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Hulot kam in tiefster Niedergeschlagenheit nach Hause, völliger Ohnmacht nahe und in die düstersten Gedanken verloren. Er weckte seine Frau und schüttete ihr sein Herz aus, indem er ihr die Geschichte der drei letzten Jahre beichtete. Dabei schluchzte er wie ein Kind, dem man sein Spielzeug genommen hat. Die Beichte eines alten Mannes mit jungem Herzen, die tragische Kette von Erlebnissen verursachte Adeline bei allem echten Schmerze die lebhafteste innerliche Freude. Sie dankte dem Himmel für diesen letzten Schlag; denn nun sah sie ihren Mann für immer dem Kreise seiner Familie zurückgegeben.
»Lisbeth hat also recht gehabt!« sagte sie ohne jeglichen unnützen Vorwurf zu ihm. »Sie hat uns das alles vorausgesagt.«
»Ja! Hätte ich nur damals auf sie gehört, anstatt mich aufzuregen, als ich die arme Hortense zwingen wollte, in ihr Haus zurückzukehren, damit diese Dirne nicht bloßgestellt werde! Meine liebe Adeline, wir müssen Stanislaus retten! Er steckt im Sumpfe bis an den Hals!«
»Armer Freund, diese kleine Bürgersfrau hat dir nicht weniger übel mitgespielt als vorher die Komödiantinnen«, meinte Adeline lächelnd.
Die Baronin war über die Wandlung ihres Hektor entsetzt, als sie ihn so unglücklich, leidend und gebeugt unter der Last seiner Sorgen sah. Sie war ganz Herz, ganz Mitleid, ganz Liebe. Sie hätte ihr Leben dahingegeben, um Hulot wieder glücklich zu machen.
»Bleibe bei uns, geliebter Hektor! Sage mir, wie es die Frauen anfangen, dich so festzuhalten! Ich will alles versuchen . . . Warum hast du mich nicht nach deinem Frauenideal gebildet? Bin ich zu geistlos? Andere finden mich noch immer leidlich hübsch genug, um mir den Hof zu machen.«
Viele verheiratete Frauen, die ihren Männern und ihren Pflichten zugetan sind, werden sich hier fragen, warum gute und hochbegabte Männer erbärmlichen Weibern wie der Marneffe nachlaufen und nicht ihre eigenen Frauen, zumal wenn sie der Baronin Hulot ähneln, zum Mittelpunkt ihres Seelen- und Sinnenlebens machen. Die Erklärung greift tief in die Geheimnisse der menschlichen Natur. Die Liebe, diese ungeheuerliche Abirrung von der Vernunft, diese hohe hehre Lust der großen Herzen und anderseits dieses oberflächliche feile Vergnügen der Alltagsgeister läuft in zwei grundverschiedene Extreme ein und derselben Erscheinung aus. Der begehrliche Mann – und der ganze Mann ist immer ein Sinnenmensch – begnügt sich nicht mit einer einzigen von den tausend Variationen zwischen den beiden Extremen der Liebe. Die Frau aber, die so verschiedene Gelüste starker Männlichkeit zu befriedigen fähig ist, die ist ebenso selten wie unter den Männern der große Stratege, der große Künstler, der große Schriftsteller oder der große Erfinder. Und nicht nur der höhere Mann, auch der Schwächling wie Hulot, auch die Krämerseele wie Crevel empfindet gleicherweise den Drang nach einem (individuellen) Ideal wie nach dem gemeinen Genüsse. Und so sind sie alle auf der Suche nach dem seltenen weiblichen Doppelwesen. Diese Sucht liegt den Männern seit Urzeiten im Blute. Trotzdem hat die herkömmliche Ehe ihre Berechtigung, wenngleich sie fast durchweg nichts ist als ein egoistisches Geschäft. Sie ist ein Bündnis, vom Leben bedingt, das auf gemeinsamen Zielen, gemeinsamen Mühen, Arbeiten und Kämpfen und auf zu gleichen Teilen zu bringenden schweren Opfern beruht. Die berufsmäßigen Jäger nach Liebe, die Entdecker und Schatzgräber im Reiche der Leidenschaft müssen so den konventionellen Sittenlehrern für Verbrecher gelten, für viel zu mild bestrafte Einbrecher.
Der Baron begab sich rasch zum Marschall Fürsten von Weißenburg, dessen hohe Gönnerschaft seine letzte Zuflucht war. Da er von diesem alten Soldaten seit fünfunddreißig Jahren protegiert wurde, hatte er jederzeit freien Zutritt zu ihm.
»Guten Tag, lieber Hektor«, sagte der gütige große Feldherr. »Was hast du? Du siehst sorgenvoll aus. Die Sitzungsperiode ist doch zu Ende. Wieder eine, die wir überstanden haben! Ich spreche von derlei jetzt wie früher von unsern Feldzügen. Bei Gott, ich glaube, sogar die Zeitungen nennen die Sitzungen parlamentarische Feldzüge.«
»Wir haben in der Tat Unglück gehabt, Marschall, aber das ist das Elend dieser Zeit!« sagte Hulot. »Das ist nun einmal so. Jedes Zeitalter hat seine Schattenseiten. Das größte Unglück der heutigen Regierungen besteht darin, daß weder Majestäten noch Ministerien in ihren Handlungen so frei sind, wie es der Kaiser war.«
Der Marschall warf auf Hulot einen der Adlerblicke voll Stolz, Klarheit und Scharfsinn, die ein Beweis waren, daß seine große Seele trotz der Jahre noch frei und stark war.
»Du willst etwas von mir?« sagte er und nahm eine heitere Miene an.
»Ich sehe mich in der Zwangslage, Sie – wie um eine persönliche Gnade – um die Beförderung eines meiner Beamten zum Kanzleidirektor zu bitten und um seine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion.«
»Wie heißt er«, fragte der Marschall und warf dem Baron einen blitzartigen Blick zu.
»Marneffe.«
»Er hat eine hübsche Frau. Ich habe sie bei der Hochzeit deiner Tochter gesehen. Mein lieber Hektor, es handelt sich also um eine galante Geschichte! Du leistest dir derlei immer noch? Ich muß gestehen, du machst der Kaiserlichen Garde Ehre. Das kommt davon, wenn man nicht der aktiven Armee, sondern der Verwaltung angehört hat. Du hast dabei deine Kräfte geschont. Aber von der Sache steh ab, mein Junge! Sie ist zu leichtsinnig, um sie amtlich anzuerkennen . . .«
»Marschall, so einfach ist diese schlimme Geschichte nicht. Mir droht ein Ehebruchsprozeß. Wollen Sie mich vor dem Strafrichter sehen?«
»Zum Teufel!« rief der Marschall und wurde besorgt. »Erzähle mir das Nähere!«
»Sie sehen mich in der Lage eines in die Falle gegangenen Fuchses. Sie waren immer so gütig zu mir, daß Sie mich wohlwollend aus der schmachvollen Lage retten werden, in der ich mich befinde.«
Hulot erzählte sein Mißgeschick möglichst geistreich und heiter.
»Verehrter Fürst«, schloß er, »wollen Sie meinen Bruder, den Sie so lieben, aus Kummer sterben sehen, und einen Ihrer nächsten Untergebenen, einen Staatsrat, kompromittiert im Stiche lassen? Der Marneffe ist ein Schelm, den wir bei der ersten besten Gelegenheit in den nächsten paar Jahren pensionieren können.«
»Wie du von ein paar Jahren sprichst, lieber Freund!« meinte der Marschall.
»Fürst, des Kaisers Garde stirbt nicht!«
»Ich bin jetzt der letzte Marschall von denen, die bei der ersten Beförderung ernannt worden sind. Hektor, du weißt gar nicht, wie sehr ich an dir hänge, aber du sollst es erfahren! Erst an dem Tage, an dem ich das Ministerium verlasse, sollst auch du es verlassen. Du bist nicht Abgeordneter. So mancher trachtet nach deiner Stelle, und ohne mich hättest du sie schon nicht mehr. Ich habe für dich manche Lanze brechen müssen, um dich zu halten. Ich will dir deine beiden Bitten gewähren, denn es wäre gar zu hart, dich in deinem Alter und in der Stellung, die du einnimmst, auf der Anklagebank zu sehen. Aber du beeinträchtigst dein Ansehen außerordentlich! Wenn Marneffes Beförderung und Auszeichnung zu einem Skandal Veranlassung geben sollte, wird man uns übel zusetzen. Ich mache mir nichts draus, aber für dich ist das wiederum eine fatale Geschichte. Bei der nächsten Kammersitzung geht man dir an den Kragen. Dein Amt wird einem halben Dutzend einflußreicher Persönlichkeiten als Lockspeise vorgehalten, und du wirst höchstens durch mein gewichtiges Eintreten gerettet.«
»Das Protokoll muß vernichtet werden!« erklärte er.
Der Marschall klingelte.
»Sie handeln wie ein Vater, Fürst!«
»Wo ist Roger?« fragte der Marschall, als sein Kanzleidiener Mitouflet erschien. »Ich lasse ihn bitten. Ich danke, Mitouflet! – Und du, alter Kamerad, laß die Ernennung vorbereiten; ich unterschreibe sie. Aber der ehrlose Intrigant soll nicht lange die Frucht seines Bubenstreiches genießen. Ich werde ihm scharf auf die Finger sehen lassen, und beim geringsten Versehen fliegt er zum Tempel hinaus! Jetzt, wo du gerettet bist, lieber Hektor, nimm dich in acht. Gib deinen Freunden keine Ärgernisse. Du wirst die Beförderung noch heute vormittag zugeschickt bekommen, und dein Mann wird Ritter . . . Wie alt bist du eigentlich?«
»In einem Vierteljahr dreiundsiebzig.«
»Du bist ein Hauptkerl!« sagte der Marschall lachend. »Du verdientest eine Beförderung; aber leider Gottes leben wir nicht unter Ludwig dem Fünfzehnten!«
»Noch solch ein Sieg«, sagte Hulot zu sich, als er über den Hof ging, »und ich bin verloren!«
Der unglückliche Beamte ging zum Bankier von Nucingen, dem er nur noch eine unbedeutende Summe schuldete. Es gelang ihm, vierzigtausend Francs von ihm zu leihen, indem er sein Gehalt wiederum für zwei Jahre verpfändete; aber der Bankier bedang sich aus, daß im Falle von Hulots Pensionierung der pfändbare Teil der Pension zur Rückzahlung des Darlehns gepfändet werde, bis Kapital und Zinsen gedeckt seien. Das neue Geschäft wurde – wie das frühere – unter Vauvinets Namen abgeschlossen, dem der Baron einen Wechsel in der Höhe von zwölftausend Francs ausstellte. Am nächsten Tage wurde alles vernichtet: das verhängnisvolle Protokoll, die Klage des Ehemannes und die Briefe. Die skandalöse Beförderung und Auszeichnung eines gewissen Herrn Marneffe, die im Trubel der Julifeierlichkeiten kaum bemerkt wurden, gaben nicht zu einem einzigen Zeitungsartikel Anlaß.
Lisbeth, die scheinbar mit Frau Marneffe uneinig war, richtete sich beim Marschall von Hulot ein. Zehn Tage später wurde die alte Jungfer erstmalig mit dem berühmten alten Manne aufgeboten. Adeline hatte ihn so weit gebracht, indem sie ihm Hektors finanzielle Not erzählte; gleichzeitig hatte sie ihn gebeten, niemals mit dem Baron davon zu sprechen, der, wie sie sagte, gemütskrank und schwermütig geworden sei.
So triumphierte Lisbeth. Nunmehr stand sie dem Ziele ihres Ehrgeizes und der Befriedigung ihres Hasses nahe. Im Vorgefühl ihres Glückes, über die Familie zu herrschen, die sie so lange gehaßt hatte, nahm sie sich vor, die hohe Gönnerin zu spielen, den rettenden Engel, der die zugrunde gerichtete Familie noch so leidlich leben ließ. Bei sich selbst nannte sie sich bereits »Frau Gräfin« und »Frau Marschall« und begrüßte sich so vor dem Spiegel. Adeline und Hortense sollten ihr Leben im Elend beschließen, im Kampfe mit der Not, während sie, die Tante Lisbeth, Zutritt zu den Tuilerien hatte und in der Gesellschaft glänzte. Da stieß ein schreckliches Ereignis das alte Mädchen von der gesellschaftlichen Höhe herab, zu der sie sich so stolz emporgehoben wähnte.
Gerade an dem Tage, als das erste Aufgebot erfolgte, erhielt der Baron neue Nachricht aus Afrika. Ein zweiter Elsässer erschien, übergab dem Baron einen Brief, nachdem er sich versichert, daß er Hulot persönlich vor sich hatte, und ließ nach Angabe seiner Wohnung den hohen Beamten niedergeschmettert zurück. Der Brief lautete:
»Lieber Neffe!
Nach meiner Berechnung erhältst Du diesen Brief am 7. August. Ich setze voraus, daß Du drei Tage brauchst, um uns die Hilfe zu schicken, die wir erbitten, und daß sie vierzehn Tage braucht, um hierherzukommen. Damit nähern wir uns dem 1. September. Wenn der Erfolg der Berechnung entspricht, hast Du Ehre und Leben Deines Dir treu ergebenen Hans Fischer gerettet.
Wie es mir scheint, muß ich demnächst vor dem Schwurgericht oder einem Kriegsgericht erscheinen. Du wirst begreifen, daß sich Hans Fischer niemals vor ein Gericht schleppen lassen wird; er wird lediglich vor Gottes Richterstuhl treten.
Der Beamte, den Du mir in der Sache beigegeben hast, ist zweifellos ein schlimmer Gesell, durchaus imstande, Dich bloßzustellen. Gerissen ist er wie ein Gauner. Er verlangt, daß Du Dich für uns mehr einsetzt, die andern sozusagen überschreist und uns einen Kommissar herschickst, einen Bevollmächtigten mit dem Auftrage, hier Mißstände aufzudecken, Schuldige nachzuweisen und so weiter, kurzum, energisch einzugreifen. Diese Zwischenperson zwischen uns und den Gerichten müssen wir haben.
Wenn Dein Bevollmächtigter am 1. September, mit geeigneten Instruktionen versehen, hier eintrifft und wenn Du uns zweihunderttausend Francs schickst, damit wir im Hauptdepot die Vorräte wiederherstellen, die wir an entfernten Orten zu haben behaupten, dann werden wir als ehrliche und makellose Leute bestehen.
Du kannst dem Soldaten, der Dir den Brief überbringt, einen Scheck anvertrauen, zahlbar bei einem Bankhaus in Algier. Er ist ein zuverlässiger Mensch, ein entfernter Verwandter von mir, nicht im geringsten neugierig. Ich habe Vorkehrungen getroffen, daß der junge Mann unbehelligt zurückkommt. Wenn Du nicht helfen kannst, sterbe ich gern für den, dem wir das Glück unserer Adeline verdanken.«
Die Ängste und Freuden der Leidenschaft, die Katastrophe, die seiner galanten Laufbahn ein Ende bereitet hatte, waren schuld daran gewesen, daß der Baron den armen Hans Fischer ganz vergessen hatte. Sein erster Brief hatte die Gefahr im voraus gemeldet; inzwischen war sie also im höchsten Grade dringlich geworden.
Hulot verließ das Eßzimmer in solcher Verstörtheit, daß er im Salon auf das Sofa sank. Er war völlig niedergeschmettert, einer Art Lähmung verfallen, wie sie ein heftiger Sturz verursacht. Unverwandt starrte er auf eine Blume im Teppich, ohne an den unheilvollen Brief, den er in der Hand hielt, zu denken. Adeline hörte von ihrem Zimmer aus, wie ihr Mann sich gleich einer schweren Masse auf das Sofa warf. Das Geräusch war so eigentümlich, daß sie einen Schlaganfall befürchtete. In atemloser Angst sah sie durch die Tür und in den Spiegel und erblickte ihren Hektor in der Haltung eines vernichteten Menschen. Sie kam auf den Fußspitzen heran. Hektor hörte nicht. Sie trat noch näher, bemerkte den Brief, nahm ihn, las ihn und zitterte an allen Gliedern. Sie erlitt einen jener Nervenschocks, die so heftig sind, daß der Körper zeitlebens die Spur davon trägt. Noch nach Tagen hatte sie krampfartige Anfälle; aber nachdem der erste Augenblick vorüber war, verlieh ihr die Notwendigkeit zu handeln eine Stärke, wie man sie nur aus den Quellen der Lebenskraft selbst schöpft.
