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Nicht das Leiden des Amfortas, nicht seine Jammerrufe noch seine abgemagerten Hände, die er gegen die Wunde seines armen Menschenherzens preßt, ist es, was uns in diesem Heldengedichte Parsifal zum Weinen zwang.
Es ist auch nicht die Glut, mit der Kundry Parsifal zu verführen sucht, und die Tränen der verzichtenden, leidenschaftlichen Frau vermengt mit dem Andenken an seine, aus Kummer verblichene Mutter: »Meine Liebe bietet dir, o herbe Freude, in der Glut des ersten Kusses das letzte Lebewohl deiner Mutter.« Es ist getrübte Wonne, wenn innerer Vorwurf sich mit dem Verlangen paart. Aber Kundrys kraftlose Geste, trocknet sie Tränen? liebkost sie? Wir waren alle atemlos ... Und doch, das war es nicht, was unser Herz schmelzen machte.
Hierauf der Zusammensturz von Klingsors Reich und der Welt des äußeren Scheines, das Versinken des Blumengartens. Wie schön und traurig schien uns dieser, die ganze Erde reich durchduftende, verwelkende Blumenregen! Das hieß das Herrlichste, was man in all diesen zierlichen, feinen Blumenseelen erschaute, zu Streu verwandeln. Da liegt ihr nun, Rosen, deren duftende Kelche dem jungen Mann von Sybaris den Schlummer verscheuchten, ihr schweren, heiligen Lotosblumen, die zwischen den Brüsten und in den Haaren Kleopatras den rauhen Krieger berauschten; ihr spitzenzarten Blumenkronen der Iris und Menyanthes, Mondblumen, die die junge Ophelia zerzupfte, und ihr früher Hortensien! Wie ergriff es uns, als Parsifal den Zauberbann eurer trügerischen Schönheit brach! Um es zu ertragen, fanden wir Kraft.
Kundry trocknet mit ihren Haaren Parsifals Füße, und die freiwillige Demut ihres Herzens rief in unserer Seele das Bild der Magdalena wach, in die wir Christenkinder alle, vom Beginn der ersten Religionsstunden an, ganz toll verliebt waren.
Erhabenes, das uns vor Wonne erblassen ließ, aber dem Helden, dem Orchester und dem Dichter riefen wir zu: »Verschwendet noch mehr euer Genie, bohrt es noch tiefer in unser Herz! Wir vermögen noch mehr zu ertragen.«
Dies wurde dann unsere Grenze: Kundry geht nach dem Hintergrund der Bühne, stützt sich auf das Gatter und schaut stumm auf die große Wiese. O unvergleichliche Minute! Wohltat niemals zu verlieren, höchster Gipfel, auf dem all unser wonniges Erbeben schwindet, auf daß das Erhabenste uns ganz überwältige!
– Kundry, woher dieser Friede, der dein Herz so göttlich beseelt? Im Laufe der Jahrhunderte haben ihn einige Helden schon empfunden und ihn, wie du an uns, an die Menschheit ausgeteilt. Es ist die erhabene Ruhe, die Sokrates im Gefängnisse überkam, und jenen, der sich auf dem Ölberge wieder emporrichtete. Was haben sie gedacht, der eine und der andere, während ihres Schweigens? Sokrates' Blick verweilte lange auf Athen; er war zur Überzeugung gekommen, daß es einem Bürger nicht gezieme, sich den Gesetzen, selbst ungerechten, zu entziehen; er opferte sich der Stadt. Jene, die den Blicken Jesu folgten, sahen diese gen Himmel gerichtet; er rief seinen Vater an und opferte sich dem göttlichen Willen. Was aber, Blick der Kundry, entdecktest du auf diesem Wiesenplan?
– »Wildwachsende, einfache Blumen, die der Natur folgen,« antwortet sie.
Auf dieser Wiese sehen wir weder den mystischen Ölbaum der Religionen, noch den Ölbaum der Gesetzgeber. Weder eine Stadt noch einen Gott, die uns ihre Gesetze vorschrieben. Kundry hört nur auf ihren Instinkt. »Reinen Herzens, ein reiner Tor, folgt er seinem Herzen,« das ist das Wesentliche Parsifals.
