Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Honoré de Balzac

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Um sieben Uhr fuhr Lisbeth bereits mit dem Omnibus nach Hause. Sie konnte es gar nicht erwarten, Stanislaus wiederzusehen, der sie seit drei Wochen an der Nase herumgeführt hatte. Sie brachte ihm einen Korb Früchte mit, den Crevel, dessen Zärtlichkeit gegen Lisbeth keine Grenzen kannte, eigenhändig zurechtgemacht hatte. Sie flog die Treppe zur Mansarde hinauf, so daß ihr der Atem ausging. Den Künstler fand sie damit beschäftigt, das Ornament eines Kästchens zu vollenden, das er Hortense überreichen wollte. Der Rand wurde von einem Hortensienkranz gebildet, auf dem Amoretten spielten. Um das Material – Malachit – zu erschwingen, hatte der arme Verliebte zwei Leuchter samt dem Vervielfältigungsrecht an einen Kunsthändler verkauft, zwei Musterstücke seiner Kunst.

»Seit ein paar Tagen bist du ja recht fleißig, mein Lieber?« bemerkte Lisbeth, indem sie ihm den Schweiß von der Stirn wischte und ihn küßte. »In der Sommerglut dünkt mich das gar nicht dienlich. Glaube mir, deine Gesundheit leidet darunter. Sieh, hier sind Pfirsiche und Pflaumen von Crevel! Schinde dich nicht so! Ich habe zweitausend Francs geborgt. Wenn es sein muß, zahlen wir sie zurück vom Erlös deiner Uhrgruppe. Indessen habe ich so meine Gedanken über den Darleiher. Er hat mir das Schriftstück hier mitgegeben!«

Sie legte die Schuldhaftankündigung unter den Entwurf zur Marschallstatue.

»Für wen machst du das hübsche Ding da?« fragte sie, indem sie den Hortensienkranz aus rotem Wachs in die Hände nahm. Stanislaus hatte ihn weggelegt, um die Früchte zu essen.

»Für einen Juwelier!«

»Für welchen?«

»Ich weiß nicht. Stidmann hat mir den Auftrag übermittelt. Eine eilige Sache.«

»Hortensien? Hm!« meinte sie tonlos. »Für mich hast du nie das Wachs geknetet. Warum nicht? Ist es denn eine so schwierige Sache, mir ein kleines Andenken zu verfertigen? Einen Brieföffner, ein Kästchen oder so was?« Sie warf einen bösen Blick auf den Künstler, dessen Augen gerade gesenkt waren. »Und dabei willst du mich lieben?«

»Zweifelst du daran, Lisbeth?«

»Wie kalt das klingt! Weißt du, seit der Stunde, da ich dich dem Tode nahe gefunden habe, hast du alle meine Gedanken erfüllt. Indem ich dich rettete, wurdest du der Meine! Niemals habe ich von dem geheimen Bunde zu dir gesprochen, aber mir selber habe ich feierlich gelobt: Er ist mein, ich will ihn glücklich und reich machen! Sag, hab ich dir nicht dein Glück gebracht?«

»Und wie!« entgegnete der Künstler im Gefühle seines stillen Glückes, viel zu naiv, eine List zu wittern.

»Siehst du!« meinte die Lothringerin. In wilder Freude sah sie Stanislaus in die Augen, aus denen ihr eine kindliche Anhänglichkeit entgegenleuchtete, hinter der die Liebe zu Hortense loderte. Die alte Jungfer war nicht scharfsichtig genug. Zum ersten Male in ihrem Leben bekam sie die Glut der Leidenschaft in Männeraugen zu sehen; sie wähnte, diese Glut entzündet zu haben.

»Crevel stellt uns hunderttausend Francs zur Gründung eines Geschäftshauses zur Verfügung, wenn du mich heiraten willst. Er hat famose Einfälle, das gute Dickchen, nicht? Was sagst du dazu?«

Der Künstler ward totenblaß und starrte seine Wohltäterin mit erloschenen Blicken an, wodurch sich alle seine Gedanken verrieten. Er rührte sich nicht.

»Noch nie hat mir jemand so klar und deutlich gesagt, daß ich abscheulich häßlich bin!« Die alte Jungfer lachte grell auf.