»Hektor, komm mit in mein Zimmer!« sagte sie mit einer Stimme, die nur noch ein Hauch war. »Deine Tochter darf dich nicht so sehen. Komm, Bester, komm!«
»Wo soll ich zweihunderttausend Francs hernehmen?« klagte Hulot. »Ich könnte es ja durchsetzen, daß man Claude Vignon als Kommissar hinschickte. Das ist ein kluger und vernünftiger Kerl! In zwei Tagen kriege ich das fertig. Aber zweihunderttausend Francs! Mein Sohn hat sie nicht; sein Grundstück ist mit dreihunderttausend Francs Hypotheken belastet. Mein Bruder hat allerhöchstens dreißigtausend Francs Ersparnisse. Nucingen würde mich auslachen! Und Vauvinet? Der hat mir mit Mühe und Not zehntausend herausgerückt, damit die Summe für den Jungen des verfluchten Marneffe voll wurde. Das nützt also alles nichts! Ich muß mich der Gnade des Marschalls ausliefern, ihm die ganze Geschichte beichten, mich eine Canaille schimpfen lassen und notdürftig meinen anständigen Abschied herausschinden!«
»Hektor, es handelt sich nicht mehr allein um unsern Ruin, sondern um die Ehre!« sagte Adeline. »Mein armer Onkel wird sich erschießen . . . Richte uns zugrunde! Das darfst du. Nur werde nicht zum Mörder! Also Mut! Es muß sich Hilfe finden lassen!«
»Es findet sich keine«, entgegnete der Baron. »Es ist heutzutage unmöglich geworden, zweihunderttausend Francs aufzutreiben. Ja, unter Napoleon . . .«
»Mein armer Onkel! Hektor, wir dürfen ihn nicht ehrlos in den Tod gehen lassen!«
»Es gäbe wohl einen Ausweg«, meinte Hulot. »Er ist allerdings sehr gewagt: Crevel! Er steht zwar mit seiner Tochter wie Hund und Katze; aber er ist schwerreich. Er allein könnte . . .«
»Siehst du, Hektor, es ist besser, deine Frau geht zugrunde, als daß unser Onkel, dein Bruder und die Ehre der Familie verderben«, sagte die Baronin, von einer Erleuchtung getroffen. »Ja, ich kann euch alle retten!« Aber bei sich setzte sie hinzu: Mein Gott! Welch häßlicher Gedanke! Wie konnte ich darauf verfallen!
Sie betete bei sich zu Gott, als sie einen Freudenstrahl über das Gesicht ihres Mannes huschen sah. Von neuem kam ihr der nämliche höllische Gedanke. Sie ward sterbenstraurig.
»Geh!« sagte sie laut. »Lauf ins Ministerium, sieh zu, daß ein Kommissar nach Algier gesandt wird! Es muß sein! Beschwöre den Fürsten! Ich hoffe, wenn du zurückkehrst, findest du . . . findest du die zweihunderttausend Francs! Dann wäre deine Familie, deine Ehre als Mensch und Beamter, dein Sohn, alles gerettet. Nur deine Adeline ist verloren, und du siehst sie nie wieder! Mein geliebter Hektor, segne mich!« Sie kniete vor ihm nieder, drückte ihm die Hände und küßte sie. »Sage mir Lebewohl!«
Der Baron umfaßte seine Frau, zog sie zu sich empor und küßte sie.
»Ich verstehe dich nicht!« sagte er.
»Es ist gut so. Verständest du mich, dann stürbe ich vor Scham oder ich hätte nicht die Kraft mehr, dieses letzte Opfer zu bringen!«
Mariette kam.
»Gnädige Frau, es ist angerichtet.«
Hortense erschien und begrüßte Vater und Mutter.
»Frühstückt einstweilen ohne mich! Ich werde gleich kommen« entschuldigte sich die Baronin.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb folgenden Brief:
»Lieber Crevel!
Ich möchte Sie um einen Dienst bitten. Ich erwarte Sie unverzüglich und rechne auf Ihre mir bekannte Galanterie. Lassen Sie mich nicht zu lange warten!
Ihre sehr ergebene
Adeline Hulot.«
»Luise«, befahl sie der Kammerjungfer ihrer Tochter, die bei Tisch bediente, »tragen Sie den Brief zum Hausmeister hinunter und sagen Sie ihm, er solle ihn sofort besorgen und auf Antwort warten.«
Der Baron, der Zeitungen zur Hand genommen hatte, reichte seiner Frau ein republikanisches Blatt, wobei er auf einen bestimmten Artikel aufmerksam machte.
»Wird es nicht schon zu spät sein?«
Der Artikel lautete:
»Einer unserer Berichterstatter schreibt uns aus Algier, beim Proviantamt der Provinz Oran hätten sich derartige Unregelmäßigkeiten herausgestellt, daß eine gerichtliche Untersuchung erforderlich geworden sei. Die Unterschleife lägen zutage. Die Schuldigen kenne man. Wenn hier nicht mit eiserner Hand eingegriffen werde, wären durch derartige Mißstände größere Verluste an Mannschaften zu befürchten als durch die Waffen der Araber und das heiße Klima.
Wir erwarten weitere Nachrichten, ehe wir auf dieses bedauernswerte Vorkommnis näher eingehen. Es ist uns jetzt nicht mehr unverständlich, warum man sich gegen die Gründung einer Zeitung in Algier sträubt, obgleich es die Verfassung von 1830 zuläßt.«
»Ich ziehe mich an und werde ins Ministerium gehen«, sagte der Baron, indem er vom Tisch aufstand. »Die Zeit ist kostbar. Es steht ein Menschenleben auf dem Spiel.«
»Ach, Mutter«, klagte Hortense, »ich habe keine Hoffnung mehr.«
Sie hatte in der »Revue des Beaux-Arts« gelesen und reichte die Nummer ihrer Mutter. Die Tränen übermannten sie dabei. Frau von Hulots Blick fiel auf eine Abbildung der Delilagruppe des Grafen Steinbock. Darunter stand: »Im Besitze von Frau Valerie Marneffe.« Der mit »V.« gezeichnete Text dazu verriet bereits in den ersten Zeilen den selbstgefälligen Stil von Claude Vignon.
»Armes Kind!« sagte die Baronin.
Hortense fiel der fast gleichgültige Ton dieser Worte auf. Sie blickte ihrer Mutter ins Gesicht und sah ihren tiefen Schmerz, der eine andere Ursache haben mußte als ihr eigenes Leid.
»Was hast du, Mutter? Was ist dir zugestoßen? Können wir denn noch unglücklicher werden, als wir es schon sind?«
»Mein liebes Kind, es kommt mir vor, daß im Vergleich zu dem, was ich heute leide, meine früheren furchtbaren Leiden nichts waren. Wann werde ich nicht mehr zu dulden haben?«
»In jener andern Welt, liebe Mutter!« sagte Hortense ernst.
»Komm, mein Engel, sei mir beim Ankleiden behilflich! Oder nein . . . ich will nicht, daß du mir dabei hilfst. Schick mir Luise!«
Adeline ging in ihr Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel, traurig und prüfend.
Bin ich noch schön? fragte sie sich. Noch begehrenswert? Sehe ich nicht schon alt aus?
Sie strich sich das blonde Haar von den Schläfen, entblößte die Schultern. Nirgends Altersspuren. Befriedigung, eine Regung von Stolz erfüllte sie. Sorgfältig wählte sie die einzelnen Stücke ihrer Toilette aus, aber die fromme und reine Frau blieb trotz gewisser kleiner Koketterien doch keusch in ihrer Kleidung. Wozu zog sie neue grauseidene Strümpfe und Atlashalbschuhe an, wo sie doch die Kunst so ganz und gar nicht verstand, im entscheidenden Augenblick den hübschen Fuß vorzustrecken, um unter dem heraufgezogenen Rock eine Spanne der Wade zu zeigen und der Begehrlichkeit das Feld zu erweitern? Sie zog ein hübsches Musselinkleid mit aufgedruckten Blumen an, tief ausgeschnitten und mit ganz kurzen Ärmeln; aber, erschrocken über ihre Nacktheit, versteckte sie die vollen Arme unter weißen Gazeärmeln und verschleierte Brust und Schultern mit einem gestickten Schal. Ihre englische Frisur kam ihr zu herausfordernd vor; sie milderte das Verführerische daran durch ein recht nettes Häubchen. Gleichgültig, ob mit oder ohne Häubchen – sie hätte doch nicht mit ihren feinen Händen spielend oder ordnend nach dem goldenen Haar gegriffen, um Hände und Haar bewundern zu lassen!
Mit einem Male dachte sie an ihr Vorhaben: daß sie sich zu einem reiflich erwogenen Fehltritt vorbereitete . . . Etwas wie wildes Fieber überkam sie, das ihr den ganzen Schimmer der Jugend wiedergab. Sie brauchte keine Schminke. Ihre Haut leuchtete, und ihre Augen strahlten. Sie lächelte vor dem Spiegel und fand sich zu ihrem Entsetzen schamlos aussehend.
Tante Lisbeth hatte ihr auf ihre Bitten hin die näheren Umstände von Steinbocks Treubruch erzählt. Dadurch wußte sie, daß sich Frau Marneffe im Laufe eines einzigen Abends, einer einzigen Stunde zur Geliebten des bezauberten Künstlers gemacht hatte. Sie begriff das nicht.
»Wie machen die das nur?« hatte sie Lisbeth gefragt.
Keine Neugier ist größer als die der tugendhaften Frauen in dieser Hinsicht. Sie möchten über alle Verführungskünste der Welt verfügen, und sie bleiben doch rein.
»Mein Gott, sie verführen eben. Das ist ihr Element. Weißt du, meine liebe Adeline, die Valerie würde einen Engel zum Straucheln bringen!«
»Bitte, erzähle mir doch, wie sie das fertigbringt!«
»Theorien gibt es da keine, nur Praxis!«
Die Baronin erinnerte sich des Gespräches. Sie selber verstand nicht einmal etwas von den erotischen Raffinements der Kleidung, wenngleich sie die größte Sorgfalt dabei übte. Sie verstand nicht zu reizen. Auch die Wirkung gewisser Stellungen, Bewegungen, Blicke kannte sie nicht. Sie hatte keine Tricks. Der Wille schafft keine Dirnen. Vor der Welt die unnahbare anständige Frau zu sein und nur vor ihrem Manne oder Geliebten die große Kurtisane, das versteht nur das geniale Weib. Die Art ist rar. Hierin beruht aber das ganze Geheimnis der dauernden Neigungen, die den Frauen unerklärlich sind, denen diese großartige Doppelnatur abgeht. Die berühmten Frauen großen Stils sind gezählt.
Die Eingangsszene dieser ernsten düstern Pariser Sittenstudie sollte sich also wiederholen, nur mit dem eigenartigen Unterschiede, daß das von dem Bürgergardisten prophezeite Elend die Rollen etwas anders ausgab. Frau von Hulot erwartete Crevel in der Absicht, die ihn vor drei Jahren so selbstzufrieden zu ihr geführt hatte. Sie war sich und ihrer Liebe noch treu und doch bereit, die gröbste Untreue zu begehen, eine Untreue, die in gewissen Richteraugen nicht die Rechtfertigung einer hinreißenden Leidenschaft hat.
Wie muß ich es machen, um eine zweite Frau Marneffe zu sein? fragte sie sich, als sie es läuten hörte.
Sie unterdrückte ihre Tränen. Die Erregung belebte ihre Züge. Sie nahm sich fest vor, eine Kurtisane zu sein.
Zum Teufel, was will die Baronin von mir? fragte sich Crevel, als er die Treppe hinaufstieg. Wahrscheinlich ist es wegen meiner Uneinigkeit mit Cölestine und Viktor. Aber nachgegeben wird da nicht!
Als er, geführt von Luise, in den Salon trat, beschaute er sich die Armseligkeit des »Lokals«. Das war ein Lieblingsausdruck von ihm!
»Arme Frau!« murmelte er.
Adeline erschien und lächelte ihm verbindlich zu, indem sie ihm einen Stuhl anbot.
»Gehorsamst zur Stelle, schöne Frau!« meldete er sich.
Seitdem Crevel Politiker war, ging er stets in schwarzem Rock. Sein Gesicht leuchtete über dieser Tracht wie der Vollmond über einer dunklen Wolkenwand. Sein mit drei dicken Perlen, von denen jede fünfhundert Francs gekostet hatte, besterntes Hemd kennzeichnete den ganzen Mann: Hier ist der künftige Riesenvolksredner zu sehen! Seine derben Bürgerhände staken vom frühen Morgen an in gelben Glacéhandschuhen. Seine tadellosen Lackschuhe verrieten, daß er in seinem kleinen einspännigen braunen Coupé hergekommen war. Während der letzten drei Jahre hatte er – wie es bei den großen Malern heißt – seinen Frühstil überwunden. In großer Gesellschaft, wenn er beim Fürsten von Weißenburg, im Stadthause, beim Grafen Popinot und so weiter war, behielt er den Hut ungezwungen in der Hand – Valeries Erziehung – und steckte den Daumen der andern Hand etwas schauspielerisch in den Ärmelausschnitt seiner Weste, wobei er mit Kopf und Augen kokettierte. Diese neue »Attitüde« hatte Valerie in ihrer Spottlust dem Herrn Bürgermeister einstudiert, mit der Behauptung, sie mache ihn jünger, in Wahrheit, um seine Lächerlichkeit zu erhöhen.
»Mein lieber guter Crevel«, begann die Baronin unsicher, »ich habe Sie in einer höchst wichtigen Angelegenheit um Ihren Besuch gebeten . . .«
»Ich weiß schon«, meinte Crevel verschmitzt. »Aber Sie verlangen Unmögliches! Ich bin gewiß kein Rabenvater und – wie Napoleon zu sagen pflegte – kein Quadratgeizkragen. Hören Sie mich also an, schöne Frau! Wenn sich meine Kinder um ihrer selbst willen ruinieren, dann komme ich ihnen zu Hilfe. Aber für Ihren Herrn Gemahl Bürgschaften zu übernehmen, gnädige Frau . . . das hieße das Faß der Danaiden füllen wollen! Wie kann man sein Haus für einen unverbesserlichen Vater mit dreihunderttausend Francs belasten! Keinen roten Heller besitzen sie mehr, die Unglücksmenschen! Und dabei haben sie sich mit dem Gelde nicht einmal selber amüsiert! Nun werden sie eben von dem leben müssen, was Viktor als Anwalt verdient. Mag er also quasseln, Ihr Herr Sohn! Minister sollte er werden, das Doktorchen? Das Musterkind der Familie? Er kommt ja nicht vorwärts. Wenn er Schulden machte, um hochzukommen, um Parteigenossen und Wähler zu traktieren, um bekannt zu werden, dann würde ich sagen: ›Junge, hier ist mein Portemonnaie, nimm dir raus, was du brauchst!‹ Aber Papas dumme Streiche zu berappen, nee! Sein Vater hat ihm die Karriere verdorben. Ich, ich werde einmal Minister!«
»Aber lieber Crevel, es handelt sich nicht um unsere Kinder, die armen Opferschafe! Wenn Sie Ihr Herz vor Viktor und Cölestine verschließen, so strafen Sie sie für ein gutes Werk . . .«
»Jawohl, es gibt gute Werke, die schlecht angebracht sind. Die sind halbe Schandtaten!« unterbrach Crevel die Baronin. Das Bonmot gefiel ihm übrigens.
»Man tut gar nichts Besonderes, mein lieber Crevel, wenn man Geld aus einer übervollen Börse nimmt und hilft. Nein! Entbehrungen für eine Großherzigkeit erdulden, für die Wohltaten, die man ausübt, selber leiden, sich auf Undankbarkeit gefaßt machen: das heißt Gutes tun. Mildtätigkeiten, die nichts kosten, erkennt der Himmel nicht an.«
»Gnädige Frau, die Heiligen mögen in die Hospitäler gehen, wenn sie glauben, dort sei die Himmelstür. Ich bin ein Weltkind. Ich fürchte Gott, aber mehr noch die Hölle der Armut und des Elends. Kein Geld haben, das ist bei unsern sozialen Verhältnissen der Gipfel alles Unglücks. Ich bin ein Kind meiner Zeit: ich ehre das Geld!«
»Sie haben recht«, sagte Adeline, »aber nur vom Standpunkte des Weltkindes.«
Sie war tausend Meilen von ihrem Vorhaben entfernt. Unter Qualen erinnerte sie sich ihres Onkels. Sie sah ihn im Geiste vor sich, wie er sich erschoß. Sie schloß die Augen einen Augenblick und schlug sie dann wieder auf, um Crevel mit dem süßen Blick eines Engels anzublicken. Vor drei Jahren hätte sie ihn damit in den Himmel versetzt.
