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Beim nächsten Besuche brachte Tante Lisbeth in ihrem Arbeitsbeutel ein Geschenk mit, das sie der Baronin zu ihrem Geburtstag überreichen wollte. Damit glaubte sie die Existenz ihres so unwahrscheinlichen Verehrers genugsam zu beweisen.
Dieses Geschenk war ein silbernes Petschaft: drei aneinandergelehnte laubumrankte Gestalten trugen den Erdball. Diese drei Gestalten stellten Glaube, Liebe und Hoffnung vor. Ihre Füße stemmten sich gegen Ungeheuer, die sich untereinander bekämpften und aus denen heraus sich die symbolische Schlange wand. Heute, im Jahre 1846, würde dieses Meisterwerk niemanden mehr in Erstaunen setzen, nachdem Fräulein von Fauveau, Wagner, Jeanest, Froment-Meurice, der Holzbildhauer Liénard und andere die Kunst des Benvenuto Cellini von neuem so mächtig vorwärtsgebracht haben. Aber damals mußte ein junges Mädchen, das sich auf Kunstgegenstände verstand, in höchster Verwunderung vor diesem Petschaft stehen, als es Tante Lisbeth mit den Worten vorwies:
»Nun, wie gefällt dir das?«
Die Linienführung, die Behandlung der Gewänder und der Rhythmus der Gestalten deuteten auf die Schule Raffaels hin, aber in der Ausführung erinnerten sie an die Florentiner Bronzekünstler, an Donatello, Brunelleschi, Ghiberti, Benvenuto Cellini, Giovanni da Bologna usw. Selbst in den Werken der französischen Renaissance finden sich fabelhaftere Ungeheuer nicht als die, die hier die Laster verkörperten. Die Palmen, Farne, Binsen und das Schilf um die Tugenden war stilistisch wie technisch bewunderswert. Um die Häupter schlang sich ein Band, auf dem man in den drei Zwischenräumen zwischen den Köpfen ein W, einen Steinbock und das Wort fecit las.
»Wer hat das geschaffen?« fragte Hortense.
»Mein Verehrer«, erwiderte Tante Lisbeth. »In dem Ding stecken sechs Monate Arbeit. Ich mit meiner Goldstickerei verdiene mehr. Er hat mir erklärt, Steinbock sei ein deutsches Wort und bedeute »Gemse« oder so was. Von nun an will er alle seine Werke so signieren. Genug! Jetzt bekomme ich deinen Schal!«
»Wieso?«
»Kann ich mir ein solches Kleinod kaufen oder machen lassen? Das ist doch ausgeschlossen. Also habe ich es geschenkt bekommen. Und wer macht einem solche Geschenke? Ein Verehrer!«
Mit einer Verstellung, die Lisbeth Fischer entsetzt haben würde, wenn sie sie erkannt hätte, hütete sich Hortense, ihre große Bewunderung merken zu lassen, obwohl ihre Seele im Innersten ergriffen war, wie das allen für Schönheit empfänglichen Menschen so geht, wenn sie unverhofft vor einem vollendeten Meisterwerke stehen.
»Gewiß«, sagte sie, »das ist recht hübsch.«
»Ja, ja, es ist hübsch«, wiederholte die alte Jungfer, »aber ein gelber Kaschmirschal ist mir lieber. Siehst du, Kindchen, damit verbringt mein Verehrer seine Zeit. Seit seiner Ankunft in Paris hat er drei oder vier solche Sächelchen verfertigt, und das ist nun die Frucht von vier Studien- und Arbeitsjahren. Er hat bei Formern, Gießern und Goldschmieden gelernt. Was weiß ich? Hunderte und Tausende sind dabei draufgegangen. Nun bildet sich das Kerlchen ein, in ein paar Monaten berühmt und reich zu werden.«
»Aber du siehst ihn doch?«
»Glaubst du denn immer noch, es sei Fabel? Ich habe dir lachend die Wahrheit gesagt!«
»Und er liebt dich?« fragte Hortense lebhaft.
