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Wer fühlt nicht am Weihnachtstage ein leises Verlangen nach Poesie? In dieser Nacht braucht eine einigermaßen kindliche Seele nur auf den bitterkalten Plätzen um die deutschen Dome dem pfeifenden Winde zu lauschen, um die allerschönsten Sagen zu vernehmen. Sie nähren eine weitläufige, volkstümliche Literatur: ein Bandit, der dem Herzen Gottes näher steht als der Beamte, der ihn aburteilt; eine Prostituierte, die in den Himmel fährt; ein Aussätziger, den plötzlich ein Heiligenschein umleuchtet ... Könnte das, nach so vielen Jahrhunderten, nicht vielleicht ein Echo jener Abenteuer sein, die den stärksten Eindruck auf die Einbildungskraft der Freigelassenen, der Kurtisanen und jenes schmutzigen Haufens machten, aus dem das Christentum seine ersten Anhänger gewann? Man erobert die Welt nicht durch Vernunftgründe, obgleich man sie und sehr solide als unbedingten Schutz im Rücken braucht ...
Nun aber glauben Einige, das erste Aufflackern einer sozialen Revolution zu bemerken. Sie behaupten nichts Bestimmtes, aber sie meinen, daß baldigst, unter unseren Augen, etwas Bedeutendes in die Welt gesetzt wird, und daß wir ungefähr die Rolle des Ochsen, der Kuh und des Eseleins im Stalle von Bethlehem spielen, die ohne großes Verständnis einer geheimnisvollen Geburt anwohnten ...
Diese Woche hat mich meine Neugierde in die untersten Schichten unserer Pariser Bevölkerung hinabgeführt. Ich suchte, was dort für die Legende Schauerliches oder Besonderes zu finden sei; ich war neugierig, zu erforschen, welches einigermaßen vornehme Gefühl die Aufrührer am erfolgreichsten zu exaltieren vermöchten, ob sie es nötig hätten, an die Kraft der Phantasie zu appellieren, an die tiefe Sensibilität dieser wenig bekannten gärenden Regungen, die in Paris das Laster und das Verbrechen bilden.
Ich habe die Ehrlosesten und Gesunkensten aufgesucht, die, welche unsere gesellschaftliche Ordnung zermalmt. Ich wollte diese durch ihre Sitten degradierten Menschen kennen lernen, die unsere Gesetze, unsere Einrichtung und unsere Gesellschaft verwerfen, denen unsere Philosophie, unsere Künste, unsere Wissenschaft unbekannt sind, und die die Zivilisation selber bedrohen; ich fragte mich, welches ihrer Gefühle es sein könnte, das in irgendeiner Art schön wäre und welcher ergreifende Zug ihrer unheilverkündenden Physiognomien würdig wäre, in künftige »anarchistische Weihnachten« überzugehen.
Eines Abends bin ich in ein öffentliches Ballokal gegangen, von dem ich wußte, daß ich dort nur Prostituierte der äußeren Boulevards finden würde und die schweren Jungen von den Festungswällen. Etwas ebenso Verkommenes wie die antike Vorstadt Suburra.
Der Saal war kalt, schlecht beleuchtet, feucht von Geruch und Ansehen. Seltsame, schlecht aussehende, junge Burschen mit unvermittelten und fahrigen Bewegungen machten untereinander Scheinangriffe von Boxen, Gesten des Erdrosselns und den Schlag des père François; jammervolle kranke Huren, unflätig und von der beklemmenden Eleganz eines wüsten Traumes, scharten sich zu zweien und vieren um eine Salatschüssel Glühweines. Nirgends nur die Spur von Vornehmheit; nichts als Krankheit, Elend und Laster. Ah! sagte ich mir, welche Beute könnten selbst die Apostel der Revolution in diesem Fäulnisstrome finden, der über die Rahmen unserer Gesellschaft flutet? Diese Geschöpfe sind als Mitarbeiter zu irgend etwas ganz unfähig; nur brauchbar zur Plünderung und Zerstörung kann ich mir sie im Falle der vereinten Empörung nicht durch ein Gefühl der Solidarität zusammengehalten denken. Das sind keine Barbaren neuen Schlages; das sind Abfälle.
Doch plötzlich kam vom Orchester her eine Polka. Kavaliere und Tänzerinnen fanden sich mit der Behendigkeit junger Hunde ...
Und da bot das Schreien, der Lärm der Blechmusik, die Frauen mit dem dicken skrophulösen Munde und ihren so bedeutungsvoll bewegten Hüften, die kleinen, lebhaften Körper der jungen Straßenräuber einen schauderhaften Anblick; aber schließlich war Leben darin, was mich nach und nach ansprach.
