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Bis vier Uhr nachmittags war der Tag wunderbar gewesen; die Wärme der Novembersonne hatte die Tiere munter gemacht. Das war in den Alleen des Jardin d'Acclimatation eine elegante Prozession und wie ein Herausströmen aus der Arche Noah; die Tiere trugen Kinder auf dem Rücken, denen die nicht wenig stolzen Eltern und die etwas mehr als notwendig gerührten alten Leute folgten.
Die Giraffe, die ich furchtsam an mir vorbeikommen sah, machte den Eindruck eines sitzengebliebenen Fräuleins – ebenso überflüssig wie diese und geradeso dankbar wie sie für jede Liebkosung. Mit gleichgültiger Miene trug der enorme Elefant, dem Flechten auf den Hinterschenkeln wuchsen und dessen kleines Auge in pikantem Feuer blitzte, ein kleines Paar spazieren. Auch das Kamel arbeitete. Besonders eines von ihnen, mit seinen langen, grauen Haaren und gedrungenem Bau schön wie ein Krieger, beutelte den kleinen Bürger, der sich zwischen seinen Höckern festklammerte, wie einen gemeingefährlichen, alten Fetzen herum.
Mehrere Male zogen die Tiere mit großer Würde an mir vorüber, von einer Menge begleitet, die nicht aufhörte, darüber Witze zu machen, daß man Elefant, Kamel oder Dromedar sein könnte, und keine von all den Personen, die sich um diese vollkommenen Repräsentanten der großen Tiergattungen drängten, schien mir den wirklichen Charakter der Menschheit zu verkörpern, der, nicht wahr? weniger darin besteht, auf den Hinterfüßen zu gehen, als seine Empfindungen vernünftig zu ordnen.
Aber ein schönes Paar fiel mir doch auf. Es war eine junge Frau, deren geschmeidiger Gang auf einen harmonischen Gliederbau und eine gute Gesundheit im allgemeinen schließen ließ. Es war ein Vergnügen, sie anzusehen, und sie ging einem galanten Herrn zur Seite, zwanzig Jahre älter als sie, und aus der Nuance seiner Vertraulichkeit konnte man ihn für einen kürzlich erhörten Liebhaber oder wahrscheinlicher für einen jung Verheirateten halten.
Gegen fünf Uhr änderte plötzlich alles sein Aussehen. Kahl sahen uns die entlaubten Bäume, farblos die Wolken an. Die Tiere zitterten in Bangigkeit, die Sonne zu verlieren und den November wiederzufinden. Wieder verfielen sie in ihr nie endendes Hinbrüten über die Unsicherheit ihrer Mahlzeit am kommenden Tage.
Die Hunde, bei denen ich mich gerade befand, stießen ein langandauerndes Geheul aus, als sie einen der Ihren mit ihrem Herrn den Garten verlassen sahen. Neben diesen Wütenden zeigten sich die Pudel mit Schnauzbart, Aufwarten und Schweifwedeln ganz soziabel und schienen nichts anderes zu wünschen als Bekanntschaften anzuknüpfen. So schön, wenn sie einem Herrn gehören, wirken die Pudel auf diesen engen Fleck eingesperrt wie in Vergessenheit geratene Leute. Ich weiß eine rührende im Norden gebräuchliche Redensart. Wenn sich dort ein Mann so sehr dem Trunke oder der Liederlichkeit ergeben hatte, daß die Geduld der Familie erlahmte, er seinen ehrlichen Namen verlor, fortgeht, die Seinigen verleugnet, allein in der Welt steht, und ihm jemand eines Tages sagt: »Ich kenne dich doch, du bist der aus dem und dem Dorf!« – »Nein«, antwortet er, »ich bin der Hans, der sich seiner Eltern nicht entsinnt«.
Das ist der richtige Name, den ich für diese Pudel suchte. Sie sind lauter Hänse, die sich ihrer Eltern nicht entsinnen. Nicht, daß sie sie nicht verdient hätten, nein: sie hatten niemals welche. Ah! wie sie darunter leiden! Keiner, der nur ein bißchen Verständnis für Tiere hat, wird ungerührt bleiben, wenn sie mit ihren Vorderpfoten so liebevoll aufwarten und ihre Zunge nicht weiß, wen sie belecken könnte. Wie viele Schätze der Zuneigung gehen da verloren, und das Alter wird sie mürrisch machen und ihnen auch noch die Räude eintragen. Ich bange für eine Gesellschaft, die eine solche Ergebenheit nicht freudig begrüßt.
Die Dunkelheit fällt dichter. Die Affen legten die gelben Rüben, die sie unter Grimassen verschlangen, beiseite, ließen ihre gymnastischen Apparate ruhen Und unterbrachen sogar ihre Obszönitäten. Die Farbe der Vögel verschmolz nach und nach mit der des Bodens und die Fasanen, köstlicher gekleidet als die heilige Jungfrau von Sagrario, umhüllte ein Dunkel, das in der Basilika von Toledo nicht gestattet, die Perlen des heiligen Wunders zu zählen. Die Alleen mit ihren Hecken und geschnittenem Buchse bekamen das Aussehen türkischer Friedhöfe. Und über den ganzen Garten hin tönte das Geheul der Robben.