»Er betet mich an!« antwortete die Tante und setzte eine ernsthafte Miene auf. »Siehst du, Kindchen, bis jetzt hat er nur blasse und fade Frauen gekannt, wie sie da oben im Norden alle sind. Ich, braun, schlank, jung, ich habe ihm das Herz entflammt. Aber schweigen! Ich habe dein Wort.«
»Dem Ärmsten wird es wohl nicht anders ergehen als den fünf andern!« neckte das junge Mädchen die Tante, indem sie das Petschaft weiter betrachtete.
»Sechs, bitte! Du vergißt den, der in Lothringen auf mich wartet, und der noch heute für mich den Mond vom Himmel holen würde.«
»Der hier tut etwas Besseres«, erwiderte Hortense, »er bringt dir die Sonne!«
»Leider kann man Sonnengold nicht prägen lassen«, meinte Tante Lisbeth. »Man braucht Erde, ehe man sich sonnen kann!«
Diese Scherzreden folgten sich Schlag auf Schlag und erregten jenes übermütige Lachen, das die Baronin so ängstigte, weil es sie zwang, die voraussichtliche Zukunft ihrer Tochter mit dem frohen Heute zu vergleichen, wo sie sich all der Fröhlichkeit ihrer Jugend noch hingeben durfte.
»Er muß dir gegenüber doch große Verpflichtungen haben, wenn er dir ein Werk schenkt, an dem er sechs Monate lang gearbeitet hat?« fragte Hortense, die das Petschaft sehr nachdenklich gestimmt hatte.
»Du willst aber auch gar zu viel auf einmal wissen«, wehrte Tante Lisbeth ab. »Paß mal auf! Ich will dich in eine Verschwörung einweihen.«
»Handelt es sich um deinen Verehrer?«
»Du möchtest ihn sehen! Aber du wirst doch billigen, daß eine alte Jungfer wie eure Tante Lisbeth, die ihren Liebsten viele Jahre lang so fein verheimlicht hat, ihn nun nicht gleich zeigt. Laß mich damit also in Frieden! Siehst du, ich habe keinen Kater, keinen Kanarienvogel, keinen Hund, auch keinen Papagei; aber etwas fürs Herz muß doch auch eine alte Wildkatze wie ich haben, und darum halte ich mir einen Polen.«
»Hat er einen Schnurrbart?«
»So lang!« machte Lisbeth, indem sie ein langes Stück Goldfaden von der Rolle abwickelte.
Sie brachte sich stets Arbeit mit und beschäftigte sich damit, bis man zu Tisch ging.
»Wenn du immer nur fragst, erfährst du gar nichts mehr!« fuhr sie fort. »Du bist erst zweiundzwanzig Jahre alt und dabei geschwätziger als ich mit meinen zweiundvierzig oder vielmehr dreiundvierzig.«
»Ich will mucksmäuschenstill zuhören!«