Diese Musik, die erhitzten Gesichter dieser Geschöpfe, die affektierte Mannhaftigkeit ihrer scheußlichen Liebhaber, alles das verkündete mir ihren ausschließlichen Stolz, ihre einzige ehrliche Empfindung: »wir sind das Bagno und die Schande – aber unsere Gefühle sind treu.« Alle gewöhnliche Konvenienz, das Verbrechen, die Erniedrigung, körperliche Gebresten, nichts hat mehr eine Bedeutung für diese Geschöpfe, die, nachdem sie sich zusammentaten, von nun an in der Welt nur sich kennen. Ihre Liebe setzt an Stelle sämtlicher Gesetze, welche die moderne Klassengruppierung regieren, einen Pakt; sie haben die gesellschaftlichen Schranken durchbrochen, aber um so enger verbindet sie die Kette der Mitschuld.
Ich glaubte noch diese Weiber mir sagen zu hören: »Es tut so gut, in der Furcht zu lieben, hinter Bretterverschlägen, wo man zittert und den unversehrt in seine Arme drückt, auf den die Gesellschaft eine Treibjagd macht.«
Ihr kleinen Mädchen der Klöster des Sacré-Coeur, eure Liebe ist zu fade; nichts legt ihr hinein als Eitelkeit und eine ganz kleine Sinnlichkeit; aber in der Liebe dieser Zöglinge des Sacré-Coeur der Butte von Montmartre liegt die Wollust des gemeinsamen Erzitterns. Und diese Gesetzlosen werden sich unter den schlimmsten Schwierigkeiten die Treue halten, bis zu Saint-Lazare, bis zur Guillotine, wenn ihnen auch der Trauring weder vom Priester noch vom Bürgermeister angesteckt wurde, wenn sie ihn auch oftmals vom Finger eines Ermordeten streiften, dessen Füße sie, Venus, hielt, während er, Mars mit der Mütze, zustach.
Treue in Verbrechen und in Schande! Das ist bei näherer Betrachtung das einzige Gefühl, wodurch diese schauderhaften, bedauernswerten und abstoßenden Geschöpfe, die Prostituierten der äußeren Boulevards, einigen moralischen Wert behalten. Das ist ihre Großherzigkeit und ihr Teil Uneigennützigkeit. Kein menschliches Wesen ist vollkommen jeder Poesie beraubt. Sich durch dick und dünn lieben, sich seine Ergebenheit in Prostitution und Verbrechen bewahren, das ist das Ehrgefühl bei dieser enormen Menge von Prostituierten und Zuhältern, die unsere großen Städte umschließen. Kann man ein so trauriges Volk mit den Kurtisanen und Freigelassenen vergleichen, die der ersten Propaganda für das Christentum ein so fruchtbarer Boden waren? Die von heute wie jene von damals werden dem Apostel zujubeln, der die Verachtung der alten Gesetze predigt, der Wert und Unwert von einem neuen Standpunkt aus richten wird. Aber um so geartete Wesen jetzt wie vor neunzehn Jahrhunderten zu überzeugen, da ist vernünftiges Reden wenig; man muß an ihre Phantasie rühren, ergründen wo sie sentimental sind, und ob sie es manchmal zum Weinen bringen. Deckt euch den Rücken mit Dogmen, bedient euch des Marxschen Kapitals, des »ehernen Lohngesetzes«, aber treibt ein Märchen bis in ihre Herzen.
Das erste Christentum adoptierte die Empfindungsart der Elenden und der Niedrigsten; es machte daraus einen Teil seiner Poesie. Die Toga des Bürgers ersetzte es durch das rauhe Gewand des Sklaven. Ebenso wie unsere christlichen Erzähler die Pallas, den Narzissus und die Thais verherrlichten, Augendiener in den Palästen Roms oder Stammgäste schmutziger Schlupfwinkel Alexandriens, ebenso ereifern sich unsere schriftstellernden Anarchisten über das Hurenvolk der Festungswälle. Hugo, Tolstoi, Dostojewski verlangten von uns zuerst, daß wir moralischem Schmutze und körperlichen Gebrechen Ehrfurcht zollten. Ihre Dirnen, ihre Bettler, ihre Diebe, ihre Mörder, ihre Trunkenbolde haben uns trotz all ihrer Schändlichkeiten ergriffen durch ein deutlich hervortretendes Gefühl ihrer Affinitäten. Die Wissenschaft, die Universität lädt uns ein, in diesen degenerierten Helden eine noch verborgene Vornehmheit anzuerkennen, die diese frommen Geister Solidarität nennen, die aber, ich wiederhole es, nichts anderes ist als ein Fall von Affinität. Ich stelle es ganz frei, darüber die Achsel zu zucken, aber ich verkünde diese neue Botschaft. Die soziale Umwälzung vollzieht sich viel mehr durch die Verschiebung von Wert und Unwert als durch eine Abänderung der Gesetze, und besser durch eine Explosion der Sensibilität als durch eine des Dynamit.