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Über die Verwesung

Zur Stunde da man Gounod in Paris bestattete, fuhr ich nach Versailles, den Herbst zu sehen. Dem Schlosse, das etwas Kaltes, Herzloses für mich hat, gab ich keine Zeit. (Aber es ist immerhin ein sehr sicherer Professor des guten Geschmackes, der das Triviale verachten lehrt, die grotesken Fratzen des Nordens sowohl als die Schöntuerei des Südens.) Ich gab den ganzen Tag dem Vergnügen hin, das welke Laub in den Alleen zu treten. Die Bäume hier wurden Ende des achtzehnten Jahrhunderts gepflanzt,. wurden groß in der Einsamkeit und verdanken ihre Schönheit nur der Natur. Kaum daß ein paar Töne von Marie Antoinettens Spinett bis in das Gezweig drangen, das sich an die Fenster des Trianon schmiegte, damals als es noch jung war.

Diesen Park suche ich jedes Jahr am gleichen Tage auf und lasse unter diesen köstlichen Gobelins des Herbstes meine oft zu buntscheckigen Sentiments promenieren. Heute gab ich mich dem Begräbnis Gounods, der das Geschenk der Tränen besaß. Als er in seinen jungen Jahren einmal in Wien war, sprach ihm jemand von einer Allee, in der Beethoven einst spazieren zu gehen pflegte, sich stets an den gleichen Baum lehnte und mit fiebrigen Augen die Eingebungen seines Genius niederschrieb. Gounod wallfahrtete zu dieser Allee. »Dieser Baum,« schrieb er später, »der Baum, an den sich Beethoven lehnte, der die Hand stützte, die so viele rührende, erhabene, erschütternde Akkorde niederschrieb, warum kann man ihn nicht wiederfinden?« Und mit einem Zug, der mich begeistert: »Ist dieser Baum nicht beinah ein Bruder jener heiligen Bäume des Ölberges?«

Hier, wo ich die Macht des Herbstes fühle, verstehe ich sie besser, stärker, die Art, wie Gounod das Leben fühlte. Er übertrug alles in das Emotionelle. Ich meine damit nicht jene gleichwohl deliziöse Reizbarkeit eines Andersen, der Tränen vergoß, sobald er nicht gefallen hatte. Von ewig kindlicher Seele müßten derartige Wesen wie kleine Brüder von einer niedlichen Prinzessin an einem deutschen Hofe behandelt werden. Sie sind krank von einem Tage, der ihnen ohne Liebkosung verging. Aber die Männer, die ich beneide, sind an mehr Dinge verbunden als die Menge kennt; sie assoziieren Empfindungen, die uns entgehen. Und geben der Welt Verve, Herz, Genie. Dank dem, daß wir uns von ihren Aufweisungen ein paar Fragmente zu eigen machten, haben wir nicht das glasige Auge, nicht die apathische Seele der Tiere. Wenn sie uns alles sagen, was sie erlauschen, dann sind sie Musiker oder lyrische Dichter.

Aber nur in der Einsamkeit umhüllt uns dieses Licht.

Oft isoliert das Herannahen des Todes bislang ganz unkultivierte Menschen und beugt sie auf eine Weise, daß sie die Dinge reden hören. Vielleicht hatte Heine, wenn er auch oft lachte wie ein Jude, durch die Krankheit dieses Herz, das hörte, und ging Maupassant, nach einer Menge Novellen, bar alles wahrhaften Interesses, zur Natur kommunizieren, zu der Zeit, da er sein Schicksal ahnte ...

Zu dieser Rasse, die von Tasso bis zu Madame Desbordes-Valmore geht, gehörte Gounod. Wenn euch auch seine Musik nicht mehr so beeindruckt, heute ihr alle Wagner gehört – der dem Schicksale, nach und nach seine Macht über uns zu verlieren, ebenfalls nicht entgehen wird –, so hört auf die Herzensschreie in seinen Briefen, in all seinen Schriften, in seiner Unterhaltung ...

Wir richten die innige Bitte an Herrn Jean Gounod, er möchte alle zerstreuten Blätter seines glorreichen Vaters zu einem Ganzen vereinigen ...

Wo ich Gounod liebe, das ist in seiner späteren Zeit, wo sein Schaffen eine weichere Note anschlägt und sein Feuer zur flackernden Flamme wird, deren leuchtender Schimmer jene frommen Dinge der Kunst und Liebe wunderbar verklärte, zu denen noch der Greis seine zitternden, so viel liebkosten Hände hob.

Während ich durch die Alleen von Versailles mit meinem Herzen dem Sarge dieses Bezauberers der Frauen folgte, wirbelten die Blätter mit leisem Rascheln zur Erde nieder, legten sich da nieder, um zu verwesen. Welch ein ergreifender Tag, unter einem violetten Himmel! Ich hatte noch nie ein Leichenbegängnis erfahren, wo man mit größerem Genusse die Ruhe der gewesenen Dinge erlebte.

Die Einsamkeit verschönert alles. Die verlassenen Frauen sind viel interessanter als die liebenden. Daß uns ein Sarg alles gebe, was er an Trauer enthält, so müssen wir ganz allein den Blumen folgen, die ihn verhüllen. Die welken Blätter von Trianon unter der erschöpften Oktobersonne, die kaum zu ihnen dringt, rochen nach Chloroform. Das ist genau der Geruch, den die Herbstmorgen ausatmen, wo die Natur sich chloroformiert, einschlummert und stirbt.

Endlich kamen wir an den sublimen Platz, die Terrasse des Grand Trianon. Niedere Pavillons, leichte, immer in drei abgesetzten Marmorstufen abfallende Terrassen, bis zum Firmamente strebende, schlafende Bäume bis an den Horizont, langhin unter unseren Augen ein Bassin, voll mit dem gelblichen Wasser des Oktober, und darüber der feine Himmel des Herzens von Frankreich! Wo besser als hier könnte sich eines Künstlers Schicksal vollenden, der nicht mehr zu tun hat, als seine Gaben den Elementen wiederzuerstatten?

Unter dieser großen entblätterten Kathedrale von Versailles höre ich, sehe ich, ertrage ich eine Flut unbeschreiblicher Schönheiten, die stundenlang über mich kommen. Im Garten des Grand Trianon, tiefer als wie die Terrasse, rechts oberhalb der Treppe zum großen Kanal, da ist ein ebener Rasenplatz, wohl bereit, einen Leichnam aufzunehmen und ihn in unserer Phantasie von allem Abstoßenden rein zu machen. Ja, hier versöhne ich mich mit dem Tode. Nur der November erschreckt mich, der schwarze, nach keinem Gefallen begehrende, und der aus diesen Blättern, die unter unseren Tritten wie knisternde Seide rauschen, Fäulnis machen wird.


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