»Einstmals waren Sie nicht so geizig«, sagte sie, »da sprachen Sie von dreihunderttausend Francs wie ein Grandseigneur . . .«
Crevel sah die Baronin an. Sie erschien ihm wie eine bald verblühte Lilie. Wirre Gedanken kamen ihm, aber sein Respekt vor diesem unnahbaren Wesen war so groß, daß er den Libertin in sich wieder zurückdrängte.
»Gnädige Frau«, erwiderte er, »ich bin immer der gleiche. Aber ein ehemaliger Kaufmann legt selbst in sein Weltmannstum System und Sparsamkeit. Auch da muß er Ordnung halten. Man eröffnet seinen Dummheiten ein gewisses Konto und kreditiert es. Man opfert diesem Kapital gewisse Einkünfte. Aber das Kapital wird nicht angegriffen. Das wäre Wahnsinn. Meine Kinder sollen es einmal ganz bekommen, das Vermögen ihrer Mutter und das meine. Aber kein Mensch kann verlangen, daß ich mich für sie langweile und Mönch oder Mumie werde. Ich lebe ein lustiges Leben. Heiter gleite ich den Strom des Daseins dahin. Ich erfülle alle Pflichten, die mir das Gesetz, mein Herz und meine Familie auferlegen, genau wie ich ehedem am Verfalltage prompt meine Wechsel eingelöst habe. Meine Kinder sollten sich mich in wirtschaftlichen Dingen zum Muster nehmen, dann wäre ich zufrieden. Meine dummen Streiche, wenn ich deren überhaupt welche mache, kosten keinem etwas außer mir selber. Niemand darf sie mir also vorwerfen, und meine Kinder werden nach meinem Tode ein hübsches Vermögen vorfinden. Ihre Kinder können das von ihrem Vater dereinst nicht sagen. Sein Tun und Treiben ruiniert sie . . .«
»Sie sind meinem Manne nicht besonders gewogen, lieber Crevel, und doch wären Sie sein bester Freund, wenn seine Frau Ihnen gegenüber schwach gewesen wäre . . .«
Sie warf ihm einen flammenden Blick zu. Wiederum stiegen in dem ehemaligen Kaufmann lose Gefühle auf.
Sollte sie sich an ihrem Manne rächen wollen? fragte er sich. Sollte ihr doch der Bürgermeister besser gefallen als der Bürgergardist von damals? Die Weiber wissen ja nie, was sie wollen . . .
Er nahm seine neue Attitüde an und warf der Baronin einen verliebten Blick zu.
»Es will mir scheinen«, fuhr sie fort, »als wollten Sie sich an ihm ob der Tugend seiner Frau rächen, einer Frau, die Sie einmal so sehr geliebt haben, daß Sie sie kaufen wollten.«
Die letzten Worte flüsterte sie.
»Einer göttlichen Frau«, fügte Crevel hinzu und sah die Baronin vielsagend an. Sie senkte die Blicke; ihre Wimpern wurden feucht. »Denn Sie haben viel auszustehen gehabt . . . in den letzten drei Jahren . . . Ist es nicht so, schöne Frau?«
»Von meinem Leid wollen wir lieber nicht reden«, wehrte sie ab. »Mein lieber Crevel, es geht über meine Kraft. Ach, wenn Sie mich noch liebten, dann könnten Sie mich retten! Ich bin in einer Hölle. Mörder, die man foltert und hinrichtet, stehen tausendmal weniger Qualen aus als ich, der man mir nicht nur den Leib, sondern auch die Seele zerfleischt!«
Crevels Daumen glitt von der Weste herab, er legte seinen Hut auf den Schreibtisch, gab seine Attitüde auf und lächelte. Dieses Lächeln war so blöde, daß es die Baronin falsch auffaßte. Sie las Güte daraus. Darum fuhr sie fort:
»Sie haben eine Frau vor sich, die in Verzweiflung und am Ende ihrer Ehrbarkeit ist, bereit zu allem, mein Lieber, um ein Verbrechen zu verhüten.«
Aus Furcht, es könne jemand hinzukommen, stand sie auf und verschloß die Tür. Die nämliche Erregung brachte sie dazu, Crevel zu Füßen zu fallen, seine Hand zu ergreifen und sie zu küssen.
»Seien Sie mein Retter!« rief sie aus.
Ihr Wahn, Großherzigkeit in einer Krämerseele zu finden, ließ plötzlich die Hoffnung in ihr aufleuchten, sie könne die zweihunderttausend Francs erhalten, ohne sie mit ihrer Ehre zu bezahlen. »Sie wollten damals meine Tugend kaufen – kaufen Sie jetzt meine Seele!« Ihre Blicke irrten. »Trauen Sie meiner Ehrlichkeit und Ehrliebe! Seien Sie mein Freund! Retten Sie eine ganze Familie vor dem Ruin, der Schande, der Verzweiflung! Hindern Sie, daß sie in einen Sumpf versinkt, der obendrein von Blut gerötet wird! Aber verlangen Sie keine nähere Erklärung!« Das fügte sie hinzu, als Crevel eine Geste machte, als wolle er etwas sagen. »Und werfen Sie mir vor allem nicht vor, Sie hätten mir das vorausgesagt! Das tun die lieben Freunde, die insgeheim ihre Freude am Unglück haben. Schauen Sie her! Gehorchen Sie einer Frau, die Sie geliebt haben, die gedemütigt vor Ihren Füßen liegt! Verlangen Sie nichts von ihr und erwarten Sie alles von ihrer Dankbarkeit! Nein, geben Sie nichts! Leihen Sie es mir, die Sie einmal Ihre Adeline genannt haben!«
Vor Tränen vermochte sie nicht weiterzusprechen;
Bei der Erwähnung der zweihunderttausend Francs verstand Crevel alles. Er hob die Baronin galant auf und sagte zu ihr:
»Na, nun aber ruhig, Frauchen!«
Adeline überhörte diese unverschämten Worte in ihrer Aufregung. Die Szene wandelte sich. Crevel glaubte, Herr der Situation geworden zu sein. Aber die große Höhe der geforderten Summe beeinflußte ihn dermaßen, daß sich seine Erregung über den Fußfall einer schönen weinenden Frau verlor. Wirklich bitterliches Weinen entstellt selbst schöne Frauen. Bis zur geröteten Nase lassen es daher kluge Frauen niemals kommen.
»Mein Kindchen, vor allem Ruhe! Sapristi!« gebot Crevel. indem er der Baronin Hände erfaßte und sie streichelte. »Warum wollen Sie zweihunderttausend Francs von mir? Was wollen Sie damit machen? Für wen sind sie?«
»Verlangen Sie keine Erklärung von mir! Geben Sie sie mir! Sie retten damit drei Menschen und Ihren Kindern die Ehre!«
»Glauben Sie wirklich, liebes Frauchen, daß Sie in Paris jemanden finden werden, der Ihnen bloß auf Ihre schönen Augen hin die zweihunderttausend Francs bar und auf der Stelle geschleppt bringt? Da kennen Sie das Leben und das Geschäftemachen schlecht, meine Verehrteste! Da müßten Wunder geschehen . . .«
»Mein lieber guter Crevel, es handelt sich um das Leben zweier Menschen, von denen einer sich selber töten und der andere aus Kummer zugrunde gehen wird. Und auch um mich handelt es sich schließlich. Ich würde wahnsinnig werden. Vielleicht bin ich es bereits . . .«
»Bleibe vernünftig, mein Engel!« unterbrach sie Crevel, indem er sie umfaßte.
Sie ließ es geschehen und verbarg ihr Gesicht mit den Händen.
»Sie haben mir damals ein Vermögen angeboten«, flüsterte sie errötend.
»Ja, liebes Frauchen, das war vor drei Jahren!« meinte Crevel. »Na ja, Sie sind schöner denn je!«
Er nahm den Arm Adelines und drückte ihn an sein Herz. »Sie haben ein treffliches Gedächtnis, Kindchen. Sapristi! Sehen Sie, wie unrecht es war, die Spröde zu spielen! Die dreihunderttausend Francs, die Sie so großartig zurückgewiesen haben, sind nun in der Tasche einer andern versunken. Ich liebte Sie und ich liebe Sie noch! Aber versetzen wir uns einmal drei Jahre zurück! Was wollte ich damals, als ich Ihnen sagte: »Sie gehören mir!« Ich wollte mich an dem schuftigen Hulot rächen! Inzwischen aber, Verehrteste, hat Ihr Mann in der wundervollsten aller Frauen eine Geliebte gefunden, einen Engel und Teufel zugleich. Sie ist heute sechsundzwanzig Jahre alt. Ich habe es für lustiger und sinnvoller gehalten, für härter, für mehr im Stil des Ancien régime, ihm diesen entzückenden Balg wegzuschnappen. Übrigens hat das herrliche Weib Ihren Mann niemals wirklich geliebt, um so toller aber Ihren gehorsamsten Diener . . .«
Während er so sprach, hatte ihm die Baronin ihre Hände entzogen. Er setzte sich von neuem in Positur und bildete sich ein, wunder wie begehrenswert auszusehen. Er schien damit sagen zu wollen: Siehst du, einem Kerl wie mir hast du damals einen Korb gegeben!
»Ja, ja, Kindchen«, fuhr er fort, »ich bin gerächt! Ihr Mann weiß es auch. Ich habe ihm handgreiflich bewiesen, daß er Hörner aufgesetzt bekommen hat. Frau Marneffe ist meine Geliebte, und nach Marneffes Tode wird sie meine Frau.«
Frau von Hulot sah Crevel mit starrem, fast irrem Blicke an.
»Hektor weiß es?« fragte sie.
»Jawohl! Und trotzdem ist er wieder hingerannt«, erwiderte Crevel, »und ich habe nichts dagegen gehabt, weil sich Valerie nun einmal in den Kopf gesetzt hatte, daß ihr Mann Kanzleidirektor werden soll. Aber sie hat mir geschworen, die Geschichte so zu deichseln, daß der Baron einen Denkzettel aufgebrannt bekäme, an den er sein Lebtag denken soll. Und meine kleine Prinzessin – sie ist wirklich eine, auf Ehre! – hat ihr Wort gehalten. Sie hat Ihnen, meine Gnädige, Ihren Hektor auf ewig von seiner Verliebtheit geheilt. Eine harte, aber heilsame Kur! Er wird weder mit Tänzerinnen noch mit anständigen Frauen je wieder anbändeln. Er ist radikal geheilt! Er steht da, ratzekahl wie ein Apfelbaum im Winter! Sehen Sie, hätten Sie vor drei Jahren Crevel erhört statt ihn zu demütigen, so besäßen Sie die vierhunderttausend Francs, die mich meine Rache gekostet hat. Na, ich hoffe, ich bekomme nach Marneffes Tode den Mammon wieder . . . Ja, schlau muß man sein!«
»Sie wollen Ihrer Tochter eine derartige Stiefmutter geben?« rief die Baronin aus.
»Sie kennen Valerie ja gar nicht!« entgegnete Crevel ernst, indem er die Attitüde seines Frühstils annahm. »Sie ist eine hochgeborene Frau, eine todschicke Frau, eine allgemein angesehene Frau! Sehen Sie, gestern war der Pfarrer der Parochie bei ihr zu Tisch. Wir haben der Kirche eine prachtvolle Monstranz gestiftet. Valerie ist sehr fromm. Ja, sie ist gewandt, klug, gescheit, gebildet, kurz und gut: entzückend! Was mich anbelangt, teure Adeline, ich verdanke der scharmanten Frau enorm viel. Sie hat meinen Geist geschliffen und meine Sprache veredelt, wie Sie sehen. Sie kultiviert meinen Witz; sie schenkt mir Gedanken und Worte. Ich sage keine Unüberlegtheiten mehr. Ich bin total gewandelt! Das muß Ihnen doch gewiß aufgefallen sein! Na, und dann hat sie meinen Ehrgeiz erweckt. Ich werde Abgeordneter und werde meine Sache fein machen, denn ich werde meine Pythia bis in die kleinsten Dinge befragen. Alle großen Staatsmänner haben ihre Pythia gehabt. In Valeries Salon verkehren zwei Dutzend Abgeordnete. Ihr Einfluß wird steigen, wo sie nunmehr ein wunderhübsches Palais bewohnen wird und Wagen und Pferde gehalten bekommt. Sie wird eine der heimlichen Herrscherinnen von Paris werden. Solch eine Frau bringt einen vorwärts! Glauben Sie mir, ich habe Ihnen im stillen oft für Ihre damalige Unnahbarkeit gedankt!«
»Man könnte an Gottes Gerechtigkeit zweifeln!« flüsterte Adeline, nachdem sie sich die Tränen der Empörung getrocknet hatte. »Und doch – einst wird alles vergolten!«
»Sie kennen die Welt nicht, Verehrteste«, warf Crevel ein, in seinem staatsmännischen Selbstbewußtsein verletzt. »Die Welt, schöne Frau Adeline, liebt den Erfolg! Was gibt sie zum Beispiel für Ihre erhabene Tugend, die Sie auf zweihunderttausend Francs taxieren!«
Die Baronin schauerte in sich zusammen. Von neuem überkam sie ein nervöses Zittern. Sie begriff allmählich, wie gemein sich der ehemalige Parfümerienhändler an ihr rächte. Vor Ekel wurde ihr übel; das Herz tat ihr körperlich weh, und die Kehle schnürte sich ihr zusammen, so daß sie kein Wort hervorbringen konnte.
»Das Geld!« rief sie aus, »immer wieder das Geld!«
Crevel fiel die Demütigung dieser Frau wieder ein.
»Sie haben mich sehr gerührt«, begann er von neuem, »als Sie mir weinend zu Füßen lagen. Ja, Sie werden es mir vielleicht nicht glauben wollen: hätte ich meine Brieftasche bei mir gehabt, sie wäre Ihnen gewesen! Sie brauchen also zweihunderttausend Francs?«
Bei diesen protzigen Worten vergaß Adeline die niederträchtigen Beleidigungen dieses Herrschers im Reiche des Mammons. Und doch waren sie nichts als eine gewisse Lockspeise, durch die Crevel in die Geheimnisse der unglücklichen Frau eindringen wollte, um hinterher mit Valerie seine Witze darüber zu reißen.
»Ach, ich tue alles dafür!« rief sie aus. »Herr Crevel, ich verkaufe mich dafür! Wenn es sein muß, will ich eine Frau Marneffe werden!«
»Das dürfte Ihnen schwerfallen!« entgegnete Crevel. »Valerie ist unerreichbar! Fünfundzwanzig Jahre der Tugend überwindet man nicht so leicht. Es geht einem da wie nach einer schweren Krankheit. Etwas bleibt immer hängen. Und Ihre Tugend, mein Kindchen, die hat verteufelt fest gesessen. Aber Sie sollen sehen, wie sehr ich Sie liebe. Ich will Ihnen die zweihunderttausend Francs verschaffen.«
Adeline ergriff Crevels Rechte und drückte sie stumm an ihr Herz. Eine Freudenträne netzte ihr die Lider.
»Passen Sie auf! Die Sache wird Mühe machen. Ich bin ein guter Kerl. ›Leben und leben lassen‹ ist meine Devise. Vorurteile habe ich keine. Und so will ich Ihnen die Geschichte klipp und klar darlegen. Sie wollen es machen wie Valerie! Gut! Das genügt aber nicht. Sie brauchen dazu einen Dummen, einen Kapitalisten, einen Hulot. Ich kenne einen privatisierenden Tuchfabrikanten. Einen dicken dämlichen Plumpsack. Ich habe ihn in meine Erziehung genommen, aber ich weiß nicht, wann ich ihn so weit haben werde, daß er seinem Lehrer Ehre macht. Er ist Abgeordneter. Eitel ist er also auch. Unter der Fuchtel seiner Frau ist er durch und durch Provinzler geblieben. Dem Luxus und dem Wohlleben von Paris steht er wie eine keusche Jungfrau gegenüber. Aber Beauvisage – so heißt er – ist Millionär, mein Kindchen, und ganz wie ich vor drei Jahren würde er frohen Herzens hunderttausend Taler dranspendieren, wenn er eine Frau der Gesellschaft zur Geliebten bekäme . . .«
Adeline machte eine Gebärde, die Crevel falsch deutete.