»Lisbeth«, erwiderte Steinbock, »meine Wohltäterin wird mir niemals häßlich vorkommen. Ich empfinde für dich die wärmste Zuneigung, aber ich bin noch nicht dreißig Jahre alt und . . .«

»Und ich dreiundvierzig!« ergänzte sie. »Meine Kusine, die Baronin Hulot, ist achtundvierzig Jahre alt, und man verliebt sich noch immer rasend in sie. Freilich, sie ist schön, sie . . .«

»Fünfzehn Jahre stehen zwischen uns«, fuhr Stanislaus fort. »Was gäbe das für eine Ehe! Zu unser beider Wohl müssen wir das sehr mit in Betracht ziehen. Meine Dankbarkeit wiegt deine Wohltaten sicherlich auf. Und dein Geld wirst du bald zurückbekommen.«

»Mein Geld!« fuhr sie auf. »Oh, du behandelst mich, als sei ich eine herzlose Wucherin!«

»Verzeihe mir!« sagte Stanislaus sanft. »Aber du erwähnst die Geldsache so oft . . . Du hast mich einst gerettet. Vernichte mich jetzt nicht!«

»Du willst mich verlassen. Ich sehe es«, sagte sie, vor sich hin nickend. »Sag, woher hast du die Kraft zu dieser Undankbarkeit? Du bist doch sonst eine Pappseele! Hast du kein Vertrauen mehr zu mir? Leuchtet dein guter Stern so stark? Ach, wie manche Nacht habe ich für dich durchgearbeitet! Ich habe dir die Ersparnisse meines ganzen Lebens hingegeben! Vier Jahre lang habe ich mein Brot, das Brot einer armen Handarbeiterin, mit dir geteilt. Alles habe ich dir gegeben, selbst meinen Mut!«

»Lisbeth, hör auf!« rief Stanislaus, vor ihr in die Knie sinkend und ihre Hände ergreifend. »Kein Wort mehr! In drei Tagen will ich reden und dir alles sagen.« Und indem er ihr die Hände küßte, fuhr er fort: »Laß mich! Laß mich glücklich sein! Ich liebe und werde geliebt.«

»Ja doch. Sei glücklich, mein Kind!« gab sie zur Antwort und zog ihn empor. Sie küßte ihn auf die Stirn und auf das Haar in einer Art Raserei wie ein zu Tode Verurteilter an seinem letzten Morgen.

»Ach, du bist das edelste, beste Wesen!« rief der arme Künstler aus. »Du gleichst der, die ich liebe!«

»Ich liebe dich noch immer so, daß es mich um deine Zukunft bangt.« Und mit finsterer Miene fügte sie hinzu: »Judas hat sich erhängt . . . Alle Undankbaren finden ein schlimmes Ende. Du verläßt mich. Du wirst nichts Großes mehr schaffen. Ich bin eine alte Jungfer, das weiß ich. In meinen Armen, die dürr sind wie Rebenholz, soll dir die Blüte der Jugend, deine Poesie, wie du sagst, nicht ersticken. Aber sage mir, könnten wir nicht weiter zusammen bleiben, auch wenn wir uns nicht heiraten? Hör auf mich! Ich bin eine Krämerseele. Ich kann dir in zehn Arbeitsjahren ein Vermögen zusammenscharren. Ich bin die verkörperte Sparsamkeit. Hingegen mit einer jungen Frau, die nur ausgeben kann, wirst du nichts sparen; denn du wirst nichts tun als sie glücklich machen. Und Glück stapelt nichts auf als Erinnerungen! Wenn ich von dir träume, liege ich stundenlang unbeweglich da . . . Stanislaus, bleibe bei mir! Bedenke, ich bin sehr vernünftig! Du sollst Geliebte haben, hübsche Weiber von der Sorte der Marneffe, die dich übrigens kennenlernen will; sie wird dir das Glück schenken, das du mit mir nicht finden kannst. Wenn ich dir dreißigtausend Francs Rente zusammengebracht habe, dann erst sollst du dich verheiraten.«

»Du bist ein Engel!« entgegnete Stanislaus, sich die Tränen trocknend. »Nie werde ich diese Stunde vergessen.«

»So hab ich dich nun endlich, so wie ich es mir immer gewünscht habe!« rief sie aus und sah ihn berauscht an.

Die Eitelkeit im Menschen ist so stark, daß die alte Jungfer an ihren Sieg glaubte. Indem sie ihm Frau Marneffe anbot, hatte sie ihm ein großes Opfer gebracht. Noch nie in ihrem Leben war sie so bewegt. Zum allerersten Male fühlte sie, wie ihr die Freude das Herz durchflutete. Dieses Erlebnis ein zweites Mal zu durchleben, dafür hätte sie ihre Seele dem Teufel verschrieben.