»Mein Verehrer hat eine zehn Zoll hohe Bronzegruppe gemacht«, begann Tante Lisbeth. »Simson, wie er einen Löwen erwürgt. Er hat sie eingegraben, damit sie Rost ansetzt. Sie soll so antik aussehen wie Simson selber. Dies Meisterwerk ist nun bei einem Raritätenhändler ausgestellt, der seinen Laden auf der Place du Carrousel hat, nahe meinem Hause. Dein Vater, der mit Popinot, dem Minister des Handels und der Landwirtschaft, und mit dem Grafen Rastignac bekannt ist, sollte die beiden gelegentlich auf die Gruppe aufmerksam machen: sie sei ein schönes antikes Werk, das er zufällig im Vorbeigehen gesehen habe. Die großen Herren von heute scheinen mehr Interesse für solche Artikel zu haben als für unsere schönen Goldstickereien. Mein Schatz könnte sein Glück machen, wenn einer dies alte Kupferding kaufen oder auch nur mal ansehen möchte. Der arme Kerl meint, man könne das Zeug für wirklich alt halten und teuer bezahlen. Wenn einer der Minister die Gruppe kaufte, würde er sich ihm dann vorstellen und ihm beweisen, daß er sie gemacht hat. Dann wird er angestaunt werden. Ja, er bildet sich wahrhaftig ein, er sei schon auf dem Gipfel seines Künstlertums. Das Kerlchen ist eingebildet wie ein neubackener Kommerzienrat.«
»Also ein neuer Michelangelo! Für einen Verliebten hat er seine sieben Gedanken noch ganz leidlich beisammen«, meinte Hortense. »Und wieviel verlangt er dafür?«
»Fünfzehnhundert Francs! Der Händler soll die Bronze nicht billiger hergeben.«
»Augenblicklich ist Papa Beauftragter von Majestät«, sagte Hortense. »Er trifft die beiden Minister täglich in der Kammer. Er muß sich der Sache annehmen. Laß mich es nur machen! Sie werden reich sein, Frau Gräfin Steinbock!«
»Nein, dazu ist mein Mann zu gemächlich. Wochenlang tut er nichts als rotes Wachs kneten – und nichts wird fertig. Was sag ich? Ganze Tage verträumt er im Louvre und in der Bibliothek, wo er alte Stiche anguckt und abzeichnet. Er ist ein Tagedieb.«
Die beiden fuhren fort zu scherzen. Hortense lachte aber nicht mehr natürlich, denn sie stand mit einem Male im Banne einer Liebe, wie sie alle jungen Mädchen einmal erleben: der Liebe zu dem Unbekannten, einer vagen Liebe, bei der sich die Gedanken um eine vom Zufall heraufbeschworene Gestalt kristallisieren wie die Blumen des Rauhreifs um den Halm, den der Wind zufällig an ein Fenster gedrückt hat. Seit zehn Monaten ahnte sie etwas vom Vorhandensein dieses phantastischen Liebhabers der Tante Lisbeth, an deren ewige Ehelosigkeit sie ebenso fest wie ihre Mutter glaubte, und vor acht Tagen hatte sich ihnen diese imaginäre Gestalt zu einem Grafen Stanislaus Steinbock verkörpert. Der Traum war damit zur Wirklichkeit geworden, und der nebelhafte Schatten hatte die leibhafte Gestalt eines jungen dreißigjährigen Mannes angenommen. Das Petschaft, das Hortense in der Hand hielt, wirkte zauberkräftig wie eine Verkündigung, in der sich ihr ein Genie offenbarte, wie ein Talisman. Hortense fühlte sich so glücklich, daß sie beinahe an der Wahrheit dieses wunderschönen Märchens zweifeln mochte. Ihr Blut fieberte; sie lachte wie närrisch.