»Er ist nämlich rasend neidisch auf mein Glück bei der Frau Marneffe. Ihm wäre nichts zu teuer, um . . .«
»Halten Sie ein, Herr Crevel!« unterbrach ihn die Baronin; sie vermochte ihren Abscheu nicht länger zu verbergen. Die tiefste Scham stand ihr deutlich auf dem Gesicht. »Ich bin jetzt über meine Sünde hinaus bestraft. Ich habe unter dem eisernen Drucke der Not schweigen müssen. Nach der letzten Beleidigung erkläre ich laut: Ein solches Opfer ist unmöglich! Ich bin nicht mehr hochmütig; ich gerate nicht in Zorn wie damals, ich sage Ihnen nicht: ›Gehen Sie!‹ – nachdem ich diesen tödlichen Schlag erhalten habe. Ich habe das Recht dazu verloren. Ich habe mich Ihnen angeboten wie eine Straßendirne . . .« Crevel machte eine ableugnende Geste. Die Baronin fuhr fort: »Doch! Ich habe mein bis jetzt reines Leben durch eine unedle Absicht beschmutzt und . . . und ohne daß ich eine Entschuldigung habe. Es mußte so kommen! Ich verdiene alle die Schmach, die Sie auf mich gehäuft haben. Möge Gottes Wille geschehen! Wenn er den Tod zweier Menschen geschehen läßt, so will ich sie beweinen und für sie beten. Wenn er die Demütigung unsrer Familie will, so wollen wir uns unter sein Richtschwert beugen und es als gute Christen küssen. Ich weiß jetzt, wie ich die Schande dieser Stunde wieder gutzumachen habe, einer Stunde, die mich bis an mein Lebensende peinigen wird. Es ist nicht mehr die Baronin von Hulot, die zu Ihnen spricht, Herr Crevel. Es ist die arme demütige Sünderin, die Christin, die ein Gefühl in ihrem Herzen hegen wird, die Reue, und die sich nur noch dem Gebet und der Mildtätigkeit weihen will. Ich bin durch meine große Sünde die niedrigste aller Frauen, aber doch die reuigste der Sünderinnen. Sie waren das Werkzeug Gottes zu meiner Umkehr! Ich danke Ihnen!«
Ihre sanfte Frauenstimme war eine ganz andere als die des fiebernden Weibes, das eben noch bereit gewesen war, sich zu entehren, um eine Familie zu retten. Das Blut wich ihr aus den Wangen, und ihre Augen wurden feucht.
»Übrigens habe ich meine Rolle wohl sehr schlecht gespielt?« begann sie wiederum und sah Crevel mit der Sanftmut einer Märtyrerin an. »Aber wozu Worte?« Indem sie verstummte, kam sie innerlich einen Schritt weiter. »Sie klingen ironisch; aber das bin ich keineswegs. Verzeihen Sie sie mir! Und wenn sie es waren, dann sind sie gegen mich selber gerichtet!«
Crevel stand betroffen und verwundert vor dieser Erhabenheit.
»Gnädige Frau, ich stehe Ihnen bedingungslos zur Verfügung!« sagte er in einem Anflug von Großmut. »Wir wollen die Angelegenheit prüfen und . . . Was verlangen Sie? Unmögliches! Und doch will ich es tun. Ich werde auf der Bank Papiere lombardieren lassen, und in zwei Stunden haben Sie Ihr Geld!«
»Mein Gott, welch ein Wunder!« rief die arme Frau aus und sank in die Knie. Sie betete mit einer Innigkeit, die Crevel tief rührte; Tränen traten ihm in die Augen. Als sich die Baronin nach ihrem Gebete wieder erhob, sagte sie zu ihm:
»Seien Sie mein Freund! Ihr Herz ist besser als Ihr Verhalten und Ihre Rede. Das Herz haben Sie von Gott, Ihre Gedanken und Ihre Worte aber von der Welt und ihren Leidenschaften. Ach, ich will Sie sehr liebhaben!«
Sie stand da wie ein überirdisches Wesen.
»Sie zittern!« sagte Crevel besorgt.
»Zittere ich?« fragte sie, die ihren Zustand bisher nicht beachtet hatte.
»Merken Sie das nicht?« Crevel erfaßte ihren Arm und zeigte ihr, wie er zitterte. Ehrfürchtig fuhr er fort: »Beruhigen Sie sich nun, bitte, gnädige Frau! Ich gehe auf die Bank.«
»Kommen Sie schnell zurück!« bat sie und fing an, ihre Geheimnisse auszuplaudern. »Bedenken Sie, daß es sich darum handelt, den Selbstmord meines armen Onkels Fischer zu verhindern. Mein Mann hat seinen ehrlichen Namen gefährdet. Jetzt habe ich Vertrauen zu Ihnen und sage Ihnen alles. Ach, ich kenne den Marschall. Er ist so zartfühlend. Wenn wir zu spät kämen, wäre es auch sein Tod!«
»Ja, ich gehe«, meinte Crevel und küßte der Baronin die Hand. »Was hat denn Onkel Fischer für den Baron verbrochen?«
»Den Staat bestohlen!«
»Mein Gott! – Ich eile, gnädige Frau. Ich – verstehe Sie! Ich bewundere Sie!«
»Kommen Sie bald zurück!«
Unglücklicherweise ging Crevel, um zu Hause die Papiere zu holen, durch die Rue Vanneau und vermochte dem Verlangen nicht zu widerstehen, seiner kleinen Prinzessin im Vorübergehen guten Tag zu sagen.
Noch halb verstört betrat er Valeries Zimmer. Sie ließ sich gerade frisieren. Als sie Crevels Spiegelbild sah, ärgerte sie sich – wie das alle Frauen ihrer Art tun –, daß er offenbar heftig erregt war, ohne daß sie der Anlaß dazu war.
»Was hast du, Schatz?« forschte sie. »Besucht man so seine kleine Prinzessin! Ich will gar nicht mehr deine Prinzessin sein, du altes Ekel!«
Crevel lächelte melancholisch und deutete auf das Kammermädchen.
»Genug für heute, Regina!« sagte Valerie. »Ich werde mir meine Frisur selber fertigmachen. Bringe mir mein japanisches Morgenkleid! Es wird prächtig zu Meister Crevels grotesker Stimmung passen!«
Regina lächelte ihre Herrin an und brachte das gewünschte Morgenkleid. Valerie warf den Frisiermantel ab und stand im bloßen Hemd da. Dann schlüpfte sie in das zarte Gewand wie eine Schlange ins Gras.
»Ist die gnädige Frau für jemanden zu sprechen?« fragte die Kammerjungfer.
»Natürlich nicht!« entgegnete Valerie. – »Sage mal, Dicker, sind irgendwelche Aktien gesunken oder ist unser Palais auf einmal teurer geworden?«
»Nein!«
»Oder bezweifelst du die Echtheit deines kleinen Crevel?«
»Dummes Zeug!«
Er hatte die Empfindung, daß ihn Valerie wirklich liebe.
»Himmeldonnerwetter!« lachte sie. »Dann kann ich es wirklich nicht erraten. Weißt du, wenn ich meinem Liebsten seine Sorgen herausziehen soll wie den Kork aus einer Rotsponpulle, dann geb ich es lieber auf. Geh, du . . .«
»Es ist weiter gar nichts«, protzte Crevel. »Ich soll binnen zwei Stunden zweihunderttausend Francs schaffen!«
»Wird dir das gelingen? Schau, ich habe die fünfzigtausend für das Hulotsche Protokoll noch da. Heinrich würde mir auch fünfzigtausend geben, wenn ich ihn darum bitte.«
»Heinrich! Heinrich! Immer wieder Heinrich!« brummte Crevel.
»Meinst du, du großer Machiavelli, ich solle Heinrich den Laufpaß geben? Rüstet England seine Flotte ab? Den Heinrich halte ich mir in der Reserve. Wer weiß? Du scheinst mich bereits heute schon nicht mehr zu lieben.«
»Ich dich nicht lieben, Valerie! Ich liebe dich, wie man eine Million liebt!«
»Das genügt mir nicht!« meinte sie. Sie sprang Crevel auf die Knie und umhalste ihn. »Ich will wie hundert Millionen geliebt werden, wie alles Gold der ganzen Welt und mehr noch! Heinrich hielte es keine fünf Minuten aus, ohne mir alles zu gestehen, was er auf dem Herzen hat. Also sag mal, Dickerchen, was fehlt dir? Beichte mal! Sage deinem kleinen Liebchen flink alles!« Sie drückte ihr Haar auf Crevels Gesicht und bewegte ihm die Nase hin und her. »Wie kann man mit dieser Nase so geheimnisvoll sein vor seiner Va-le-rie!« Bei »Va« ging die Nase nach rechts, bei »le« nach links, und bei »rie« kam sie wieder an ihre Stelle.
»Ich war soeben . . .« Crevel unterbrach sich und sah seine Geliebte an. »Valerie, mein Liebstes«, fuhr er fort, »du versprichst mir bei deiner Ehre . . . bei unserer Ehre, – verstehst du! – nicht ein Sterbenswort weiterzusagen von dem, was ich dir anvertrauen werde!«
Sie machte eine schwörende Geste, wobei sie sich so raffiniert hinstellte, daß dem dicken Crevel – wie man zu sagen pflegt ganz schwummerig wurde. Ihr nackter Körper schimmerte wundervoll und verführerisch durch das leichte Gewebe des Gewandes hindurch.
Crevel begann zu reden:
»Ich habe soeben die Tugend in Verzweiflung gesehen . . .«
»Die Tugend in Verzweiflung?« wiederholte Valerie kopfschüttelnd und verschränkte die Arme.
»Es handelt sich um die arme Frau von Hulot. Sie muß zweihunderttausend Francs haben. Andernfalls erschießen sich der Marschall und der alte Fischer. Und da du, meine liebe kleine Prinzessin, ein wenig die Ursache von der dummen Geschichte bist, will ich sie wieder einrenken. Die Baronin ist eine fromme Frau. Ich kenne sie. Sie wird mir alles zurückgeben.«
Bei dem Namen »Hulot« und den zweihunderttausend Francs leuchtete es tief in Valeries Augen wie das Aufblitzen eines Geschützes im Pulverrauch. »Was hat sie denn gemacht, die alte Dame, daß sie dein Mitleid so erregt hat?« fragte sie. »Sie hat dir wohl – ihre fromme Seele gezeigt, wie?«
»Spotte nicht über sie, mein Lieb! Sie ist wirklich eine fromme, edle, heilige Frau. Alle Achtung vor ihr!«
»Bin ich etwa nicht aller Achtung wert?«
Valerie blickte ihn mit unheilschwangeren Augen an.
»Das habe ich nicht gesagt!« versetzte Crevel. Er begriff, wie sehr sein Lob der Tugend sie verletzen mußte.
»Ich bin auch fromm«, sagte Valerie, indem sie sich in einen Lehnstuhl setzte, »aber ich mache kein Geschäft aus meiner Religion. Ich gehe still für mich in die Kirche.«
Sie verstummte und tat so, als sei Crevel gar nicht mehr da. Das beunruhigte ihn ganz außerordentlich. Er stellte sich vor ihren Stuhl, in dem sie in Gedanken versunken lag.
»Valerie, mein süßer Engel!«
Sie rührte sich nicht. Eine spärliche Träne rollte ihr über die Backe.
»Sage doch was, Schatz!«
»Herr Crevel!«
»Woran denkst du, Liebchen?«
»Ach, Herr Crevel, ich denke daran zurück, wie ich zum ersten Male zum Abendmahl ging. Wie schön war ich da! Wie unschuldig! Wie fromm und unverdorben! Ach, wenn da jemand zu meiner lieben Mutter gesagt hätte: ›Ihre Tochter wird eine Dirne! Eine Ehebrecherin! Eines Tages wird sie der Polizeikommissar in der Wohnung eines fremden Mannes aufheben. Sie wird sich einem Crevel verkaufen, um einen Hulot zu verraten. Beides gräßliche alte Männer!‹ Pfui! Pfui! Sie wäre tot umgefallen, ehe sie die Prophezeiung ganz angehört hätte. So sehr hat sie mich geliebt, die arme, arme Frau!«
»Valerie, beruhige dich!«
»Was weißt du davon, wie sehr man einen Mann liebhaben muß, um die Reue zum Schweigen zu zwingen, die das Herz einer Ehebrecherin quält! Schade, daß ich das Mädchen weggeschickt habe. Sie hätte dir bestätigen können, daß sie mich heute früh weinend beim Beten überrascht hat. Siehst du, ich spotte nicht über den Glauben. Hast du mich je ein schlimmes Wort in dieser Beziehung sagen hören?«
Crevel machte eine verneinende Gebärde.
Valerie fuhr fort:
»Ich dulde nicht, daß man in meiner Gegenwart über religiöse Dinge spricht. Ich spotte über alles mögliche, über die Fürsten, die Politik, das Geld, über alles, was andern heilig auf Erden ist, über die Justiz, die Ehe, die Liebe, die jungen Mädchen, die alten Männer . . . Aber über die Kirche und Gott . . . niemals! Die sind selbst mir heilig! Ich weiß sehr wohl, daß ich eine Sünderin bin . . . ich opfere dir mein Seelenheil . . . und du, du ahnst nichts von der Größe meiner Liebe!«
Crevel war sprachlos.
Valerie begann zu weinen.
»Beruhige dich, Liebste! Ich bin ganz erschrocken!« stotterte er.
Valerie setzte ihre Komödie fort. Sie sank in die Knie.
»Lieber Gott, ich bin nicht schlecht!« betete sie laut mit gefalteten Händen. »Nimm dein verlorenes Schaf gnädig wieder auf! Straf es, aber entreiß es den Händen, die es zu Ehebruch und Treulosigkeit verführt haben! Es wird sich freudig von dir leiten lassen und glückselig auf dem rechten Wege weiterwandeln!«
Sie stand auf und sah Crevel an. Ihre leuchtenden Augen flößten ihm Furcht ein.
»Weißt du, Geliebter«, sagte sie, »zuweilen habe ich furchtbare Angst. Alle Schuld rächt sich in dieser wie in jener Welt. Gottes Rache trifft den Sünder in jeglicher Gestalt. Ich muß an den Tod meiner Mutter denken. Mein Gott, wenn ich auch dich verlöre, ich überlebte es nicht!«
Sie packte Crevel und umarmte ihn wild. Dann kniete sie von neuem nieder, faltete die Hände und betete mit unsagbarer Inbrunst: »Heilige Valeria, meine liebe Schutzpatronin, warum erscheinst du nicht öfter am Lager deines Schützlings? Ach, komm heute abend wie du heute morgen gekommen bist! Gib mir gute Gedanken ein, und ich will ablassen vom Wege der Sünde! Wie Magdalena will ich auf die trügerischen Freuden des Lebens verzichten, auf den Glanz der Welt und selbst auf den, den ich so liebe!«
»Liebste!« rief Crevel.
»Es gibt keine Liebste mehr!«
Hochmütig wie eine unnahbare Frau wandte sie sich ab. Tränenden Auges, kalt, würdevoll und gleichgültig stand sie da.
»Lassen Sie mich!« rief sie aus und stieß Crevel zurück. »Was ist meine Pflicht? Zu meinem Manne zu halten. Er ist todkrank, und was tue ich? Ich betrüge ihn am Rande seines Grabes. Er glaubt, Ihr Kind sei das seine. Ich will zu ihm gehen und ihm die Wahrheit gestehen. Ich will erst seine, dann Gottes Verzeihung erflehen. Gehen wir beide voneinander! Leben Sie wohl, Herr Crevel!«
Er fühlte ihre eiskalte Hand in der seinen.
»Leben Sie wohl, mein lieber Freund!« fuhr sie fort. »Wir werden uns erst in einer besseren Welt wiedersehen!«
Crevel war wirklich tief ergriffen. Er weinte wie ein Schloßhund.