»Ich bin nicht mehr frei«, begann der Künstler von neuem. »Ich liebe ein Weib, wie es kein zweites gibt. Aber du bist und bleibst immerdar meine zweite Mutter!«

Der Ausspruch fiel wie eine eisige Lawine in einen brodelnden Krater. Lisbeth setzte sich und betrachtete mit düstern Augen den jungen Mann, sein kluges Gesicht, sein volles Haar, seine edle Schönheit. Alles das hatte ihre niedergedrückten halberstorbenen Triebe erregt. Tränen, die im Entstehen trockneten, füllten ihr die Augen, Sie saß da wie eine der schlanken trauernden Frauen, die die Bildhauer des Mittelalters so gern auf die Grabmäler gesetzt haben.

»Ich verfluche dich nicht!« rief sie aus, indem sie unvermittelt aufsprang. »Du bist wirklich ein Kind! Gott mag dich schützen!«

Damit verschwand sie in ihre Stube.

»Sie ist in mich verliebt«, murmelte Stanislaus vor sich hin, »das arme Ding! Wie wild ihre Worte waren! Sie ist verrückt!«

 

Am übernächsten Tage, halb fünf Uhr früh, hörte Steinbock, noch im tiefsten Schlummer, an die Tür seiner kleinen Wohnung pochen. Er öffnete eiligst und fand zwei schlechtgekleidete Zivilisten in Begleitung eines Dritten in der Uniform eines Gerichtsvollziehers.

»Sie sind Graf Stanislaus Steinbock?« fragte der.

»Jawohl, mein Herr!«

»Mein Name ist Grasset, Gerichtsvollzieher des Schuldgefängnisses.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Sie sind verhaftet, Herr Graf! Sie müssen uns nach dem Gefängnis von Clichy folgen. Wollen Sie sich ankleiden! Wir sind rücksichtsvoll, wie Sie sehen. Ich habe keine Schutzleute mitgebracht. Und unten hält eine Droschke.«

»Sie werden hochfein behandelt!« bemerkte der eine der beiden Zivilisten. »Wir rechnen aber auch auf Ihre Erkenntlichkeit!«

Steinbock zog sich an und ging mit hinunter, an jedem Arm von einem der Männer geführt. Sobald man in der Droschke war, fuhr der Kutscher ohne weiteres los. Er wußte offenbar schon Bescheid. Eine halbe Stunde später saß Steinbock hinter Schloß und Riegel, ohne irgendwelchen Einspruch erhoben zu haben. So groß war seine Überraschung.

Um zehn Uhr wurde er in die Gefängniskanzlei geführt, wo er Tante Lisbeth vorfand, die ihm unter einem Strom von Tränen Geld einhändigte, damit er sich besser beköstige und sich eine größere Zelle, in der er arbeiten könne, verschaffe.

»Mein Liebling«, sagte sie zu ihm, »teile deine Verhaftung niemandem mit! Schreibe keiner Menschenseele davon! Das könnte deine ganze Zukunft vernichten«. Eine derartige Blamage muß man geheimhalten. Ich werde dich bald wieder befreien. Ich bringe das Geld zusammen. Sei unbesorgt! Schreibe mir, was ich dir für Arbeit bringen soll. Du wirst bald wieder frei sein, so wahr ich lebe!«

»Ach, ich danke dir zum zweiten Male mein Leben!« rief Steinbock. »Ich verlöre mehr als mein Leben, wenn ich in den Ruf eines schlechten Kerls käme!«

Lisbeth ging voller Freude nach Hause. Durch die Gefangenschaft des Künstlers glaubte sie seine Heirat mit Hortense vereiteln zu können. Sie wollte aussprengen, er sei verheiratet, durch die Bemühungen seiner Frau begnadigt worden und nach Rußland zurückgekehrt. Um ihren Plan auszuführen, begab sie sich um drei Uhr zur Baronin Hulot, obgleich es nicht der Wochentag war, an dem sie dort zu essen pflegte. Sie wollte sich nur an den Qualen weiden, die Hortense erleiden würde, wenn Stanislaus ausblieb.

»Du kommst zu Tisch, Lisbeth?« fragte die Baronin, die ihre Überraschung zu verbergen suchte.

»Wie du siehst.«

»Schön!« sagte Hortense. »Ich werde befehlen, daß man pünktlich ist. Du liebst doch das Warten nicht.«

Hortense gab ihrer Mutter ein Zeichen, ruhig zu bleiben. Sie hatte den Entschluß gefaßt, dem Diener zu befehlen, den Grafen nicht vorzulassen, falls er käme. Aber der Diener war ausgegangen, und Hortense war gezwungen, den Auftrag dem Stubenmädchen zu übergeben. Das Mädchen eilte in ihr Zimmer hinauf, um sich etwas zu arbeiten zu holen, da es im Vorzimmer bleiben sollte.