»Die Tür zum Salon ist offen, wie mir scheint«, bemerkte Tante Lisbeth. »Laß uns nachsehen, ob Herr Crevel wieder fort ist!«
»Mutter ist seit zwei Tagen so traurig. Sicherlich hat sich die Partie, um die es sich handelte, zerschlagen.«
»Unsinn! Das wird sich schon wieder einrenken. Es handelt sich – soviel kann ich dir sagen – um einen Königlichen Regierungsrat. Möchtest du gern Frau Regierungsrätin werden? Wenn es von Herrn Crevel abhängt, dann erzählt er mir gewiß etwas davon. Morgen werde ich wissen, ob Aussicht . . .«
»Tantchen, laß mir das Petschaft!« bat Hortense. »Ich zeig es niemandem! In vier Wochen ist Mutters Geburtstag; an dem Tage gebe ich es dir früh zurück.«
»Nein, gib es mir gleich wieder! Es fehlt das Kästchen dazu.«
»Ich möchte es nämlich gern Papa zeigen, damit er dem Minister gut unterrichtet davon erzählen kann.«
»Nun gut, aber zeige es deiner Mutter nicht! Weiter verlange ich nichts. Wenn sie wüßte, daß ich wirklich einen Schatz habe, würde sie mich auslachen.«
Die beiden gelangten gerade in dem Augenblick an die Tür des Damenzimmers, als die Baronin ohnmächtig wurde; aber der Schrei, den Hortense darüber ausstieß, genügte, um Adeline wieder zu sich zu bringen. Lisbeth lief nach Riechsalz. Als sie damit zurückkam, fand sie die Tochter in den Armen der Mutter. Die Baronin suchte sie mit den Worten zu beruhigen: »Es ist nichts; es sind nur die Nerven. Da kommt dein Vater«, fügte sie hinzu. Sie hatte ihn an seiner Art zu klingeln erkannt. »Sag ihm ja nichts davon!«
Adeline erhob sich, um ihrem Gatten entgegenzugehen und ihn in den Garten zu führen, wo sie ihm noch vor Tisch von dem vereitelten Heiratsplan berichten, ihn über seine Zukunftspläne befragen und ihm einige Ratschläge geben wollte.
Der Baron von Hulot bewahrte noch immer seine parlamentarische napoleonische Haltung. Man kann die »Kaiserlichen« leicht erkennen an ihrem soldatischen Wesen, an ihrer Art, sich zu kleiden, an der Gewohnheit, den Rock bis oben zuzuknöpfen, an den schwarzen Seidenkrawatten und an dem ganzen selbstbewußten Auftreten, dem man unbedingtes Herrentum ansieht, das sich die Umgebung des Kaisers in den so häufigen und wechselvollen Lagen angeeignet hatte. Nichts verriet das hohe Alter des Barons. Seine Augen waren noch so scharf, daß er ohne Glas las; sein hübsches ovales Gesicht, das ein vielleicht allzu dunkler Bart schmückte, war von frischer roter Farbe infolge von vielen kleinen Äderchen in der Haut. Sein durch einen Gürtel gehaltener Bauch vermehrte, wie Brillat-Savarin sagt, seine Würde. Sein uraristokratisches und höchst leutseliges Wesen nahmen jeden sogleich für diesen alten Schwerenöter ein, mit dem Crevel so manchen lustigen Abend verlebt hatte. Er war einer von den Männern, deren Augen beim Anblick einer hübschen Frau aufleuchten, die jeder Schönen zulächeln, selbst denen, die nur vorübergehen und nie wiederkehren.
»Hast du eine Rede gehalten, lieber Hektor?« fragte Adeline, als sie seine sorgenvolle Stirn bemerkte.
»Nein«, antwortete Hektor, »aber ich bin todmüde. Stundenlange Reden, ohne daß es zur Abstimmung gekommen wäre. Nichts als Wortgeplänkel! Wie Kavallerieattacken, die nicht durchstoßen! Man hat das Wort an die Stelle der Tat gesetzt, und die Leute, die an Taten gewöhnt sind, haben wenig Freude daran. Ich habe das auch zum Marschall beim Abschied gesagt. Na, man hat sich lange genug am Regierungstische gelangweilt; hier wollen wir vergnügt sein . . . Aha, die Wildkatze! Guten Tag, Wildkatze!«
Dann umarmte und küßte er seine Tochter, neckte sie und zog sie auf seine Knie, indem er ihren Kopf auf seine Schulter legte, um ihr schönes goldiges Haar an seinem Gesichte zu fühlen.
Er ist müde und verstimmt, dachte Frau Hulot, und nun muß ich ihm die Laune gleich noch mehr verderben.
»Bleibst du heute abend bei uns?« fragte sie.
