete. Da sagten die Waschweiber zu Susel, die sich am Waschkessel zu tun machte: »Es regnet, denn sie hat einen Unbeständigen!« Susel war zwar vom gewöhnlichen Aberglauben frei, doch nicht unbefangen und unempfindlich genug, sich dem Eindruck solcher Reden zu entziehen. Unangenehm berührt, beugte sie sich zu den hölzernen Waschhaltern nieder, die noch ihr Vater geschnitzt hatte. Indes mochte es regnen, wenn nur die Wäsche endlich trocknete, und auch dazu kam es noch.

Aber nicht ausnahmslos hielt sich ihre Stimmung bei der Ungewißheit, in der sie lebte, in solcher Ergebung. Zuweilen, wenn sie strickend oder spinnend sich ihren Gedanken überließ, sang sie unwillkürlich in der Weise des »Knab' in Niederland« herzbeweglich vor sich hin:

»Ach, alles, alles, alles trügt,
Wenn mich mein liebster Schatz belügt.«

Und als einmal die Mutter fragte, was das wieder für ein Geseufze sei, bat die Tochter: »Ach Mutter, seid mir nicht böse. Ich habe eben einen sonderbaren Gedanken gehabt. Wenn ich katholisch wäre –«

»Herr, mein Schöpfer, was? Katholisch?«

»Ja, wenn ich katholisch wäre, wüßt' ich, was ich tät'.«

»Nun, was denn?«

»Ich ginge ins Kloster.«

»Um Gottes willen! Das sähe dir gleich. Wer setzt dir nur solche Spinnen in den Kopf! Aber gelt, es geht dir doch zu Herzen, daß jetzt die Liesel die erste Frau im Dorfe wird. Wo die sitzt, könntest du jetzt sitzen!«

»Da irrt Ihr Euch, Mutter. Ich hab' anderen Kummer.«

»Nun, den Kummer wollen wir dir schon austreiben!«

In jenen Wochen vor Weihnachten, wo an den langen trüben Abenden mit dem gehechelten Flachs und Hanf Spinnräder wieder ihren Platz im Mittelpunkt des Hauses einnehmen und ein guter Geist mit dem Heimchen die warmen Winkel am Herd und Ofen bezieht; wo alle die Gertruden, Lieseln und Lisbethen, Kathrinchen und Kätheln, Bärbeln und Bäweln ahnungslos spinnen und ihren Namenstag feiern, saßen auch im Hause der Juliane wieder der Spinnerinnen fünf alltäglich am Rädchen. Und eines abends, als die »Bas« bereits an ihrer Kunkel eingenickt war, fing die Bawel an zu plaudern, vielleicht nur um sich wach zu halten: »Ja, ja, jetzt, haben wir ihn, den Advent, wo das Dorftier, der Bollhammel, sich sehen läßt, die Nachtwische auf den Wiesen tanzen, die Truden als Faßreifen in den Keller wollen, und« – sie gähnte – »noch anderes vorgeht.« Sie gähnte wieder. »Morgen ist Samstag, da wird abends nicht gesponnen, weil es viel zu tun gibt, oder auch weil sonst der Gottseibeiuns am Sonntag haspelt. Es ist Konradstag. Ein schöner Name, Konrad, – wer heißt nur so? Und übermorgen ist erster Adventsonntag, da könnte man viel erfahren und erkunden, – aber unsere Susel glaubt nicht an dergleichen.«

»Woran glaub' ich nicht?«

»Daß man zum Beispiel in der Andreasnacht den Bettstollen tritt und –«

»Auch Blei gießt!«

»Ja, wenn man – aber unsere Susel lacht einem über solche Dinge aus.«

»Über welche Dinge?«

»Wenn man die Wurzel von einem Liebstöckel bei sich trägt, kann der Liebste nicht von einem lassen. Ist's nicht so, Großmutter?«

»Was denn?«

Man wiederholte es ihr und sie bestätigte: »Ja, so ist's. Gerade so. Das Liebstöckel vermag in dieser Angelegenheit alles.«

»Aber woher nehmen?« fragte Susel leichthin, scherzhaft nach einer längeren Pause.

»Die Weberin in der Kuckuckshütte hat Liebstöckel. Ist's nicht wahr, Großmutter?«

»Ja, die hat.«

»Und noch mehr als das«, sagte die Magd fort. »Sie versteht, wie man den Liebsten an sich zieht, und weiß, wie er über einem denkt. Übrigens ist auch der Abraham, der Schäfer, darin bewandert und weiß gar manches Mittel. Auch die Kartenschlägerin in Bergzabern – sie wohnt gleich am Tor –«

»Kartenschlägerin?« sagte Susel mit wegwerfendem Ernst.

»Aber die Weberin in der Kuckuckshütte, die weiß doch manches, und der Schäfer auch. Wenn man im Advent morgens und abends unbeschrien durch's Kuckucksloch und am Eulenkopf vorüber nach dem Hexenplatz auf dem Frauenberg geht und dort anklopft, kann man hören, wer einem blüht. Ist's nicht wahr. Großmutter?«

»Ja, ja«, nickte die Alte von ihrem altmodischen Spinnrädchen her. »Das hat seine Richtigkeit.«

Indes hatte die taube Aplone keinen Anteil am Gespräch genommen, sondern spann ruhig fort, nur zuweilen hergehend, als wolle sie erlauschen oder von den Lippen absehen, was gesprochen wurde. Sie erkannte nur, daß Susel traurig war, und warf deswegen mißtrauische Blicke auf die Alte und die Magd. Als sie dann zum Beschluß des Abends ihr Rädchen wegrückte und sich erhob, kam sie zu Susel heran und fragte: »Warum bist du denn so traurig, mein Herz? Vertrau' dich mir an.«

»O du gute Seele«, sagte Susel, sich ebenfalls erhebend, »du verstehst mich ja doch nicht und kannst mir auch nicht helfen.«

Dann begaben sich alle zur Ruhe.


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