Ich ging an dem nassen Schilfe hin, in dem die Enten gleiten, und blieb bei dem Wasserbecken der Robben stehen. Das Dunkel färbte es blaß und tragisch, wie das legendenhafte Tote Meer beim vollen Sonnenscheine aussieht. Eine der Robben lag ausgestreckt auf dem Wasserspiegel und stieß unheimliche Seufzer aus. Auf dem Felsen zeigten vier nordische Vögel auf beträchtlich hohen Beinen ihr ungeheuer mageres Profil; phantastische Schatten, die sich gegen den regendrohenden Himmel scharf abhoben. Aus einem gleichen Gefühl schlugen in regelmäßigen Zwischenräumen diese schweigsamen vier Vögel mit den Flügeln; die Robben kletterten den Felsen mit der Hast hinkender Menschen hinauf und stürzten sich unter bangen Schreien wieder ins Wasser zurück. Ihre krankhaft fetten Leiber fielen wie leblose Massen ins Wasser, das leuchtende kleine Wirbel bildete und uns bespritzte. Fröstelten wir unter den kalten Tropfen oder unter dem tieftraurigen Dasein dieser enormen Unschuldigen?
Ehe ich den nun gänzlich mit Nacht bedeckten Garten verließ, blieb ich stehen, um einen letzten Blick zurückzuwerfen ... Es war nun ein großer feuchter Wald; ich vernahm nichts als Geschrei und Klagelaute. Da ging eben das Paar vorüber, das mir vorhin im Sonnenscheine aufgefallen war. »Ach«, sagte die junge Frau, »was mich erschrecken würde, wäre der Gedanke, bis ans Ende meines Daseins mit dem gleichen Freunde zu leben«.
Dieses etwas zu aufrichtige Empfinden, diese Klage eines kleinen Mädchens mag den Vertrauten entsetzen, denn der Ausspruch verrät mehr Vertrauen als Liebe; ist aber doch ein Zeugnis von der Wirkung, die die Dämmerung auf alle Wesen jeder Rasse ausübt. Es ist in einer anderen Formel der Seelenzustand, der sich bei den armen Robben offenbart, die sich ewig um ihren Felsen hin und her bewegen und bei diesen rührenden nach Liebesbeweisen hungernden Pudeln. Diesem Volke von Verbannten und Sklaven bleibt die Welt verschlossen. Für sie gibt es keine vorübergehende phantastische Laune, durch die sie das ihnen auferlegte Wohlleben angenehm unterbrechen könnten, und von allen Seiten wittern sie Fremde, deren Geruch ihrer Rasse zuwider ist ... Dem Schrei all dieser Wesen, der so wirr unter den großen vom November entblätterten Bäumen ertönte, gab einstmals eine Anzahl von Männern seine lyrische Form: der Gesang der Juden an, den Ufern der Wasser von Babylon, inmitten von Finsternissen, war die gleiche Klage, das gleiche Wutgeschrei von Unterjochten.
Ah! welch eine Kraft besitzt die Dämmerung über einem Garten, welch eine Kraft, das wahre Wesen all dieser Tiere und dieses Frauenherzens zu wecken! Alles Nomaden, diese hier und jene dort. Umherirrende Herzen, Imaginationen, die keine Gesetze wollen, Wünsche, die vor dem Eingang der Wüste haltmachen!
Im gleichen Augenblicke und weil mich der Zufall länger neben dem Paare festhielt, vernahm ich die Antwort des Liebhabers an seine Geliebte: »Was mir schrecklich erscheint,« hatte sie gesagt, »ist der Gedanke, daß ich bis zu meinem Lebensende mit der gleichen Person leben sollte.« Und er, er tröstete sie nach einigen Minuten Schweigens, indem er sagte: »Ach nein, ich werde zuerst sterben.«
Das Individuum, das diese Antwort gab, ist natürlich ein ausgemachter Dummkopf. Und doch bestätigt eine solche Antwort, die im Theater ein Lächeln hervorriefe, in dem von der Abenddämmerung herbeigeführten Wettkampfe der Empfindungen ganz klar unsere Überlegenheit. Was die Heftigkeit und die Allüre des Ausdruckes anlangt, scheint dieser Mensch sicher auf einer tieferen Stufe zu stehen als alle die Tiere, die sich so mächtig beklagten; aber er verrät eine Schwächung des Instinktes der Selbsterhaltung und dadurch eine Qualität von Uneigennützigkeit, die meine teuren Pudel und die noch viel kostbareren Robben weit entfernt sind, sich anzueignen.