»Nein, Kinder. Nach Tisch verlaß ich euch wieder. Wenn der Tag nicht meinem Bruder, meinen Kindern und der Wildkatze gehörte, so hättet ihr mich überhaupt nicht zu sehen bekommen.«
Die Baronin nahm die Zeitung, überflog den Theaterplan und legte das Blatt wieder hin. Unter der Opernrubrik hatte sie »Robert der Teufel« gelesen. Josepha, die seit einem halben Jahre die Italienische mit der Französischen Oper vertauscht hatte, sang die Alice. Dieses stumme Spiel entging dem Baron nicht; er sah seine Frau scharf an. Adeline senkte den Blick und trat hinaus in den Garten, wohin er ihr folgte.
»Na, was hast du, Adeline?« fragte er, indem er sie um die Taille faßte und fest an sich drückte. »Weißt du nicht, daß ich dich mehr liebe als . . .?«
»Mehr als Jenny Cadine und Josepha?« unterbrach sie ihn mutig.
»Wer hat dir denn das gesagt?« fragte der Baron, indem er seine Frau losließ und unwillkürlich einige Schritte zurückprallte.
»Ich habe einen anonymen Brief bekommen, den ich verbrannt habe. Darin stand, daß Hortenses Heirat an der Lage, in der wir uns befänden, gescheitert sei. Mein lieber Hektor, als deine Frau hätte ich nie etwas gesagt. Ich kannte dein Verhältnis mit Jenny Cadine. Habe ich mich je darüber beklagt? Aber als Hortenses Mutter bin ich dir Offenheit schuldig.«
Nach einem Augenblick des peinlichsten Schweigens, während dem man die Herzen schlagen hören konnte, breitete Hulot die Arme aus, drückte seine Frau an sich, küßte sie auf die Stirn und sagte mit der ganzen Übertreibung momentaner Begeisterung: »Adeline, du bist ein Engel, und ich bin ein schlechter Mensch!«
»Nein, nein!« rief die Baronin und legte ihm rasch die Hand auf den Mund, um zu hindern, schlecht von sich selbst zu sprechen.
»Na ja. In diesem Augenblick könnte ich Hortense keinen Pfennig mitgeben. Ich bin sehr unglücklich. Aber da du mir dein Herz geöffnet hast, kann ich dir auch die Sorgen beichten, die mich fast erdrücken. Daß dein Onkel Fischer in Geldverlegenheiten ist, das ist auch meine Schuld; er hat mir nämlich eine Wechselbürgschaft von fünfundzwanzigtausend Francs geleistet! Eines Weibes wegen, das mich betrügt, das in meiner Abwesenheit über mich lacht, mich einen angestrichenen alten Kater nennt! – Ach, es ist entsetzlich, daß es mehr Geld kostet, einem Laster zu frönen als eine Familie zu ernähren! Und doch kann man nicht widerstehen. Ich könnte dir in diesem Augenblick versprechen, niemals wieder zu dieser abscheulichen Jüdin zurückzukehren; aber wenn sie mir nur zwei Zeilen schreibt, so eile ich doch wieder hin, wie man unter dem Kaiser ins Gefecht ging.«
»Quäle dich nicht, Hektor!« sagte die arme verzweifelte Frau und vergaß ihre Tochter über den Tränen in ihres Mannes Augen. »Siehst du, ich habe noch meine Brillanten. Rette damit vor allem meinen Onkel!«
»Deine Brillanten sind heute kaum zwanzigtausend Francs wert. Das würde Vater Fischer gar nichts nützen. Behalte sie darum für Hortense! Morgen rede ich mit dem Marschall!«
»Armer Freund!« rief die Baronin, ergriff ihres Mannes Hände und küßte sie.
Das war die ganze Auseinandersetzung! Adeline bot ihm ihre Brillanten an, und er schenkte sie Hortense. Dieser Verzicht schien ihr erhaben, und nun war sie ganz widerstandslos.
Er ist der Herr. Er könnte mir alles nehmen. Aber er läßt mir meine Brillanten. Er ist ein Gott! So dachte diese Frau, die sicherlich mit ihrer Sanftmut mehr erreicht hatte als eine andere durch Zorn und Eifersucht.