»Du Kamel!« rief ihm da plötzlich Valerie zu, indem sie in ein Höllengelächter ausbrach. »Siehst du, so fangen es die frommen Frauen an, wenn sie euch zweihunderttausend Francs abschwindeln wollen. Und du, der du von Marschall Richelieu schwärmst, dem Urbild des Lovelace, du gehst auf den Leim! Du Schwachkopf! Behalte dein Geld, und wenn du zuviel hast, dann gib es mir! Wenn du dem Frauenzimmer, die mit ihren siebenundfünfzig Jahren fromm geworden ist, auch nur einen Groschen gibst, sind wir geschiedene Leute! Dann kannst du sie dir zur Geliebten nehmen. Ich sage dir, du wirst bald wieder bei mir sein: braun und blau von ihren hölzernen Umarmungen und von ihrer Heulerei zu Tode gelangweilt!«
»Es ist nicht zu leugnen«, meinte Crevel, »zweihunderttausend Francs sind ein hübsches Stück Geld!«
»Die frommen Frauen haben einen guten Magen, das muß man sagen! Sie verkaufen ihre Traktätchen besser als wir das Amüsement. Und Phantasie haben sie! Großartig! Übrigens solltest du dich schämen, alter Geizhammel! Mir hast du alles in allem noch keine zweihunderttausend Francs spendiert!«
»Höre mal«, wehrte Crevel ab, »das kleine Palais kostet allein so viel . . .«
»Dann hast du also das Doppelte übrig?«
»Bewahre!«
»Dann wolltest du wohl die zweihunderttausend Francs für die alte Schaute auf mein Palais aufnehmen? So sorgst du für dein Liebchen?«
»Aber laß mich doch endlich ausreden!«
Sie eiferte weiter:
»Wenn du die Summe für irgendeine menschenfreundliche Torheit aussetzen wolltest, damit du dir einen Namen machtest, dann wäre ich die erste, die das gutheißen würde. Aber zweihunderttausend Francs einer alten Betschwester opfern, die von ihrem Manne Gott weiß warum sitzengelassen worden ist; nein, das wäre eine Dummheit! Zwei Tage hinterher würdest du dich nicht mehr im Spiegel angucken wollen, um dein Schafsgesicht nicht zu sehen. Lege dein Geld in der Rentenkasse an und bring mir die Quittung! Eher kriegst du mich nicht wieder zu sehen. So, nun geh und lauf!«
Sie schob Crevel aus dem Zimmer hinaus. In seinen Mienen lauerte bereits wieder der Geiz. Als die Tür wieder geschlossen war, rief sie laut aus:
»So, jetzt ist Lisbeth mehr als gerächt! Schade, daß sie bei ihrem alten Marschall ist! Hätten wir gelacht! Diese alte Betschwester! Will sie mir das Brot vom Maule wegschnappen. Der wollen wir heimleuchten!«
Aus Rücksicht auf seinen hohen militärischen Rang wohnte der Marschall Hulot in einem prächtigen Palast in der Rue du Mont-Parnasse. Obwohl er das ganze Haus gemietet hatte, benutzte er nur das Erdgeschoß. Als Tante Lisbeth die Wirtschaft übernahm, wollte sie alsobald, daß der erste Stock weitervermietet werde. Dadurch käme die Gesamtmiete ein, meinte sie, und der Graf würde so gut wie umsonst wohnen. Aber darauf ging der alte Soldat nicht ein. Seit etlichen Monaten suchten ihn trübe Gedanken heim. Er war sich über die mißliche Lage seiner Schwägerin klargeworden und ahnte ihr Unglück, ohne hinter die Ursache zu kommen. Der alte Herr, der seine Schwerhörigkeit so gelassen trug, wurde schweigsam. Er fürchtete, daß sein Haus eines Tages der Baronin und ihrer Tochter als Zufluchtsstätte dienen werde, und hielt ihnen darum den ersten Stock frei.
Es war so bekannt, daß der Graf von Pforzheim wenig vermögend war, daß der Kriegsminister Fürst von Weißenburg seinen alten Kriegskameraden überredet hatte, eine Einrichtungsentschädigung anzunehmen. Hulot hatte sie dazu verwandt, das Erdgeschoß auszustatten. Während der Kaiserzeit hatte das Haus einem Senator gehört. Die Salons im Parterre waren pompös ausgeschmückt (alles in Weiß und Gold) und noch immer in gutem Zustande. Der Marschall hatte gutes altes passendes Mobiliar gekauft. Im Wagenschuppen hielt er einen Wagen, auf dessen Schläge gekreuzte Marschallstäbe gemalt waren; aber Pferde mietete er nur, wenn er in Gala in das Ministerium, zu Hoffesten oder sonstigen Feierlichkeiten fahren mußte. Seit dreißig Jahren hatte er denselben Diener, einen ehemaligen Soldaten, der nunmehr sechzig Jahre alt war. Die Schwester des Dieners war als Köchin gleichfalls mit im Hause. Was sich der Graf gespart hatte, sollte dermaleinst Hortense erben.
Alltäglich machte der alte Herr einen Spaziergang über den Boulevard von der Rue du Mont-Parnasse nach der Rue Plumet. Kein Invalid, der ihn sah, verfehlte, Front vor dem Marschall zu machen, und Hulot dankte jedem mit einem leutseligen Gruße.
»Wer ist denn das, vor dem du dich da so in Parade aufstellst?« fragte eines Tages ein junger Arbeiter einen alten invaliden Hauptmann, der eben vor dem Marschall Front gemacht hatte.
»Das will ich dir gleich sagen, du Lausejunge!« brummte der Offizier.
Der Arbeiter stellte sich vor ihn hin, wie um einem Schwätzer zuzuhören. Der Invalid erzählte:
»Im Jahre 1809 marschierte unser Regiment als Seitendeckung in der Flanke der Großen Armee, die der Kaiser gegen Wien führte. Wir standen vor einer Brücke, die von drei etagenweise hinter Schanzen schießenden Batterien verteidigt wurde. Wir standen unter dem Kommando des Marschalls Massena. Der, den du eben gesehen hast, der war damals Oberst der Gardegrenadiere. Ich war auch Gardegrenadier. Unsere Kolonnen besetzten das diesseitige Flußufer. Die Schanzen standen drüben auf dem andern. Dreimal versuchte man den Sturm auf die Brücke. Dreimal vereitelten die donnernden Kanonen alles. Da befahl der Marschall: »Hulot vor die Front! Der und kein anderer kommt mit seinen Kerlen hinüber!« Wir kamen vor. Der General, der beim letzten Angriff von der Brücke zurückgeschlagen worden war, hielt unsern Hulot im Feuer auf und wollte ihm gute Ratschläge geben. Er versperrte uns den Weg. »Ratschläge brauche ich keine«, rief ihm der Oberst in ruhigem Tone zu, »aber Platz zum Vorgehen!« Er war der erste auf der Brücke. Und dreißig Kanonen begannen gegen uns zu brummen!«
»Donnerwetter«, rief der Arbeiter, »das gab einen Haufen Stelzfüße!«
Der Invalide fuhr fort:
»Wenn du wie ich jene gelassenen Worte gehört hättest, mein Junge, dann würdest du deinen Hut vor dem Manne bis zur Erde ziehen! Die Geschichte ist nicht so bekannt wie die an der Brücke von Arcole, aber sie ist genauso schön. Im Laufschritt sind wir, Hulot voran, über die Brücke marschiert und haben die Schanzen gestürmt. Ehre denen, die damals geblieben sind!« Der Offizier nahm seinen Hut ab. »Die ›Kaiserlichen‹ waren baff vor Erstaunen, und der Kaiser hat den Alten da zum Grafen von Pforzheim ernannt. Damit ehrte er das ganze Regiment. Er hat seinen Marschallstab schon damit reichlich verdient.«
»Es lebe der Marschall!« brüllte der Arbeiter.
»Brülle nur! Den Marschall hat der Kanonendonner taub gemacht!«
Diese Anekdote mag die Hochachtung kennzeichnen, mit der die alten Soldaten der Kaiserzeit dem Grafen begegneten. Auch sein unwandelbares Republikanertum war volkstümlich.
Der Kummer, der sich jetzt in die friedsame ehrliche edle Seele geschlichen hatte, war betrüblich anzusehen. Die Baronin bot alle ihre Frauenschlauheit auf, um ihrem Schwager die volle gräßliche Wahrheit zu verheimlichen.
Gerade an diesem unseligen Vormittag hatte der Marschall, der wie alle alten Männer wenig schlief, der Tante Lisbeth – auf ihre Geständnisse über die Lage seines Bruders hin und zum Lohn für ihre Indiskretion – versprochen, sie zu heiraten. Die alte Jungfer hatte sich jene vertrauliche Mitteilung zu ihrer unbändigen Freude entlocken lassen.
»Bei deinem Bruder ist Hopfen und Malz verloren!« schrie sie zu guter Letzt dem Marschall ins Ohr. Die Lothringerin hatte eine so kräftige und schrille Stimme, daß sie der Schwerhörige immer ganz leidlich verstand. Sie strengte ihre Lungen gehörig an. Sie wollte ihrem Zukünftigen beweisen, daß er für sie nie taub sein dürfe.
»Drei Mätressen hat er gehabt!« wiederholte der alte Mann. »Drei Mätressen und dabei eine Adeline zur Frau! Arme Adeline.«
»Wenn ich dir einen Rat geben darf, so benutze deinen Einfluß auf den Fürsten von Weißenburg, um deiner Schwägerin irgendein Ehrenamt zu verschaffen. Sie wird das nötig haben, denn des Barons Gehalt ist auf drei Jahre verpfändet.«
»Ich werde ins Ministerium gehen und den Marschall aufsuchen und will einmal hören, was er über meinen Bruder denkt. Ich werde ihn bitten, sich meiner Schwägerin tatkräftig anzunehmen. Was für eine geeignete Stelle könnte es denn für sie geben?«
»Die Damen, die sich für die Pariser Armenpflege interessieren, haben unter dem Patronat des Erzbischofs einen Wohltätigkeitsverein gegründet. Sie brauchen Aufsichtsdamen, die anständig bezahlt werden und die Aufgabe haben, wirklich Bedürftige zu ermitteln. Eine derartige Beschäftigung würde für Adeline passen und so recht nach ihrem Herzen sein.«
»Bestelle die Pferde!« entgegnete der Marschall. »Ich will mich zurechtmachen und nötigenfalls nach Neuilly fahren.«
Wie er sie liebt! sagte die Lothringerin bei sich. Immer und überall nur Adeline!
Lisbeth war bereits Herrscherin im Hause des Marschalls, aber nur, wenn er nicht zu Hause war. Die drei Dienstboten zitterten vor ihr. Für sich hielt sie ein Kammermädchen. Indem sie ihre Altjungfern-Genauigkeit so recht walten ließ, mußte ihr über alles Rechenschaft abgelegt werden. Sie prüfte alles nach und war in allem auf den Vorteil ihres lieben Marschalls bedacht. Republikanisch gesinnt wie ihr Bräutigam, gefiel sie ihm darin überaus. Auf das sorglichste gepflegt, begann er bereits in Lisbeth ein Stück Ideal zu sehen.
»Lieber Marschall«, rief sie ihm zu, als sie ihn bis zum Wagen geleitete, »mache die Wagenfenster hoch! Es könnte ziehen. Tu es, bitte, mir zuliebe!«
Der Marschall lächelte ihr trotz seines beklommenen Herzens zu. Der alte Junggeselle war sein Lebtag nicht verhätschelt worden. Dann fuhr er weg.
Zur selben Stunde verließ Baron Hulot seine Kanzlei und begab sich nach dem Geschäftszimmer des Marschalls Fürsten von Weißenburg. Dieser hatte ihn zu sich befohlen. Obgleich das an und für sich gar nichts Ungewöhnliches war, fühlte sich Hulot in seinem Gewissen dermaßen geradezu krank, daß er argwöhnisch das Gesicht des Kanzleidieners studierte, der ihn holte. Es kam ihm kühl und unfreundlich vor.
»Mitouflet, was macht der Fürst?« fragte er ihn, indem er die Tür schloß und neben dem Beamten dahinschritt.
»Durchlaucht muß etwas gegen den Herrn Baron haben«, gab ihm der zur Antwort. »Er hat Gewitterlaune . . .«
Hulot wurde fahl und sagte nichts weiter. Pochenden Herzens und in Erregung kam er im Vorzimmer des Kriegsministers an.
Der Fürst war siebzig Jahre alt. Er hatte schneeweißes Haar und ein rotes Gesicht. Seine hohe Stirn verkündete seinen Strategenruhm. Unter dunklen, markant geschwungenen Brauen leuchteten seine blauen Napoleonsaugen. Es lag Melancholie, Verbitterung, Sehnsucht in ihnen. Dieser Nebenbuhler Bernadottes hatte umsonst gehofft, sich auf einem Königsthron auszuruhen. Etwas Furchtbares glomm in diesen Augen, wenn sich in ihnen eine tiefe Erregung spiegelte. Seine sonst wohlklingende Stimme wurde dann schrill. Im Zorn war der Fürst ganz der alte Soldat von ehedem. Dann redete er die brüske Sprache, die er als Leutnant Collin gesprochen hatte. Den kannte Hulot. Als er in das Zimmer trat, sah er den alten Löwen leeren Blickes stehen, mit dem Rücken an den Kamin gelehnt.
»Melde mich ganz gehorsamst zur Stelle, Durchlaucht!« sagte Hulot unbefangen und in militärischem Tone.
Der Marschall blickte ihn durchdringend an und erwiderte kein Wort, bis Hulot dicht vor ihn getreten war. Dieser bleischwere Blick dünkte dem Baron wie ein Blick Gottes. Verwirrt sah er zu Boden. Er weiß alles! sagte er sich.
Der Marschall begann mit ernster, dumpfer Stimme:
»Sagt Ihnen Ihr Gewissen nichts?«
»Durchlaucht, es sagt mir, daß es nicht recht von mir war, ohne Eurer Durchlaucht Wissen in Algier auf Raub auszugehen. So wie ich gelebt und gewirtschaftet habe, stehe ich mit fünfundvierzig Dienstjahren ohne Vermögen da. Sie kennen die Gepflogenheiten der vierhundert Volksvertreter Frankreichs! Diese Herren bewilligen einem alten Staatsdiener nichts! Man hat vergessen, daß wir die Große Armee . . .«
Der Fürst unterbrach ihn:
»Sie haben den Staat bestohlen! Sie haben sich in die Lage gebracht, vor einem Gericht erscheinen zu müssen wie ein durchgebrannter Kassierer! Und das nehmen Sie so leicht?«
»Durchlaucht, es ist doch wohl ein Unterschied vorhanden. Ich habe mit meinen Händen in keine mir anvertraute Kasse gegriffen . . .«
»Wenn man solche Schuftereien begeht, dann ist man in Ihrer Stellung doppelt schuldig, wenn man die Sache ungeschickt macht. Sie haben unsere höhere Verwaltung, die bisher in Europa unbescholten dastand, auf die gemeinste Weise bloßgestellt. Und das, mein Herr, wegen zweihunderttausend Francs und um eines Frauenzimmers willen! Sie sind Staatsrat! Den gemeinen Soldaten trifft die Todesstrafe, wenn er Regimentseigentum verkauft. Oberst Pourin vom zweiten Ulanenregiment hat mir einmal folgende Geschichte erzählt. In Zabern hatte einer seiner Unteroffiziere eine Liebschaft mit einer kleinen Elsässerin. Sie wünschte sich ein Kopftuch. Der arme Kerl, eine Perle seines Regiments, zwanzig Jahre Soldat und kurz vor der Beförderung zum Wachtmeister, vergriff sich in seiner Verliebtheit am Schwadronseigentum, um dem Mädel das Kopftuch schenken zu können . . . Wissen Sie, Herr Baron von Ervy, was der Ulan getan hat, als man ihn erwischt hatte? Er verschluckte Fensterglasscherben und starb, nachdem er elf Stunden im Lazarett gelitten! Und Sie! Geben Sie sich Mühe, an einem Schlaganfall zu sterben! Retten Sie damit Ihre Ehre!«
Der Baron blickte den alten Soldaten verstört an. Der Marschall erkannte an diesem Blicke den Feigling. Er wurde blutrot, und seine Augen funkelten.
»Durchlaucht lassen mich fallen?« stotterte Hulot.