Auf dieser Wiese sprießt nichts, was menschliche Kultur hervorbrachte, sie ist die tabula rasa der Philosophen. Wagner verwirft alle Hüllen, alle Formeln, die den zivilisierten Menschen verdecken, beschweren, verunstalten. Er fordert das schöne Urbild der Menschheit, in dem des Lebens Säfte mächtig wirken. Ach! einstens führte das Leben jeden seiner Vollendung zu. Der Mensch widersetzte sich ihm nicht. Seine Handlungen erschlossen die Regungen seines Herzens.
Der Philosoph von Bayreuth verherrlicht den natürlichen Impuls, die Kraft, die uns zum Handeln treibt, ohne daß wir sie vorher prüfen. Er exaltiert das selbstherrliche Geschöpf, das über allen Formeln steht, sich keiner anpaßt, sondern das Gesetz in sich selbst findet.
Sokrates verkündet durch sein Opfer die Gesetze der Stadt. Christus das Gesetz Gottes, die Liebe. Was begründen in so herzzerreißender Weise die Heldengestalten Wagners: Kundry, Tristan, Tannhäuser? Die Gesetze des Individuums.
Nur ein Gesetz hat Wert: das Gesetz, das wir unserem lauteren Herzen abrangen. Um uns im Sinne unserer Vollendung zu lenken, bedarf es weder unserer Anpassung an die Regeln der Stadt noch der Religion. Soll man ein Bürger, ein Gläubiger sein? Nein: ein Individuum sein, das ist die Lehre Richard Wagners.
Aber gebe sich keiner einem Irrtum hin. Es ist dies keineswegs eine Lehre leichter Freuden. Die Kultur des Ich, ebensogut wie die Kulte des Gottes und der Stadt, erheischt Opfer.
Unsere eigene Natur darf keiner anderen untergeordnet werden. Unsere Strebungen dürfen sich nicht von unwürdigen Objekten befriedigen lassen.
Gerade darin besteht das Leiden des Amfortas, daß er seine Liebe an einer Frau befriedigte, die nicht würdig war, geliebt zu werden. So versündigte sich auch der Ritter Heinrich Tannhäuser im Venusberge; er erreicht erst die Vollendung, wenn er Elisabeth liebt, die ihm allein jene Art von Liebe bieten konnte, für die er geboren war. Das Verbrechen Kundrys selber bestand darin, daß sie ihrem Ich widersprach. Die zum Erbarmen Geborene verlachte aus Hoffart, oder vielleicht aus falscher Scham, den Gekreuzigten, der den Kalvarienberg erklomm; und bekannte sich so zur Sinnesart ihrer Mitbürger: sie wird darum so lange verflucht sein, bis sie ihrer wirklichen Natur, die Demut in der Liebe ist, Genüge getan hat.
War nun dieser zügellose Individualist Wagner – was alle Gegner unserer Religion des Ich nur zu gerne beweisen möchten – ein des Opfers unfähiger Schwelger? Belehret euch darüber aus seiner ganzen Biographie.
Niemals gestattete er seinem innersten Wesen, sich von seiner Bestimmung abzuwenden. Um dieser treu zu bleiben, opferte er jedes Verlangen nach unmittelbaren Genüssen, die er nur erreichen konnte, wenn er seine wesentlichsten Kräfte, seine Kunstinstinkte, den entstellenden Geschmacksforderungen des Publikums und dem Empfinden der großen Menge unterwarf. Wagner hat sich, wie die Mystiker sagen, mit Abscheu von seinem Jahrhundert abgewendet. Der Natur seines Verlangens nach konnte er in der Mittelmäßigkeit des Bestehenden keine Befriedigung finden. Und er besaß diese Vornehmheit (im Gegensatze zu Amfortas), in keine Verminderung seines Ideals zu willigen – sie würde ihm einen Schmerz verursacht haben, der sein Leben vergiftet hätte.
Seiten des Phädon, heilige Legende vom Ölberg, die ihr dem Menschen befehlt, sich den Gesetzen der Stadt zu beugen oder den göttlichen Willen anzuerkennen, gestattet dem Karfreitagszauber seinen Platz auf eurer Höhe! Der Prophet von Bayreuth kam zu seiner Stunde, alle jene, die sich nicht mehr um die Dogmen und die Gesetze kümmern, in seine Schulung zu nehmen.
Pilgern wir nach Wahnfried, ehren wir auf Wagners Grab die Vorahnung einer neuen Ethik.