Der Menschenkenner weiß, daß wohlerzogene, aber lasterhafte Menschen gewöhnlich viel liebenswürdiger sind als Tugendbolde. Da sie immer ein schlechtes Gewissen haben, so nehmen sie gleichsam einen Vorschuß auf die Nachsicht der andern; sie sind gegen die Fehler ihrer Richter duldsam, und so gelten sie für prächtige Menschen. Natürlich gibt es auch unter den Tugendsamen reizende Leute; aber meist dünkt sich die Tugend an sich schon vollkommen genug und spart sich jeden Aufwand von Liebenswürdigkeit. Übrigens sind alle tugendhaften Leute – von den Heuchlern spreche ich hier nicht – ein wenig argwöhnisch; sie kommen sich auf dem großen Markte des Lebens gleichsam übervorteilt vor und machen gern spitze Bemerkungen nach der Art der unverstandenen Seelen.
Der Baron, der sich den Ruin seiner Familie vorzuwerfen hatte, nahm seine Zuflucht zu all den reichen Hilfsquellen seines Geistes und seiner verführerischen Urbanität gegenüber seiner Frau, den Kindern und der Tante Lisbeth. Als er seinen Sohn und Cölestine mit dem kleinen Hulot kommen sah, überschüttete er seine Schwiegertochter mit den artigsten Schmeicheleien. Daran war die eitle Cölestine nicht sonderlich gewöhnt; sie war zwar ein reiches, aber höchst unbedeutendes Wesen von recht alltäglichem Aussehen. Der Großvater nahm den kleinen Kerl, küßte ihn und fand ihn süß und entzückend. Er unterhielt sich mit ihm in der Kleinkindersprache und weissagte, daß diese Krabbe einmal größer als sein Großvater werden würde; auch seinem Sohne sagte er ein paar angenehme Worte und gab dann das Kind wieder der Kinderfrau, einer dicken Bäuerin aus der Normandie. Cölestine wechselte mit der Baronin einen Blick, der deutlich ausdrückte: Was für ein herrlicher Mensch! Es war klar, daß ihn Cölestine fortan gegen ihres eigenen Vaters Angriffe in Schutz nahm.
Nachdem der Baron den liebenswürdigen Schwiegervater und den gemütlichen Großpapa gespielt hatte, ging er mit seinem Sohn in den Garten, wo er ihm in einigen erfahrungsreichen Bemerkungen vor Augen führte, wie man sich in der Kammer in einem so schwierigen Fall, wie zum Beispiel dem von heute morgen, verhalten müsse. Der junge Anwalt bewunderte seines Vaters Scharfblick und war von seinem kameradschaftlichen Ton gerührt, besonders aber von der sichtlichen Achtung, mit der er ihn wie seinesgleichen behandelte. Hulot der Jüngere war einer der jungen Männer, wie sie die Revolution von 1830 hervorgebracht hat: den Kopf voll Politik, erfüllt von seinen Plänen und Hoffnungen, die er hinter der Maske der Würde verbarg, und sehr eifersüchtig auf alle bereits Berühmten. Er warf mit Phrasen um sich, aber nicht mit den blitzenden Bonmonts, den Brillanten der französischen Plauderkunst. Seine Haltung war gut, aber von einer steifen Zurückhaltung, die Vornehmheit ausdrücken sollte. Solche Leute sind wie wandelnde Mumien, in denen ein Franzose der guten alten Zeit einbalsamiert liegt. Manchmal regt sich der alte Gallier wieder und möchte die englische Tünche abwerfen, aber die Eitelkeit duckt ihn immer wieder, bis er zu guter Letzt gottergeben seinen Geist aufgibt. Solche wandelnden Mumien stecken immer in tadellosen schwarzen Röcken.
»Ah, da kommt mein Bruder!« sagte der Baron und eilte zur Tür des Salons, ihm entgegen.