»Wißt ihr das Neueste von meinem Geliebten?« fragte Tante Lisbeth, als Hortense wieder ins Zimmer trat. »Von dem sprecht ihr ja gar nicht mehr?«

»Ach ja, was macht er denn?« meinte Hortense. »Er ist ja nun berühmt. Du kannst dich freuen. Man spricht von nichts als von Stanislaus Steinbock.« Die letzten Worte flüsterte sie Lisbeth ins Ohr.

»Ja, viel zuviel!« gab Lisbeth laut zurück. »Der gute Junge ist nicht mehr zu bändigen. Wenn es sich nur darum handelte, ihn den Freuden von Paris zu entreißen, das wollte ich schon noch fertigbringen. Aber der Kaiser Nikolaus soll ihn begnadigt haben. Er will sich einen solchen Künstler nicht entgehen lassen . . .«

»Was du nicht sagst!« bemerkte die Baronin.

»Woher weißt du das?« fügte Hortense hinzu, die einen Krampf am Herzen verspürte.

Gefühlsroh erwiderte die alte Jungfer:

»Jemand, dem er durch das heiligste Band angehört, hat es ihm gestern geschrieben, nämlich seine Frau. Er ist im Begriff abzureisen. Er ist schön dumm, daß er Rußlands wegen Frankreich verläßt . . .«

Mit einem Blick auf die Mutter sank Hortense in sich zusammen. Die Baronin vermochte die ohnmächtig Werdende gerade noch in die Arme zu nehmen. Sie war bleich wie der Spitzenschal geworden, den sie trug.

»Lisbeth!« schrie die Baronin auf. »Du hast mir mein Kind gemordet! Du bist nur zu unserm Unglück auf die Welt gekommen!«

»Ach was! Was kann ich denn dafür, Adeline?« fragte Lisbeth, indem sie aufstand und eine drohende Haltung annahm, was der Baronin in ihrer Aufregung entging.

»Dann verzeihe!« meinte sie. »Läute einmal!« Sie versuchte ihre Tochter aufzurichten.

In dem Augenblick öffnete sich die Tür. Adeline und Lisbeth wandten zugleich ihren Blick hin und sahen Stanislaus Steinbock. In Abwesenheit des Stubenmädchens hatte ihm die Köchin geöffnet.

»Hortense!« rief er aus und stürzte auf die Gruppe der drei Frauen zu. Unter den Augen der Mutter küßte er seine Braut auf die Stirn, in so keuscher Weise, daß die Baronin still zusah. Ein besseres Mittel gegen die Ohnmacht gibt es auf der ganzen Welt nicht. Hortense schlug die Augen auf, erkannte den Grafen und bekam ihre Lebensfarbe wieder. Einen Augenblick später fühlte sie sich wieder ganz munter.

»Das ist also dein Geheimnis!« sagte Lisbeth lächelnd zu Stanislaus. Sie gab sich den Anschein, als ginge ihr erst angesichts dieses Auftritts die Wahrheit auf.

»Du hast mir also meinen Geliebten abspenstig gemacht, Hortense?« fragte sie, indem sie das junge Mädchen nach dem Garten führte.

Hortense begann ihr den Roman ihrer Liebe in treuherzigen Worten zu erzählen. Ihre Eltern hätten in der Überzeugung, daß Lisbeth den Künstler doch nicht heirate, seine Besuche gestattet. Nur schrieb sie den Ankauf der Gruppe und das Dazukommen des Künstlers einfach dem Zufall zu. Er hätte den Namen des ersten Käufers eines seiner Werke wissen wollen.

Steinbock näherte sich alsbald den beiden Damen und dankte dem alten Fräulein in überschwenglicher Weise für die so prompte Wiederbefreiung. Lisbeth antwortete jesuitisch, der Gläubiger habe keine feste Zusicherung gegeben; sie habe die Entlassung aus der Haft erst für morgen erhofft, aber der Darleiher habe sich wahrscheinlich von selber eines Besseren besonnen. Dabei tat die alte Jungfer so, als sei sie überglücklich.

Sie beglückwünschte Stanislaus.