Gerade in dem Augenblick erlaubte sich Marschall Hulot einzutreten. Er hatte gehört, daß der Minister allein mit seinem Bruder sei. Er schritt auf den Fürsten zu.
»Ah! Ich weiß, was du willst, alter Kriegsgefährte!« rief ihm der Held von 1812 zu. »Es ist umsonst!«
»Umsonst?« wiederholte der Graf, der nur das eine Wort verstanden hatte.
»Gewiß! Du willst doch für deinen Bruder bitten; aber weißt du, für wen du da bittest?«
»Mein Bruder?« fragte der Schwerhörige.
»Der Schweinehund ist deiner unwürdig!« brüllte der Fürst. Seine Augen blitzten wild. Energie und Genie leuchteten in ihnen, wie einst in den Augen des Kaisers.
»Du lügst, Collin!« entgegnete der Graf leichenblaß. »Wirf deinen Marschallstab weg, und ich will den meinen auch wegwerfen! Befiehl! Ich gehorche!«
Der Fürst ging ganz dicht an seinen alten Kriegskameraden heran, sah ihm fest in die Augen, und seine Rechte erfassend rief er ihm ins Ohr:
»Bist du ein Mann?«
»Du sollst es erleben!«
»Gut! Sei stark! Du hast das größte Unglück zu tragen, das dich treffen konnte!«
Der Fürst wandte sich um, nahm ein Aktenheft vom Schreibtisch und händigte es dem Grafen ein:
»Lies das!«
Der Graf von Pforzheim las das erste Blatt des Aktenstücks, folgendes Schreiben:
»An den Königlichen Marschall von Frankreich, Staats- und Kriegsminister, Fürsten von Weißenburg, Durchlaucht.
Geheim!
Algier, den . . .
Lieber Fürst!
Wie Sie aus den beiliegenden Untersuchungsakten ersehen werden, haben wir eine böse Sache auf dem Halse. Kurzgefaßt: der Baron Hulot von Ervy hat einen Verwandten von sich in die Provinz Oran geschickt, um unsaubere Proviant- und Furagespekulationen zu unternehmen. Ein Proviantamtsvorstand ist Helfershelfer. Letzterer hat die Sache gemeldet, um von sich reden zu machen, und ist dann geflüchtet. Da es nur Unterbeamte betraf, hat der Staatsanwalt die Angelegenheit auf das strengste untersucht. Aber als Ihres Hulot Onkel, Hans Fischer mit Namen, vernommen werden sollte, hat er sich im Untersuchungsgefängnis mit einem Nagel getötet.
Damit wäre die ganze Sache erledigt gewesen, wenn dieser Biedermann, den Neffe wie Helfershelfer offenbar in gleicher Weise übers Ohr gehauen haben, nicht den Einfall gehabt hätte, dem Baron Hulot einen Brief zu schreiben. Dieser Brief ist der Staatsanwaltschaft in die Hände gefallen und mir vorgelegt worden. Ich habe mir die Akten geben lassen, denn die Verhaftung eines Staatsrates und Abteilungschefs im Kriegsministerium und eine kriegsgerichtliche Untersuchung gegen ihn erscheinen in höchstem Grade untunlich. Im übrigen hat er gute und treue Dienste geleistet. Nach der Beresina hat er durch die Erneuerung der Armeeverwaltung enorm genutzt.
Soll die Untersuchung weitergehen? Oder soll sie – nachdem der Hauptschuldige tot ist – niedergeschlagen werden? Der Proviantamtsvorstand könnte in contumaciam verurteilt werden.
Die Staatsanwaltschaft ist damit einverstanden, daß Ihnen die Akten unterbreitet werden. Da der Baron in Paris wohnt, wären die dortigen Gerichte zuständig. Wir haben diesen ziemlich problematischen Ausweg gewählt, um die Angelegenheit zu translozieren.
Lieber Fürst, entschließen Sie sich sofort! Man munkelt bereits viel zuviel von der bedauerlichen Affäre. Sie würde uns beträchtlich schädigen, wenn der wirklich Schuldige zufällig oder durch einen Prozeß bekannt würde. Vorläufig ist er nur der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter bekannt . . .«
Der Graf sah ein, daß es unnötig sei, die Akten weiter zu lesen. Er entnahm ihnen nur noch den Brief Fischers, überflog ihn und reichte ihn dann seinem Bruder. Er lautete:
»Gefängnis zu Oran.
Lieber Neffe!
Wenn Du diesen Brief liest, bin ich nicht mehr am Leben. Sei ruhig! Man wird bei mir keine Beweise gegen Dich finden. Wenn ich tot bin, ist es mit dem Prozeß zu Ende, da dieser Schuft, der Chardin, flüchtig ist. Der Gedanke an Adeline, die Du so glücklich gemacht hast, erleichtert mir den Tod. Du brauchst mir die zweihunderttausend Francs nicht mehr zu schicken.
Lebe wohl!
Der Brief wird Dir durch einen entlassenen Gefangenen überbracht werden. Ich glaube, er ist zuverlässig.
Hans Fischer.«
»Durchlaucht, ich bitte Sie um Verzeihung!« sagte der Marschall Hulot in demütigem Stolze zum Fürsten.
»Ach was, Hulot, wir duzen uns weiter!« rief dieser aus und drückte seinem alten Freunde die Hand. Und zu dem Baron gewandt, sagte er mit einem vernichtenden Blicke:
»Der arme Ulan hat nur sich selber getötet!«
»Wieviel hast du genommen?« fragte der Graf seinen Bruder.
»Zweihunderttausend Francs!«
Der Graf wandte sich an den Fürsten:
»Lieber Freund, in achtundvierzig Stunden hast du die zweihunderttausend Francs! Niemand soll je sagen dürfen, daß ein Hulot den Staat auch nur um einen Heller benachteiligt habe!«
»Unsinn!« bemerkte der Fürst. »Ich weiß, wo die zweihunderttausend Francs stecken, und lasse sie zurückerstatten. Baron, reichen Sie Ihr Entlassungsgesuch ein und bitten Sie um Pensionierung! Ihr Prozeß wäre eine Schmach für uns alle! Deshalb habe ich mir vom Ministerrat die Vollmacht erteilen lassen, nach Gutdünken verfahren zu dürfen. Da Sie ein Leben ohne Ehre und ohne meine Achtung hinnehmen, ein würdeloses Dasein, so sollen Sie die gesetzliche Pension erhalten. Nur machen Sie, daß Sie schnell in Vergessenheit versinken!«
Der Fürst klingelte. Der Kanzleidiener erschien.
»Den Kanzleidirektor Marneffe!«
»Zu Befehl, Durchlaucht!«
Als Marneffe zur Stelle war, sagte der Fürst zu ihm:
»Sie und Ihre Frau haben den Baron von Ervy da mit Wissen und Willen zugrunde gerichtet!«
»Durchlaucht verzeihen«, erwiderte Marneffe, »ich bin lediglich auf mein Gehalt angewiesen und habe zwei Kinder, von denen das jüngste durch den Herrn Baron in meine Familie gekommen ist.«
»So ein Galgengesicht!« bemerkte der Fürst zum Grafen, indem er mit der Hand auf Marneffe wies. »Keine faulen Ausreden! Sie zahlen zweihunderttausend Francs zurück, oder ich schicke Sie nach Algier!«
»Durchlaucht kennen meine Frau nicht! Sie hat alles verbraucht. Der Herr Baron lud uns Tag für Tag sechs Personen zu Tisch ein. Mein Haushalt kostet mich im Jahr fünfzigtausend Francs.«
»Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« herrschte ihn der Fürst mit seiner Kommandostimme von ehedem an. »Sie werden Ihre Versetzung in zwei Stunden mitgeteilt bekommen. Gehen Sie!«
»Ich ziehe es vor, meine Entlassung einzureichen«, widersprach Marneffe frech. »Das lasse ich mir nicht gefallen! Ich nicht!«
Damit ging er.
»Ein unverschämter Schurke!« sagte der Fürst.
Der Marschall Hulot hatte während dieses Auftritts unbeweglich und leichenblaß dagestanden, seinen Bruder beobachtend. Jetzt faßte er des Fürsten Hand und wiederholte ihm:
»In achtundvierzig Stunden ist der materielle Schaden wiedergutgemacht. Die Ehre freilich . . . Auf Wiedersehen, Fürst! Das ist die letzte Wunde, die Todeswunde! Ja, daran sterbe ich!« fügte er leise hinzu.
»Zum Donnerwetter, warum bist du denn heute eigentlich zu mir gekommen?« fragte der Fürst bewegt.
Der Graf deutete auf Hektor.
»Wegen seiner Frau! Sie hungert, besonders jetzt!«
»Er bekommt doch seine Pension!«
»Die ist verpfändet!«
»Der Teufel muß ihn geritten haben!« schimpfte der Fürst und zuckte mit den Achseln. »Sind Sie denn von Ihren Weibern verhext und um Ihren Verstand gebracht? Sie kennen die peinliche Genauigkeit, mit der die französische Verwaltung alles bucht und protokolliert. Man verschwendet Ballen von Schreibpapier, um den Ein- und Aufgang von ein paar Groschen nachzuweisen. Sie haben sich selber einmal bei mir beklagt, daß hundert Unterschriften nötig seien, um einen Soldaten zu entlassen oder um eine Lieferung Striegel zu bezahlen. Und da haben Sie sich eingebildet, diese Geschichte werde nicht alsbald aufgedeckt? Dazu die Presse, die Neider, die Leute, die selber stehlen! Ihre Weiber müssen Sie um den gesunden Menschenverstand gebracht haben! Anders kann ich mir die Sache nicht erklären. In dem Moment aber, wo Sie kein Mann mehr waren, sondern ein Stimmungsmensch, in diesem Moment mußten Sie Ihren Abschied nehmen. Wenn man bei seinen Verbrechen noch derartig geistig beschränkt ist, dann endet man . . . ich will Ihnen lieber nicht sagen, wo!«
Der Graf von Pforzheim unterbrach ihn:
»Collin, versprich mir, daß du dich um sie kümmern wirst!«
Er hatte des Fürsten Worte nicht gehört, sondern immer an seine Schwägerin gedacht.
»Sei unbesorgt!« entgegnete ihm der Minister.
»Ich danke dir! Lebe wohl!«
Und zu seinem Bruder gewandt, fügte er hinzu:
»Kommen Sie mit!«
Der Fürst sah anscheinend ruhigen Sinnes auf die beiden in Gestalt, Wesen und Charakter so verschiedenen Brüder. Ein Held und ein Feigling! Ein Genußmensch und ein Puritaner! Ein Ehrenmann und ein Veruntreuer! dachte er bei sich. Dieser Feigling versteht nicht zu sterben, und mein armer, so urehrlicher Hulot ist ein Todeskandidat. Traurig!
Er setzte sich in seinen Schreibstuhl und las die aus Afrika eingegangenen Depeschen mit der Kaltblütigkeit des Feldherrn und der tiefen Trauer, die den Menschen angesichts eines Schlachtfeldes befällt.
Für den schärferen Beobachter gibt es nichts Menschlicheres als einen Soldaten, der sich äußerlich rauh stellt und dem die Gewohnheit, die Massen in den Tod zu führen, eine eherne Ruhe verleiht.
Am Tage darauf enthielten die Zeitungen folgende Notizen:
»Der Staatsrat Baron Hulot von Ervy ist um seine Versetzung in den Ruhestand eingekommen. Die bei der Verwaltung in Algier zutage gekommenen Unregelmäßigkeiten, die den Selbstmord und die Flucht zweier Beamten zur Folge gehabt haben, sind nicht ohne Einfluß auf den Entschluß des hohen Beamten gewesen. Als er Kenntnis von den Unterschleifen erhielt, die Beamte begangen hatten, in die er sein Vertrauen gesetzt, suchte ihn im Geschäftszimmer des Kriegsministers ein Schlaganfall heim.
Hulot von Ervy – der Bruder des Marschalls – blickt auf eine Dienstzeit von fünfundvierzig Jahren zurück. Sein Entschluß, gegen den man vergeblich angekämpft hat, wird von allen bedauert, die Herrn von Hulot kennen. Er ist gleichbedeutend als Mensch wie als Verwaltungsbeamter. Es bleibt unvergessen, welch treue Dienste er als Generalintendant der Kaiserlichen Garde in Warschau geleistet hat, und wie bewundernswert seine Tätigkeit bei der Organisation der 1815 von Napoleon improvisierten Armee gewesen ist. Mit ihm geht abermals ein Stern der Kaiserzeit unter. Seit 1830 war er ununterbrochen eine der trefflichsten Stützen des Staatsrates und des Kriegsministeriums.«
»Algier. Die bekannte Furageaffäre, die in einigen Zeitungen lächerlich aufgebauscht worden ist, hat mit dem Tode des Hauptschuldigen ihre Erledigung gefunden. Dieser, ein gewisser Hans Wisch, hat sich im Gefängnis entleibt. Sein Mitschuldiger ist geflüchtet, aber man wird ihn in contumaciam verurteilen.
Wisch, ein ehemaliger Proviantbeamter der Armee, ein ehrlicher, allgemein geachteter Mensch, hat es nicht überwinden können, ein Opfer des geflüchteten Proviantamtsvorstandes Chardin geworden zu sein.«
»Das Kriegsministerium hat sich, um in Zukunft Unregelmäßigkeiten vorzubeugen, entschlossen, ein Intendantur-Amt in Afrika einzurichten. Wie man hört, soll der Kanzleidirektor im Kriegsministerium Marneffe mit der Einrichtung dieses Amtes betraut worden sein.«
»Als Amtsnachfolger des Barons Hulot wird der Graf Martial de la Roche-Hugon genannt. Er ist Abgeordneter und Schwager des Grafen von Rastignac. Herr Massol, Berichterstatter über die Bittschriften, wird zum Staatsrat ernannt werden und Herr Claude Vignon die Stelle des Herrn Massol übernehmen.«
Marschall Hulot nahm seinen Bruder mit in seinen Wagen. Unterwegs wechselten beide kein Wort. Hektor war wie abgestorben, der Marschall mit sich beschäftigt wie einer, der alle seine Kräfte zusammenraffen muß, um eine erdrückende Last auszuhalten. In seinem Haus angekommen, führte er seinen Bruder wortlos mit einer befehlenden Geste in sein Arbeitszimmer. Er besaß als Geschenk Napoleons ein paar prächtige Pistolen, Versailler Arbeit. Auf dem Kasten, in dem sie aufbewahrt wurden, stand: »Vom Kaiser Napoleon dem General Hulot geschenkt.« Der Graf holte den Kasten herbei und wies darauf:
»Hier ist dein Arzt!«
Lisbeth, die durch die nur angelehnte Tür spioniert hatte, lief hinunter an den Wagen und befahl, im stärksten Trabe nach der Rue Plumet gefahren zu werden. Eine Viertelstunde später betrat die Baronin Hulot das Haus. Lisbeth hatte ihr die drohenden Worte des Marschalls berichtet.
Ohne seinen Bruder anzublicken, läutete der Graf nach seinem Diener.
»Karl, hole den Notar, den Grafen Steinbock, meine Nichte Hortense und einen Bevollmächtigten vom Staatsrentenamt! Es ist halb elf Uhr. Sie sollen um zwölf hier sein. Benutze den Wagen! Fahr wie der Teufel!«
Mit den letzten Worten war er wieder ganz der alte Soldat von 1799.
»Zu Befehl, Exzellenz!«
Der Diener ging militärisch ab.
Ohne sich auch weiterhin um den Bruder zu kümmern, entnahm der Graf einem Geheimfache seines Schreibtisches eine mit Malachit eingelegte Stahlkassette, ein Geschenk des Kaisers Alexander von Rußland. Auf Napoleons Befehl hatte Hulot dem russischen Kaiser 1813 besonders wertvolle Gegenstände überbracht, die auf dem Rückzuge von Dresden in die Hände der Franzosen gefallen waren. Er hoffte, dafür den General Vandamme ausgeliefert zu bekommen. Der Zar belohnte Hulot fürstlich, indem er ihm das Kästchen gab, und bemerkte, er hoffe, dem Kaiser der Franzosen gelegentlich die gleiche Artigkeit erweisen zu können. Aber den Marschall Vandamme ließ er nicht frei. Auf dem Deckel der über und über mit Gold beschlagenen Kassette prangte der russische Kaiseradler in Gold.
