Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Honoré de Balzac

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Vorwort

»Durch den Eingang in der Rue de Raynouard«, so beschrieb Egon Erwin Kisch 1925 das »Fuchsloch des Herrn Balzac«, »steigt man die Treppen abwärts, bis man auf einen Hof kommt, der zwei Stockwerke unter dem Niveau der Straße liegt; dort steht ein Häuschen, aus dem man durch eine bedeckte Falltür wieder zwei Stockwerke hinabschreiten kann, in einen zweiten Hof und aus diesem in die Rue du Roc hinaus, die heute Rue Berton heißt . . . Hier saß Balzac, der reichste aller Gestalter, hier saß er Tag und Nacht, acht Jahre lang, hier schrieb er die ›Tante Lisbeth‹, den ›Vetter Pons‹, ›Glanz und Elend der Kurtisanen‹, hier schrieb er die fünf Akte des ›Mercadet‹ und achtzehn heißbewegte, starke Bücher, der größte Phantast der Realität, ein anerkannter Meister und doch von der Académie verschmäht, ein mit Verlagsaufträgen überhäufter Schriftsteller und der fleißigste, produktivste, den je die Welt gesehen, hier saß er und – ward die Angst vor dem Schuldturm nicht los.«

Honoré de Balzac begann als Verfasser von Sensationsromanen, als Verleger, Buchdrucker und Schriftgießer; seine Existenz war abenteuerlich und gefährdet wie die seiner Romangestalten, und man wird verstehen, weshalb die finanzielle Verschuldung in seinen Büchern so häufig begegnet. Der wirtschaftliche Niedergang des einzelnen, daneben aber die Intrige und die maßlose Leidenschaft – dies sind wichtige Motive seiner Romane, und sie zeichnen das einmalige Bild einer Zeit mit ihren Menschen, Konflikten und Veränderungen.

Balzacs Werke stehen in der großen gesellschaftskritischen Tradition französischer Epik, die mit der Aufklärung beginnt und bis in unsere Tage führt. Seit Balzac jedoch äußert sich das Bestreben, in dieser Widerspiegelung und Kritik der Gesellschaft umfassend zu werden; der einzelne Roman genügt nicht mehr, der Romanzyklus wird zu einer bestimmenden Kunstform der erzählenden Literatur in Frankreich. Mit Balzac findet dieses Gestaltungsprinzip seinen Beginn, seine erste große Vollendung, und derart sind Werke wie »Tante Lisbeth«, »Cäsar Birotteau« und »Vater Goriot« durch gemeinsame Gestalten miteinander verknüpft. Sie gehören zu jenem nahezu hundert Novellen und Romane umfassenden Riesenwerk, das der Dichter als eine Einheit sah. Er nannte es »Comédie humaine«, »Menschliche Komödie«, und es ist seinem Inhalt nach eine bürgerliche Komödie.

Balzacs Romane spielen zum überwiegenden Teil in der Zeit zwischen den beiden Revolutionen von 1830 und 1848, in der Zeit der »bürgerlichen Monarchie« des Königs Louis Philippe. Das französische Großbürgertum ist bereits unumschränkter Beherrscher des Landes; das eigentliche Schicksal der Nation wird an den Pariser Banken entschieden. Bestechung, Spekulation und die moralische Entwürdigung des Menschen kennzeichnen das Leben in den herrschenden Schichten – so wie es fast an allen Hauptfiguren in »Tante Lisbeth« deutlich wird.

Balzac verachtete den Bourgeois, aber diese Abneigung entsprang seiner politischen Einstellung als Legitimist: er war Anhänger des Königshauses und der alten Vorrechte des Adels. So steht in vielen seiner Bücher neben dem Bourgeois der Aristokrat (in »Tante Lisbeth« ist es der Gegensatz Hulot – Crevel), doch ungeachtet seiner Weltanschauung wird Balzac zum unnachsichtigen Kritiker der gesamten Gesellschaft. Die ihn umgebende Wirklichkeit war stärker als die persönliche Überzeugung und zwang ihn zu dauernden Korrekturen seiner Einstellung. Darauf gründete sich Balzacs künstlerische Größe; dies war es, worum ihn Friedrich Engels so außerordentlich bewunderte. Balzac hat den historisch notwendigen, doch im einzelnen so widerspruchsvollen Vorgang der Kapitalisierung nach der Restauration und dem Julikönigtum in Frankreich genau nachgezeichnet und die Vielfalt der Erscheinungen zu einem künstlerischen Bild von höchstem literarischem Rang vereinigt.

Rolf Schneider

 


 


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