»Du böser Junge«, sagte sie zu ihm in Gegenwart von Hortense und ihrer Mutter, »wenn du mir vorgestern abend gebeichtet hättest, daß du unsere Hortense liebst und daß sie dich wiederliebt, dann hättest du mir viele Tränen erspart. Ich glaubte, du wolltest deine alte Freundin und Beraterin verlassen, während du doch in Wirklichkeit ein Vetter von mir werden willst. Fortan werden uns diese allerdings nicht allzu starken Bande verbinden; sie sollen aber der Liebe genügen, die ich dir geweiht habe.«

Dabei küßte sie Stanislaus auf die Stirn. Hortense fiel ihr um den Hals und brach in Tränen aus.

»Ich verdanke dir mein Glück!« schluchzte sie. »Das werde ich nie vergessen.«

»Tante Lisbeth!« fügte die Baronin hinzu, vom Freudentaumel ergriffen und glücklich, daß alles ein so gutes Ende nahm. »Mein Mann und ich sind schon lange in deiner Schuld. Wir wollen sie einlösen. Komm, ich will die Sache mit dir im Garten besprechen.«

So spielte Lisbeth die Rolle der guten Fee der Familie. Sie sah sich von allen hochverehrt: von Crevel, von Hulot, von Adeline und Hortense.

»Wir möchten, daß du nicht mehr zu arbeiten brauchst«, fuhr die Baronin fort. »Angenommen, du verdienst in der Woche zwölf Francs, so macht das sechshundert Francs im Jahre aus. Und wie hoch belaufen sich deine Ersparnisse?«

»Viertausendfünfhundert Francs.«

»Armes Tantchen!« meinte die Baronin. In ihrer tiefen Rührung überdachte sie bei sich, wieviel Mühsal und Entbehrung dazu gehört hatten, innerhalb von dreißig Jahren diese Summe nur durch ihrer Hände Arbeit zusammenzubringen. Lisbeth aber verkannte den Sinn des Ausrufes; sie wähnte parvenühaften Spott herauszuhören. Ihr Haß nahm beträchtlich zu, während ihre Kusine gerade in diesem Augenblick all ihr Mißtrauen gegen die Tyrannin ihrer Kinderzeit aufgab.

»Wir werden die Summe um zehntausendfünfhundert Francs erhöhen«, erklärte die Baronin, »und das Ganze auf Hortenses Namen als Besitzerin und deinen als Nutznießerin anlegen. Damit wirst du eine Jahresrente von sechshundert Francs haben.«

Lisbeth gab sich den Anschein, als sei sie außer sich vor Glück. Als sie von diesem Gartengange zurückkam, hielt sie sich das Taschentuch vor die Augen, als ob sie die Freudentränen trocknete. Hortense berichtete ihr von den Gunstbeweisen, die sich über Stanislaus, den Liebling der ganzen Familie, ergossen.

Als der Baron kam, fand er seine Familie vergrößert, da die Baronin den Grafen feierlichst als Schwiegersohn begrüßt und die Hochzeit – unter Voraussetzung der Einwilligung des Barons – festgesetzt hatte; sie sollte in ungefähr vierzehn Tagen stattfinden. Sobald Hulot den Salon betrat, wurde er von Frau und Tochter stürmisch begrüßt. Diese flüsterte ihm das Ereignis ins Ohr und jene umarmte ihn.

»Ihr habt mich in allzu hohe Verbindlichkeiten gestürzt, meine Damen!« wehrte er in strengem Tone ab. »So rasch geht es nicht!«

Er warf dem Grafen einen Blick zu, unter dem dieser erbleichte. Der Künstler sagte sich traurig: Er weiß von meiner Verhaftung.

»Kommt mal mit, Kinder!« Mit diesen Worten führte er seine Tochter und ihren Bräutigam in den Garten. Er setzte sich mit ihnen auf eine der moosbewachsenen Bänke der alten Laube.

»Mein lieber Graf«, begann er, »lieben Sie mein Kind so . . . wie ich seine Mutter geliebt habe?«

»Mehr noch!« beteuerte Stanislaus.

»Sie war die Tochter eines Bauern und hatte keinen Pfennig Vermögen.«

»Herr Baron, geben Sie mir Ihre Tochter so wie sie hier sitzt, ohne Aussteuer . . .«

»Das glaub ich Ihnen schon!« meinte Hulot lächelnd. »Hortense ist die Tochter vom Baron Hulot von Ervy, Staatsrat und Abteilungschef im Kriegsministerium, Großoffizier der Ehrenlegion, dem Bruder des Grafen Hulot, dessen Lorbeeren unverwelklich sind und der Marschall von Frankreich ist. Dazu hat sie . . . eine Mitgift!«

»Gewiß, Herr Baron«, wandte der verliebte Künstler ein, »ich mag eitel und ehrgeizig erscheinen. Aber meine teure Hortense könnte das Kind eines Arbeiters sein. Ich würde sie doch heiraten wollen . . .«

»Das war es ja, was ich wissen wollte!« sagte der Baron. »Hortense, geh und laß mich einmal mit dem Grafen allein. Daß er dich aufrichtig liebt, siehst du!«

»Väterchen, ich wußte ja, daß du bloß gescherzt hast«, frohlockte Hortense.