Der Marschall zählte die in der Kassette aufbewahrten Banknoten. Hundertzweiundfünfzigtausend Francs, sein gesamtes Vermögen. Sein Gesicht zeigte Befriedigung.
In dem Augenblick trat die Baronin ein. Sie warf sich über ihren Mann. Ihr halb wahnsinniger Blick irrte von dem Pistolenkasten zu dem Marschall.
»Was hast du gegen deinen Bruder? Was hat dir mein Mann getan?«
Sie sprach so fest und laut, daß der Schwerhörige sie verstand.
»Er hat uns allen die Ehre genommen! Er hat den Staat bestohlen! Er hat mir meinen Namen verekelt! Seinetwegen wünsche ich mir den Tod herbei. Er bringt mich ins Grab. Ich habe nur noch die Kraft, die Zurückgabe des Geldes zu bewerkstelligen. Ich bin vor dem Conde der Republik gedemütigt worden, vor dem Manne, den ich über alles verehre. Ich habe ihn ohne Recht der Lüge geziehen, ihn, den Fürsten von Weißenburg! Ist das nicht genug? Das ist seine Abrechnung mit dem Vaterlande!«
Er wischte sich eine Träne ab. Dann fuhr er fort:
»Und nun zu seiner Familie! Er stiehlt euch das tägliche Brot. Er stiehlt euch den Ertrag der dreißigjährigen Sparsamkeit eines bedürfnislosen alten Soldaten. Dieser Schatz war für euch bestimmt . . .« Er zeigte auf die Banknoten. »Er hat den Tod des alten Fischer verschuldet, eines braven Mannes, der es im Gegensatz zu ihm nicht ertragen konnte, seinen ehrlichen elsässischen Bauernnamen geschändet zu sehen. Das Schicksal hat meinem Bruder die beste aller Frauen zugeführt. Er hat sie betrogen, ihr das Leben verdorben. Er hat sie verlassen, Dirnen und Komödiantinnen zuliebe! Und das ist der, den ich wie meinen Sohn gehegt habe, der mein Stolz war! Fort, Unseliger! Weg von mir, wenn du ohne Ehre weiterleben willst! Ich habe nicht die Kraft, einen Bruder zu verfluchen, den ich so geliebt habe. Ich bin ihm gegenüber so schwach wie du, Adeline. Aber er soll mir nicht wieder vor die Augen kommen! Ich verbiete ihm, meinem Leichenbegängnis beizuwohnen und meinem Sarge zu folgen! Wenn er kein Gewissen hat, soll er sich wenigstens als Verbrecher vorkommen!«
Der Marschall war bleich geworden und sank nach diesen feierlich gesprochenen Worten erschöpft in den Lehnstuhl vor seinem Schreibtische. Vielleicht zum ersten Male in seinem Leben rollten zwei Tränen aus seinen Augen.
»Armer guter Onkel Fischer!« heulte Tante Lisbeth und hielt sich das Schnupftuch vor die Augen.
Adeline kniete vor dem Marschall nieder:
»Lieber Schwager, bleibe für mich am Leben! Hilf mir bei meinem Werke! Ich will Hektor wieder dem Leben versöhnen. Er soll seine Verfehlungen wiedergutmachen.«
»Der!« entgegnete der Marschall verächtlich. »Wenn er weiterlebt, wird er weitere Schandtaten begehen. Wer eine Adeline verkennt, wer innerlich so wenig ein wahrer Republikaner ist wie er, ohne Liebe zur Heimat, zur Familie, zu den Menschen: der ist eine Mißgeburt, ein böses Tier! Wenn du ihn immer noch liebst, dann führe ihn fort, denn mir schreit innerlich eine Stimme zu: »Nimm eine deiner Pistolen, und schieß ihn über den Haufen! Wenn du ihn tötest, rettest du euch alle und den da vor sich selber!««
Der alte Herr stand in fürchterlicher Erregung auf. Die arme Adeline schrie:
»Hektor, komm!«
Sie packte ihren Mann am Arm und riß ihn hinaus. So verließen sie das Haus. Der Baron war so verstört, daß sie ihn richtig in den Wagen setzen mußte. Zu Hause angekommen, legte er sich nieder. Er war buchstäblich zerschlagen. Mehrere Tage verblieb er im Bett, verweigerte alle Nahrung und sprach kein Wort. Erst durch viele Tränen erreichte es Adeline, daß er Fleischbrühe zu sich nahm. Die Baronin pflegte ihn, wachte an seinem Lager und empfand über alle andern Regungen hinaus nichts als tiefstes Mitleid.
Halb ein Uhr führte Lisbeth den Notar und den Grafen Steinbock in das Arbeitszimmer des Marschalls.
»Ich bitte Sie, Graf«, sagte der Marschall zu Steinbock, »meiner Nichte, Ihrer Frau, die nötige Vollmacht zu unterzeichnen, eine Rente verkaufen zu dürfen, die sie nur nominell ohne Nutznießung besitzt. – Lisbeth, du gibst als Nutznießerin die Einwilligung zu diesem Verkauf!«
»Gewiß, lieber Graf«, antwortete Lisbeth ohne Zaudern.
»Das ist recht, meine Verehrteste!« sagte der alte Mann. »Hoffentlich lebe ich noch lange genug, um dich belohnen zu können. Ich habe nie an dir gezweifelt. Du bist eine echte Republikanerin, ein Kind des Volkes.«
Er nahm die Hand der alten Jungfer und drückte einen Kuß darauf.
»Herr Hannequin«, sagte er dann zu dem Notar, »stellen Sie, bitte, die Vollmacht aus! Ich brauche sie sofort, um die Rente verkaufen zu können. Meine Nichte hat den Rentenbrief. Sie wird die Urkunde unterschreiben, ebenso Fräulein Fischer hier. Auch Graf Steinbock hier wird Ihnen seine Unterschrift geben.«
Auf einen Wink Lisbeths verabschiedete sich Steinbock sehr bald ehrerbietig vom Marschall und ging.
Am andern Vormittag ließ sich der Graf von Pforzheim um zehn Uhr beim Fürsten von Weißenburg melden. Er wurde sofort vorgelassen.
»Na, siehst du, lieber Hulot!« redete ihn der Kriegsminister an und reichte seinem alten Kameraden die Zeitungen. »Der Schein ist gewahrt! Lies hier!«
Der Graf legte die Zeitungen auf den Schreibtisch und übergab dem Fürsten zweihunderttausend Francs.
»Hier ist das durch meinen Bruder dem Staat Entwendete wieder!«
»Dummes Zeug!« rief der Fürst und nahm das Hörrohr des Grafen, das er ihm hingehalten hatte. »Es ist uns ganz unmöglich, die Summe irgendwie zu buchen. Wir wären damit gezwungen, deines Bruders Machenschaften einzugestehen, nachdem wir alles getan haben, sie zu verdecken.«
»Tu damit, was du willst! Ich dulde im Vermögen meiner Familie keinen Groschen, der aus dem Staatssäckel gestohlen ist!« erklärte Graf Hulot.
»Ich werde die Entscheidung Seiner Majestät anrufen. Sprechen wir vorläufig nicht mehr von der Angelegenheit.«
Der Minister erkannte die Unmöglichkeit, den stolzen Sinn des alten Herrn umzustimmen.
»Leb wohl, Collin!« sagte Hulot, indem er des Fürsten Rechte erfaßte. »Das Herz friert mir.«
Der Fürst war tief erschüttert. Er fiel dem alten Freunde um den Hals.
»Es will mir scheinen«, sprach er, »als ob ich nicht bloß dir, sondern der Großen Armee Lebewohl sage! So leb denn wohl, mein lieber alter Kamerad!«
In diesem Moment trat Claude Vignon ein. Die beiden Zeugen der Kaiserzeit verbeugten sich zeremoniell voreinander. Keine Spur von innerer Erregung war ihnen noch anzumerken.
»Durchlaucht werden mit den Presseberichten zufrieden sein«, sagte der Sekretär. »Ich habe es so gemacht, daß die oppositionellen Blätter der Meinung sind, sie verrieten unsere Geheimnisse.«
»Leider ist alles vergebens!« entgegnete der Fürst, indem er dem das Nebenzimmer durchschreitenden Marschall nachblickte. »Eben habe ich ein Lebewohl auf Nimmerwiedersehen gesagt, das mir sehr tief geht. Marschall Hulot lebt keine drei Tage mehr. Das habe ich übrigens gleich gestern gesehen. Er war ein Ritter ohne Furcht und Tadel. Die Kugeln haben diesen Tapferen einst verschont. Und nun habe ich ihm den Todesstoß geben müssen . . . Läuten Sie, bitte! Befehlen Sie meinen Wagen! Ich will nach Neuilly zu Majestät.«
Er steckte die zweihunderttausend Francs in sein Ministerportefeuille.
Trotz Tante Lisbeths Pflege war der Marschall Hulot nach drei Tagen tot. Männer wie er sind die Zierde ihrer Partei. Der Marschall war für die Republikaner das Vorbild eines Patrioten gewesen. Deshalb erschienen sie alle zu seinem Leichenbegängnis. Ungeheuer viel Menschen folgten dem Sarge. Vertreter der Armee, der Regierung, des Hofes, alle Welt erwies dem Helden die letzte Ehre, dem Ehrenmanne, dessen Ruhmesschild keinen Flecken aufwies. Selbst der royalistische Adel war gekommen.
Der Tod des alten Mannes, der vier Tage vor Lisbeths letztem Aufgebot erfolgt war, schlug ihr, um ein Bild zu gebrauchen, wie der Blitz in die volle Scheune und vernichtete ihr die bereits unter Dach und Fach gebrachte Ernte. Die Lothringerin hatte ihre Pläne nur allzu gut durchgeführt. Der Marschall war das Opfer der Machenschaften geworden, die sie und Frau Marneffe gegen die Familie Hulot ins Werk setzten. Der Haß der alten Jungfer, der bereits befriedigt schien, wuchs nun um die Größe ihrer getäuschten Hoffnung. Sie lief zu Valerie und weinte bei ihr vor Wut. Da der Marschall seinen Mietvertrag auf Lebenszeit abgeschlossen hatte, war sie nun heimatlos geworden.
Um die Freundin seiner Valerie zu trösten, nahm Crevel die Ersparnisse Lisbeths, verdoppelte sie freigebig und legte das Kapital zu fünf Prozent an. Es ward auf Celestines Namen eingetragen, während die Nutznießung Lisbeth zukam. Dadurch war ihr eine Leibrente von zweitausend Francs im Jahre gesichert. Im Nachlasse des Marschalls fand sich ein an seine Schwägerin, seine Nichte Hortense und seinen Neffen Viktor gerichtetes Schreiben mit der Bitte: an diejenige, die seine Frau hatte werden sollen, an Tante Lisbeth, eine Rente von zwölfhundert Francs zu zahlen.
Adeline gelang es, ihrem zwischen Leben und Tod schwebenden Manne das Hinscheiden seines Bruders mehrere Tage zu verheimlichen. Aber Lisbeth kam in Trauerkleidern, und so wurde ihm die verhängnisvolle Wahrheit am Tage nach dem Begräbnis verraten. Dieser schwere Schlag gab dem Kranken seine Willenskraft zurück. Er stand auf, abgemagert wie ein Gespenst und nur noch ein Schatten seines früheren Ichs.
»Wir müssen zu einem Entschluß kommen!« sagte er mit gebrochener Stimme zu seiner im Salon zu einer Beratung versammelten Familie – nur Crevel und Steinbock fehlten – und sank in einen der Lehnstühle.
»Hier können wir nicht wohnen bleiben!« erklärte Hortense gerade in dem Augenblick, wo ihr Vater eintrat. »Die Miete ist zu hoch.«
»Was die Wohnungsfrage anbelangt«, meinte Viktor und brach damit das inzwischen eingetretene peinliche Schweigen, »so biete ich meiner Mutter an . . .«
Als der Baron diese Worte vernahm, die ihn auszuschließen schienen, hob er sein zu Boden geneigtes Haupt – er hatte auf das Muster des Teppichs gestarrt, ohne die Seinen anzusehen – und warf einen jammervollen Blick auf seinen Sohn. Viktor hatte die Empfindung, daß eines Vaters Rechte selbst in Schande und Schmach bestehen blieben. Er hielt inne.
»Deiner Mutter!« wiederholte Hulot. »Du hast recht, mein Sohn!«
Cölestine vollendete den Satz ihres Mannes:
»Ja, die eine Wohnung über uns!«
»Ich bin wohl im Wege, Kinder?« fragte der Baron mit der Demut eines Menschen, der sich selbst aufgegeben hat. »Seid unbesorgt! Ihr sollt euch nicht mehr über euern Vater zu beklagen haben! Ihr werdet ihn nur noch wiedersehen, wenn ihr euch seiner Anwesenheit nicht mehr zu schämen braucht!«
Er umarmte Hortense und küßte sie auf die Stirn, dann warf er sich verzweiflungsvoll seinem Sohne in die Arme. Auch Lisbeth küßte er auf die Stirn.
Viktor ahnte seines Vaters Gedanken, aber er blieb regungslos. Nur Adeline folgte dem in sein Zimmer gehenden Baron.
»Mein Bruder hatte recht, liebe Adeline«, sagte er, indem er die Hand seiner Frau erfaßte. »Ich bin meiner Familie unwürdig! Ich habe meine Kinder nur zu küssen gewagt, nicht zu segnen. Denn der Segen eines Ehrlosen, eines Mörders wäre nur ein Fluch. In der Ferne werde ich täglich um euch sein. Was dich anbetrifft, Adeline: Gott muß dich lohnen, wie es dir gebührt! Ich bitte dich um deine Verzeihung!«
Er sank weinend vor ihr nieder und küßte ihr die Hände.
»Hektor! Mein lieber Hektor! Deine Vergehen waren groß, aber Gottes Gnade hat keine Grenzen! Du kannst alles sühnen, wenn du bei mir bleibst. Steh auf! Ich bin deine Frau und nicht deine Richterin! Ich bin dein. Wo du mich hinführst, will ich mit dir gehen! Ich fühle die Kraft in mir, dich zu trösten, dir das Dasein erträglich zu machen durch Liebe, Pflege und Verehrung. Unsere Kinder sind versorgt. Sie brauchen mich nicht mehr. Ich will die Leiden deiner Verbannung und deines Unglücks mit dir teilen und sie mildern. Und sollte ich nichts als deine Dienerin sein!«
»Kannst du vergessen, liebe Adeline?«
»Ja, mein Lieber! Steh auf!«
»Mit deiner Verzeihung will ich leben!« rief er aus und erhob sich. »Aber ich werde allein in mein Exil gehen. Folge mir nicht!«
Adeline wagte nichts zu sagen. Sie war vollständig gebrochen. Inmitten dieses Zusammensturzes hatte sie ihren Mut aus dem Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit mit Hektor geschöpft. Ihm gehörte sie bis an das Ende ihrer Tage. Sie sah ihre Sendung darin, ihn zu trösten, ihn der Familie zurückzugewinnen, ihn wieder mit sich selbst zu versöhnen.
»Hektor, so willst du mich in Verzweiflung, Sorge und Unruhe sterben lassen?«
»Ich komme zurück zu dir, meine Liebe«, entgegnete er. »Du bist mein Schutzengel, für mich vom Himmel herabgestiegen. Ich komme wieder. Siehst du, liebe Adeline, ich kann aus sehr vielen Gründen nicht hierbleiben. Zunächst ist meine Pension, diese sechstausend Francs, auf vier Jahre verpfändet. Ich habe also nichts. Aber es ist noch schlimmer. In wenigen Tagen droht mir das Schuldgefängnis, weil ich die Wechsel, die Vauvinet von mir hat, nicht einlösen kann. Ich muß mich also so lange entfernen, bis diese Geschichte geordnet ist. Ich werde Viktor genaue Anweisungen hierüber geben. Mein Verschwinden wird die Sache auf das beste fördern. Wenn meine Pension wieder frei ist und wenn Vauvinet befriedigt sein wird, dann lebe ich wieder bei euch. Dein Mitgehen würde nur meinen Aufenthaltsort verraten. Sei ruhig, liebe Adeline, und weine nicht! Es wird alles gut werden!«
»Wohin willst du denn gehen? Was willst du machen? Was wird aus dir werden? Du bist nicht mehr jung. Wer wird für dich sorgen? Laß mich doch lieber mit dir verschwinden. Wir wollen zusammen in das Ausland gehen!«
»Wir wollen sehen!« wehrte er ab.