Nachdem Hektor den wahrscheinlichen Nachfolger des eben verstorbenen Marschalls Montcornet umarmt hatte, führte er ihn herein, wobei er ihm mit sichtlicher Liebe und Verehrung den Arm reichte. Dieser Pair von Frankreich, den die Taubheit vom Besuch der Sitzungen abhielt, hatte einen herrlichen Kopf mit vom Alter gebleichtem Haar, das aber immer noch voll genug war, um da, wo der Hut gesessen hatte, einen Eindruck zu zeigen. Klein, untersetzt und mager, trug der Graf ein frisches Greisentum fröhlich zur Schau. Im Besitz einer außergewöhnlichen geistigen Regsamkeit, die sich ungern zur Ruhe verurteilt sah, vertrieb er sich die Zeit mit Lesen und Spazierengehen. In seinem blassen Gesicht, seiner edlen Haltung, seiner Natürlichkeit beim Sprechen – wobei er sehr witzig sein konnte – spiegelte sich seine innere Feinheit. Nie erzählte er vom Krieg und den Feldzügen, die er mitgemacht hatte; er war zu sehr wirklicher Held, als daß er mit dem Heldentum paradiert hätte. Im Salon sah er seine ständige Aufgabe darin, die leisesten Wünsche der Frauen zu erfüllen.
»Ihr seid alle so lustig!« meinte er, als er die gute Laune bemerkte, die der Baron in diesem kleinen Familienkreis hervorgerufen hatte, ». . . obgleich aus Hortenses Heirat nichts geworden ist«, setzte er hinzu, als er auf dem Gesicht der Schwägerin einen Schatten von Trauer wahrnahm.
»Das kommt immer noch früh genug«, rief ihm Tante Lisbeth mit Donnerstimme ins Ohr.
»Ach, da bist du ja auch, du Baum, der keine Früchte tragen wollte!« meinte er lachend.
Der Held von Pforzheim mochte Lisbeth gern, weil sie sich beide in manchem ähnlich waren. Auch er war aus dem Volke hervorgegangen, hatte keine besondere Erziehung genossen und verdankte sein Soldatenglück einzig seinem persönlichen Mute, und der gesunde Menschenverstand ersetzte bei ihm den geistigen Drill. Mit reinen Händen und ruhmgekrönt feierte er den Abend eines schönen Lebens im Kreise einer Familie, der alle seine Liebe gehörte, ohne daß er seines Bruders Irrungen und Wirrungen ahnte. Keiner genoß wie er das schöne Schauspiel dieser Einigkeit, wo nie der geringste Streit ausbrach, wo sich alle wie Brüder und Schwestern liebten; auch Cölestine war sofort als zur Familie gehörig betrachtet worden. So erkundigte sich denn der biedere Graf mehrere Male, warum Vater Crevel nicht käme.
»Mein Vater ist auf dem Lande«, rief ihm Cölestine zu. Man berichtete ihm, Crevel sei verreist.
Diese schöne Familieneintracht stimmte Frau Hulot nachdenklich: Das ist doch mein sicherstes Glück! Wer könnte mir das rauben?
Als der General sah, wie seinem Liebling Adeline von ihrem Manne der Hof gemacht wurde, neckte er den Baron, so daß dieser aus Furcht vor der Lächerlichkeit seine Galanterie von neuem seiner Schwiegertochter zuwandte, die bei diesen Familienmahlzeiten immer den Gegenstand seiner Schmeicheleien und Aufmerksamkeiten bildete. Durch sie hoffte er nämlich den Vater Crevel umzustimmen und ihn von seinem Hasse abzubringen.
Schwerlich konnte man beim Anblick dieses Familienbildes glauben, daß der Vater vor dem Ruin stand, daß die Mutter in Verzweiflung war, daß der Sohn in größter Besorgnis um seines Vaters Zukunft schwebte und daß die Tochter im Begriffe war, ihrer Tante den Geliebten abspenstig zu machen.