»Mein lieber Steinbock«, begann der Baron in wundervoller Urbanität und in liebenswürdigstem Tone, als er mit dem Künstler allein war, »ich habe seinerzeit meinem Sohne zweihunderttausend Francs zur Verfügung gestellt, als er sich verheiratete. Der arme Kerl hat davon keinen roten Heller angerührt. Er wird es auch nie tun. Ebenso hoch beläuft sich die Mitgift meiner Tochter, über die Sie mir eine Empfangsbescheinigung ausstellen werden . . .«

»Gewiß, Herr Baron . . .«

»Sie Draufgänger Sie«, unterbrach ihn der Baron, »wollen Sie mich gefälligst anhören. Man kann von einem Schwiegersohn nicht die nämliche Ergebenheit erwarten, wie man sie von seinem eigenen Sohn von Rechts wegen verlangt. Mein Sohn wußte, was ich für seine Zukunft tun konnte und tun werde. Er wird Minister werden und seine zweimalhunderttausend Francs mit Leichtigkeit selber finden. Mit Ihnen, junger Mann, ist das eine andere Sache! Sie sollen sechzigtausend Francs zu fünf Prozent im Staatsrentenbuche auf Ihre Frau eingetragen bekommen. Davon wird zunächst allerdings eine kleine Rente für Tante Lisbeth abgehen. Aber sie wird nicht lange leben. Ich weiß, sie ist lungenkrank. Verraten Sie das aber niemandem! Das arme Mädel soll in Frieden sterben. Fernerhin wird meine Tochter eine Aussteuer im Werte von zwanzigtausend Francs erhalten und schließlich von ihrer Mutter Brillanten im Werte von sechstausend Francs . . .«

»Herr Baron, das ist zuviel!« stotterte der Künstler betroffen. Der Baron sprach weiter:

»Was den Rest der zweihunderttausend Francs betrifft, so . . .«

»Ich bitte Sie, Herr Baron«, unterbrach ihn der Künstler, »ich will nichts als meine Hortense.«

»Lassen Sie mich doch nur ausreden, Sie junger Heißsporn! Was die hundertundzwanzigtausend Francs betrifft: die habe ich nicht, aber Sie sollen sie auch bekommen.«

»Aber, Herr Baron . . .«

»Die werden Sie von der Regierung bekommen, in Aufträgen, die ich Ihnen auswirken will. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Sie werden ein Atelier im Marmordepot erhalten. Stellen Sie ein paar schöne Statuen aus, und ich verschaffe Ihnen die Aufnahme in die Akademie! Man hat höheren Orts sehr viel für meinen Bruder und mich übrig. Dadurch erhoffe ich Ihnen für dreißigtausend Francs Aufträge für den Hof versorgen zu können. Zu guter Letzt werden Sie auch für die Stadt Paris Arbeiten ausführen, ebenso für die Pairskammer. Sie werden so viel zu tun haben, daß Sie Hilfskräfte verwenden müssen. Auf die Weise, mein Lieber, werde ich meine Schuld tilgen. Sagen Sie, gefällt Ihnen die Art Zahlung der Mitgift? Trauen Sie sich dazu die Kraft zu?«

»Ich fühle die Kraft in mir, meiner Frau ein Vermögen zu erwerben, ohne auf all das zu rechnen«, gab der Künstler stolz zur Antwort.

»Das liebe ich!« rief der Baron aus. »In der Jugend traut man sich alles zu! Ich hätte einer Frau zuliebe Armeen vernichten wollen! Abgemacht! Sie haben meine Einwilligung!« Er ergriff die Hand des jungen Bildhauers und schüttelte sie. »Am nächsten Sonntag unterzeichnet Ihr den Ehevertrag, und den Sonnabend darauf geht es zum Altar. Es ist der Namenstag meiner Frau.«

Die Baronin stand mit Hortense am Fenster.

»Sieh, dein Zukünftiger und der Vater geben sich die Hände. Es ist alles in Ordnung.«

Als Stanislaus am Abend nach Hause kam, fand er die Lösung des Rätsels seiner raschen Entlassung aus der Haft. Beim Portier lag ein dickes versiegeltes Paket, das den Schuldtitel nebst einer Quittung enthielt und folgenden Begleitbrief:

»Lieber Stanislaus!

Ich war heute vormittag um zehn Uhr bei Dir, um Dich einer königlichen Hoheit vorzustellen, die Dich kennenzulernen wünscht. Da erfuhr ich, daß der Feind Dich auf eine kleine Insel verschleppt hat, deren Hauptstadt Clichy's Castle heißt.

Ich bin schleunigst zu Leon von Lora gegangen und habe ihm lachend eröffnet, daß Du viertausend Francs Lösegeld brauchtest und daß Deine Zukunft auf dem Spiele stände, wenn Du Dich nicht Deinem fürstlichen Protektor vorstelltest. Zum Glück war Bridau da, der geniale Kerl, der selbst erfahren hat, was Armut und Not ist, und der Deine Geschichte kennt. Die beiden haben die Summe zusammengeschossen, und dann habe ich den Gauner bezahlt. Der Mensch hat eine Geniebeleidigung begangen, indem er Dich hat einsperren lassen. Da ich mittags in den Tuilerien sein mußte, habe ich mir Deine Entlassung nicht selber mitansehen können.

Ich weiß, Du bist ein Ehrenmann. Ich habe mich auch bei meinen beiden Freunden für Dich verbürgt. Aber mache ihnen morgen Deinen Besuch.

Leon und Bridau wollen kein Geld von Dir. Sie werden Dich beide um je eine Arbeit von Dir bitten. Das ist sehr richtig von ihnen, denke ich, der ich mich gern Deinen Rivalen nennen möchte, aber nur Dein Kamerad bin.

Stidmann.

Nachschrift: Ich habe dem Fürsten gesagt, Du seiest bis morgen verreist, und er hat zur Antwort gegeben: Gut, also morgen!«

Wie war es dem Baron möglich geworden, seiner Tochter Mitgift und Aussteuer zu geben und zugleich die erstaunlichen Kosten der reizenden Einrichtung für Frau Marneffe aufzubringen? In Hulot steckte in Geldsachen jener Dämon, der die Verschwender und Kraftnaturen dem gefahrvollen Abgrunde zutreibt, in dem sie verderben. An ihm konnte man diese seltsame Macht so recht beobachten, die im Laster erstarkt und jene Gewalttaten ermöglicht, die hie und da von genialen Sinnesmenschen vollbracht werden.

Tags zuvor am Vormittag sah sich der alte Hans Fischer außerstande, die dreißigtausend Francs zu bezahlen, die sein Neffe eingestrichen hatte, somit vor der Notwendigkeit, seine Zahlungsunfähigkeit zu erklären, falls ihm der Baron die Summe nicht zurückerstattete. Der ehrwürdige, weißhaarige Siebzigjährige setzte ein blindes Vertrauen in Hulot, der ihm, dem Bonapartisten, noch von der Sonne Napoleons verklärt erschien. Und darum ging er mit dem Bankbeamten ruhig im Vorzimmer der kleinen Parterrewohnung auf und ab, in der er für achthundert Francs Miete wohnte und von wo aus er seine mannigfachen Getreide- und Furageunternehmungen leitete.

»Margarete holt das Geld in allernächster Nähe«, sagte er zu ihm.

Der Mann in der grauen silberbestickten Uniform kannte die Rechtschaffenheit des alten Elsässers so gut, daß er die dreißigtausend Francs in Banknoten auslegen wollte; aber der Greis nötigte ihn zu warten, indem er ihn darauf aufmerksam machte, daß es noch nicht acht Uhr geschlagen habe. Eine Droschke fuhr vor, er eilte auf die Straße hinaus und hielt dem Baron seine Hand mit einer wunderbaren Gewißheit entgegen. Hulot händigte ihm dreißig Banknoten ein.

»Fahre drei Häuser weiter! Ich sage dir nachher, warum«, bat der alte Fischer.

»Hier, junger Mann!« sagte er dann zu dem Bankbeamten, zählte ihm die Scheine vor und geleitete ihn bis vor die Haustür. Als der Mann außer Sehweite war, rief Fischer die Droschke wieder heran, in der sein erhabener Neffe, der Paladin Napoleons, wartete. Indem er ihn in sein Haus führte, bemerkte er:

»Es ist doch besser, man erfährt in der Bank von Frankreich nicht, daß du mir die dreißigtausend Francs, die dir überwiesen worden waren, wiedergebracht hast. Es ist schon gerade genug, daß man dort die Unterschrift von einem Manne wie dir hat.«

»Gehen wir hinter in deinen Garten, Vater Fischer!« schlug Hulot vor. »Du bist gesund?« fuhr er dort fort, indem er sich in eine Laube von wildem Wein setzte und den Alten musterte wie ein Sklavenhändler einen Kaufgegenstand.

»Kerngesund!« gab der kleine magere, aber markige Greis lachend und mit munterm Blick zurück.

»Die Hitze verträgst du wohl aber nicht?«

»Im Gegenteil.«

»Und was hältst du von Afrika?«

»Ein schönes Land! Die Franzosen sind mit dem kleinen Korporal dort gewesen.«

»Ein Geschäft in Algier könnte uns alle retten!«

»Aber mein Geschäft?«

»Ein Beamter des Kriegsministeriums, der seinen Abschied nehmen will und einen Lebensunterhalt sucht, will dir dein Handelshaus abkaufen.«

»Was soll ich aber in Algier machen?«

»Kriegsvorräte, Proviant und Furage liefern. Deinen Vertrag mit der Regierung habe ich in der Tasche. Du wirst deine Lieferungen dort im Lande um siebzig Prozent billiger bekommen, als wir sie dir berechnen.«

»Wer liefert mir aber?«

»Die Eingeborenen, mittelbar und unmittelbar! Es wächst in Algier, einem nur wenig erforschten Lande (obwohl wir seit acht Jahren dort sind), ungeheuer viel Getreide und Futter. Das gehört den Arabern. Wir nehmen es ihnen unter allerlei Vorwänden ab. Gehört es dann uns, so bemühen sich die Araber, es wiederzuerlangen. Das ist ein ordentlicher Kampf ums Korn, und man kennt niemals genau die Mengen, die man sich gegenseitig abnimmt. Man hat keine Zeit, auf offenem Felde das Getreide scheffelweise abzumessen wie in der Markthalle oder an der Getreidebörse. Die Araberhäuptlinge und ebenso unsere Spahis bevorzugen das bare Geld und verschleudern darum die Erzeugnisse um einen Pappenstiel. Die Armeeverwaltung aber hat bestimmte Bedürfnisse. Sie geht Lieferungsverträge ein zu unerhörten Preisen, wobei sie die Schwierigkeiten des Einkaufs und die Gefahren der Weiterfuhr berücksichtigt. Was ist Algier, kaufmännisch betrachtet? Ein Brachland, das die Leute vom grünen Tisch mit Tinte düngen. Die Verwaltung wird das erst einmal in zehn Jahren klar und deutlich erkennen. Privatleute haben schärfere Blicke. Kurz und gut, ich schicke dich hin, damit du dort dein Glück machst. Ich mache es wie Napoleon, wenn er einen armen Marschall an die Spitze eines Königreiches setzte, in dem etwas zu holen war. Mein lieber Fischer, ich bin ruiniert. Ich muß heute in einem Jahr hunderttausend Francs haben . . .«

»Ich sehe kein Unrecht darin, sie den Beduinen abzunehmen«, meinte der Elsässer gelassen. »Unter dem Kaiserreich tat man dergleichen auch . . .«

»Der Käufer deines Hauses wird dich im Laufe des Vormittags besuchen und dir zehntausend Francs anzahlen. Zur Reise nach Afrika genügt das doch wohl?«

Der alte Mann nickte zustimmend.

»Um alles andere«, fuhr Hulot fort, »mache dir keine Sorgen! Den Rest der Kaufsumme für dein Haus werde ich mir aneignen. Ich brauche das Geld.«

»Alles gehört dir, selbst mein Leben!« beteuerte der Alte.

»Habe keine Angst!« sagte Hulot. Er hatte ihm mehr Scharfsinn zugetraut, als er besaß. »Bei unserm Geschäft wird deine Redlichkeit keinen Schaden erleiden. Die Hauptsache ist, daß man vom Staate gedeckt ist. Und dafür habe ich gesorgt. Das ist in Ordnung. – Natürlich, Vater Fischer, ist das unser strengstes Geheimnis. Ich kenne dich, und so habe ich mit dir offen und ehrlich gesprochen.«

»Ich werde gehen«, sagte der Alte, »und auf wie lange?«

»Auf zwei Jahre. Du wirst dir hunderttausend Francs erübrigen und damit deine alten Tage vergnügt in den Vogesen verleben.«

»Es soll geschehen, wie du willst. Meine Ehre ist deine Ehre!« erklärte der alte Mann voll Ruhe.

»Du bist mein Mann! Übrigens, du wirst nicht abreisen, ehe du deine Großnichte als glückliche Ehefrau gesehen hast. Sie wird Gräfin.«

 


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