Hulot klingelte und befahl Mariette, die Koffer und die Sachen schnell und unbemerkt zu packen. Nachdem er seine Frau mit überschwenglicher Zärtlichkeit geküßt hatte – sie war das längst nicht mehr gewohnt –, bat er sie, ihn allein zu lassen. Er wolle die nötigen Anordnungen für Viktor niederschreiben. Er versprach ihr, das Haus erst bei Nacht und mit ihr zusammen zu verlassen.
Kaum war die Baronin nach dem Salon zurückgegangen, da schlich er sich durch sein Ankleidezimmer in das Vorhaus und verließ die Wohnung. Mariette hatte er einen Zettel übergeben, auf dem geschrieben stand: »Schicke mir meine Koffer per Bahn: Herrn Hektor, Corbeil, bahnlagernd!«
Nachdem Hulot in einer Droschke längst weggefahren war, übergab Mariette der Baronin den Zettel mit der Meldung, der Herr Baron sei ausgegangen. Adeline stürzte sofort in sein Zimmer, aufgeregt wie noch nie in ihrem Leben. Erschrocken folgten ihr Hortense und Viktor, als sie ihre Mutter einen gellenden Schrei ausstoßen hörten. Die Baronin, die bewußtlos geworden war, mußte zu Bett gebracht werden. Sie verfiel in ein Nervenfieber. Vier Wochen lang schwebte sie zwischen Leben und Tod.
»Wo ist er?« Das war das einzige, was sie in dieser Zeit sagte.
Viktors Nachforschungen blieben ohne Erfolg.
Der Baron war nach der Place du Palais Royal gefahren. Dort stieg er aus und nahm in der Rue Joquelet einen eleganten Mietwagen zur Rue de la Ville l´Evêque, nach dem Hause Josephas. Der Mann, der vor kurzem noch vor Schmerz und Gram halbtot das Bett gehütet hatte, war mit einem Male wieder im Besitz seiner geistigen Kräfte.
Neugierig kam Josepha an den Wagen, der auf den Ruf des Kutschers eingelassen worden war und in der Durchfahrt des Hauses hielt. Der Kammerdiener hatte der Sängerin gemeldet, ein alter Herr, der vor Schwäche den Wagen nicht verlassen könne, bäte sie, einen Augenblick herunterzukommen.
»Josepha, ich bin es!«
Die Künstlerin erkannte ihn an der Stimme.
»Was, du, mein lieber Graukopf? Weiß der Teufel, du siehst aus, als ob du auf dem letzten Loche pfiffest!«
»Ja, ja«, erwiderte Hulot, »ich komme aus den Armen des Sensenmannes! Aber du, du bist schön wie immer! Wirst du auch ebenso gut sein?«
»Das hängt ganz von dir ab! Gut sein ist etwas Relatives.«
»Höre mich an!« fuhr Hulot fort. »Kannst du mich für ein paar Tage in einer Domestikenstube, oben unter dem Dache, beherbergen? Ich habe kein Geld, keine Hoffnung, kein täglich Brot, keine Pension, keine Frau, keine Kinder, kein Heim, keine Ehre, keinen Mut! Und schlimmer noch: man will mich wegen einer Wechselschuld einsperren!«
»Armer Alter! Es ist ein bißchen viel, was dir fehlt. Gott sei Dank hast du wenigstens noch Hosen an!«
»Du lachst mich aus! So bin ich verloren! Ich habe auf dich gerechnet wie Courville auf Ninon!«
»Sage mir, mein Freund«, fragte Josepha, »man hat mir erzählt, du wärst einer Dame der Gesellschaft wegen so auf den Hund gekommen. Ist das so? Diese Schwindlerinnen verstehen es besser als wir, einem Karnickel das Fell über die Ohren zu ziehen! Du siehst ja gottserbärmlich aus. Und spindeldürr bist du geworden!«
»Josepha, mach es kurz!«
»Komm herein, alter Junge! Ich bin allein, und meine Leute kennen dich nicht. Schicke den Wagen fort! Ist er bezahlt?«
»Ja«, sagte der Baron, und Josepha stützte ihn.
»Wenn es dir recht ist, sollst du als mein Vater gelten!« erklärte die Sängerin. Ihr Mitleid war erwacht. Sie führte den Baron in den Salon, in dem er sie dereinst zum letzten Male gesehen hatte.
»Ist es wirklich wahr, Alterchen«, begann sie von neuem, »daß du am Tode deines Bruders und eines Onkels von dir schuld bist? Daß du deine Familie ruiniert, deine Kinder in Schulden gestürzt und afrikanische Staatsgelder mit einer Prinzessin durchgebracht hast?«
Der Baron nickte trübselig.
»Siehst du, so gefällst du mir!« rief Josepha begeistert aus. »Das ist wirklich ein Zusammenbruch! Das heißt: ein Teufelsleben geführt! Das ist etwas Großartiges, etwas Ganzes! Du bist eine Canaille, aber du hast Mumm in den Knochen! Mit ist einer, der alles verjuchheit und für die Weiber Gott weiß was tut, tausendmal lieber als so eine kalte Hundeschnauze von Bankier, der für einen anständigen Kerl gelten will, obgleich er im Grunde durch sein Metier Tausende von Menschen und Familien ruiniert! Leidenschaft! Leidenschaft, das ist wahre Liebe!«
Hulot nahm diese Absolution einer schönen Sünderin selbstgefällig an. Von neuem lächelten ihm Luxus und Laster zu. Die Größe seines Verbrechens kam ihm selber wie ein mildernder Umstand vor.
»War denn deine Dame der Gesellschaft wenigstens hübsch?« forschte Josepha weiter. Sie wollte ihn zerstreuen. Sein Elend ging ihr wirklich zu Herzen.
»Auf Ehre, bald so hübsch wie du!« gab er pfiffig zur Antwort.
»Und fidel auch, wie ich gehört habe. War sie lustiger als ich?«
»Lassen wir sie, Josepha!«
»Man sagt, jetzt halte sie meinen dicken Crevel an Rosenketten, dazu das Steinböckchen und einen Prachtkerl von Brasilianer?«
»Das ist wohl möglich!«
»Crevel soll ihr ein Haus so schön wie dieses geschenkt haben. Eigentlich eine Gemeinheit! Der Racker richtet die zugrunde, mit denen ich angefangen habe. Deswegen, lieber Freund, bin ich ja so furchtbar neugierig zu wissen, wie sie aussieht. Einmal habe ich sie im Bois in ihrem Wagen gesehen, aber nur von weitem. Man hat mir gesagt, sie sei eine gerissene Gaunerin. Sie gibt sich Mühe, Crevel kaputt zu machen. Das wird ihr kaum gelingen. Crevel ist ein ganz Schlauer! Der alte Fuchs sagt zu allem ja, und dann macht er doch, was ihm sein eigner Dickkopf vorschreibt. Eitel ist er und verliebt. Aber in Geldsachen eiskalt. Zwei-, dreitausend Francs im Monat, mehr gibt einem die Sorte nicht. Vor jeder wirklichen Verschwendung aber stoppt der Kerl wie ein Rekrut vor einer Hürde. Da bist du ein anderer Kerl, mein Junge! Du hast Passion im Leibe! Ich glaube, man könnte dich dazu bringen, dein Vaterland zu verraten. Und deshalb bin ich bereit, alles für dich zu tun. Du bist mein Vater. Du hast mir einst das Leben erschlossen. Das ist mir heilig. Was brauchst du? Willst du zweihunderttausend Francs? Ich werde alles aufbieten, sie dir zu schaffen. Dir Wohnung und Nahrung zu bieten, das ist Nebensache! Dein Tisch wird hier täglich gedeckt sein. Das schönste Zimmer im zweiten Stock sollst du bekommen und monatlich hundert Taler Taschengeld!«
Von dieser Gastfreundschaft gerührt, bekam Hulot gleichwohl eine letzte Anwandlung von Ehrliebe.
»Nein, nein, mein Kind, ich bin nicht zu dir gekommen, um mich von dir aushalten zu lassen!«
»Großartig gesagt – bei deinem Alter!«
»Soll ich dir sagen, was ich will? Höre mich an, Kindchen! Dein Herzog hat in der Normandie riesige Besitzungen. Ich möchte bei ihm Gutsverwalter unter dem Namen »Thoul« werden. Die dazu nötige Fähigkeit und Redlichkeit habe ich. Wenn man auch dem Staate etwas abgeluchst hat, deswegen greift man noch lange nicht in fremder Leute Geldbeutel . . .«
»Na, na«, spottete Josepha, »der Katze gewöhnt man das Mausen nicht ab!«
»Mit einem Worte, ich will weiter nichts, als drei Jahre lang mein Dasein im Verborgenen fristen.«
»Das kannst du leicht haben. Ich brauche es ihm bloß heute abend nach Tisch zu sagen. Der Herzog würde mich heiraten, wenn ich ihn darum bäte. Aber sein Geld habe ich auch so. Ich will mehr: seine Achtung! Er ist wirklich ein Fürst vom Scheitel bis zur Sohle, ein Edelmann im Stile Ludwigs des Fünfzehnten, wenn er auch körperlich ein Knirps ist . . . Aber ich will dir etwas sagen, alter Knabe. Ich kenne doch meine Pappenheimer. Du bist ein Weibernarr! Du würdest schön hinter den kleinen Normanninnen her sein! Das sind famose Mädels. Aber ihre Väter und Burschen würden dir bald die Knochen entzweischlagen, und der Herzog jagte dich zum Hofe hinaus. Ich sehe schon an der Art und Weise, wie du mich anguckst, daß du noch immer dumme Gedanken im Kopfe hast. Zum Verwalter taugst du nicht. Und so leicht ist es auch nicht, sich Paris abzugewöhnen. Paris und alles, was so drum und dran hängt. Du würdest in der Normandie vor Langerweile umkommen.«
»Was soll aber aus mir werden?« fragte Hulot. »Ich will nur so lange hier bei dir bleiben, bis ich mir darüber klar bin.«
»Sag einmal: soll ich dich nach einer Idee von mir unterbringen? So höre mich an, alter Schwerenöter! Die Weiber sind dein Element. Die helfen dir über alles hinweg. Gib acht! Da draußen in der Rue Saint-Maur-du-Temple kenne ich eine arme Familie, die einen Schatz besitzt: ein Mädel, hübscher als ich mit sechzehn Jahren war! Ein süßes, kleines Herzchen. Siehst du, wie deine Augen lüstern werden! Das Dingelchen arbeitet von früh bis abends. Sie ist Stickerin für ein großes Modegeschäft und verdient acht Groschen den Tag. Ein Elend! Selbständig machen kann sie sich nicht, dazu fehlen ihr die nötigen sieben- bis achttausend Francs. Für diese Summe beginge sie wer weiß was! Sagst du nicht, deine Familie und deine Frau langweilten dich? Ja, man ist nicht gerne Knecht, wo man Herr war. Ein Familienoberhaupt ohne Geld und ohne Achtung kann sich ausstopfen und in den Glasschrank setzen lassen . . .«
Der Baron konnte nicht umhin, über den bösen Witz zu lächeln.
»Kurz und gut«, fuhr die Sängerin fort, »Fräulein Bijou bringt mir morgen einen entzückenden gestickten Morgenrock, in dem ein halbes Jahr Arbeit steckt. In ganz Paris gibt es so etwas nicht wieder. Das Mädel liebt mich zärtlich. Ich schenke ihr Schokolade und meine alten Kleider. Der Familie schicke ich hin und wieder Gutscheine auf Brot, Holz und Fleisch. Man würde für mich durchs Feuer gehen, wenn ich es verlangte. So versuche ich, ein wenig Gutes zu tun. Ach, ich habe es nicht vergessen, was ich gelitten, als ich hungern mußte. Die kleine Bijou hat mir ihre kleinen Geheimnisse anvertraut. Ihr Lebensideal ist, so schöne Kleider zu tragen wie ich und ganz besonders einen so hübschen Wagen zu haben. Ich werde sie einmal fragen: ›Kindchen, willst du von einem alten Herrn von . . .‹ Wie alt bist du eigentlich?« unterbrach sie sich selber. »War es nicht zweiundsiebzig?«
»Wie alt ich bin?« meinte Hulot. »Was heißt alt!«
»Ich werde sie also fragen: ›Magst du einen alten Herrn von zweiundsiebzig Jahren, der tipptopp aussieht, gesund ist wie ein Fisch im Wasser und es mit jedem jungen Manne noch aufnimmt? Er will gemütlich bei euch wohnen und gibt euch dafür siebentausend Francs. Er wird euch eure Wohnung ganz in Mahagoni einrichten, und wenn du hübsch artig bist, dann führt er dich manchmal ins Theater und gibt dir im Monat hundertfünfzig Francs Taschengeld.‹ Ich kenne die Kleine. Sie ist ganz so, wie ich mit vierzehn Jahren war. Ich bin vor Freude deckenhoch gesprungen, als mir das alte Ekel, der Crevel, seinen Antrag machte. Siehst du, Alterchen, da wärst du gleich auf drei Jahre versorgt! Drei Jahre ist gerade so die richtige Zeit. Länger währt eine Illusion nicht.«
Hulot zögerte nicht. Er war entschlossen, das Angebot abzulehnen; aber etwas war in ihm, das ihn davon abhielt, seinen Entschluß klar auszusprechen. Er log sich die Pflicht vor, sich der gutmütigen Sängerin dankbar zeigen zu müssen. So stellte er sich, als schwanke er zwischen Tugend und Sünde.
»Schau, schau!« scherzte Josepha. »Er fängt nicht Feuer! Überlege dir die Sache!« fuhr sie mit leiser Ironie fort. »Bedenke, du kannst hier eine ganze Familie glücklich machen: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind! Du gleichst damit das Unglück aus, das du über dein eigenes Haus gebracht hast! Du sühnst somit deine alten Sünden und lebst obendrein vergnügt wie der liebe Gott!«
Hulot machte die Geste des Geldzahlens.
»Darüber mache dir keine Sorgen!« versetzte Josepha. »Mein Herzog wird dir zehntausend Francs pumpen: siebentausend zum Stickereigeschäft für die kleine Bijou und dreitausend für eure Wohnungseinrichtung. Dazu bekommst du hier alle Vierteljahre einen Scheck auf sechshundertfünfzig Francs. Wenn deine Pension wieder frei ist, dann gibst du dem Herzog die siebzehn- oder achtzehntausend Francs zurück. Bis dahin lebst du in friedlichster Weltverlorenheit in einem Nestchen, wo dich kein Polizist aufspüren soll. Du wirst einen Riesenhavelock tragen und aussehen wie ein Spießbürger, der sein gutes Auskommen hat. Wenn es dir Spaß macht, kannst du dich Thoul nennen. Ich werde dich jenen Leuten gegenüber für einen aus Deutschland gekommenen Onkel ausgeben, der dort Pleite gemacht hat. Du wirst verhätschelt werden wie ein Schoßhündchen. Wer weiß, Alterchen, ob es nicht dein Glück ist. Für alle Fälle aber behalte einen deiner schönen Bratenröcke, und wenn du dich einmal langweilen solltest, dann ziehst du ihn an und kommst zum Abendessen hierher zu mir!«
»Ich wollte brav und solid werden! Verschaffe mir zwanzigtausend Francs, und ich gehe nach Amerika! Ich will dort mein Glück versuchen wie mein Freund d'Aiglemont, nachdem Nucingen ihn ruiniert hatte.«
»Du!« rief Josepha laut aus. »Laß doch die Spießerei den französischen Biedermännern, die sogenannte anständige Menschen bloß aus dem Grunde sind, weil es ihnen Ansehen bei den andern verschafft. Du stehst über den Trotteln. Du bist als Mann das, was ich als Weib bin: ein genialer Genießer des Lebens!«
»Kommt Zeit, kommt Rat! Wir wollen die Sache morgen weiter besprechen!«
»Gut! Du wirst heute mit mir und dem Herzog dinieren. Er wird dich so liebenswürdig aufnehmen, als hättest du den Staat gerettet. Und morgen entschließt du dich. Nun wollen wir aber lustig sein, Alterchen! Das Leben ist ein hübsches Kleid. Wenn es beschmutzt wird, macht man es wieder rein. Kriegt es ein Loch, dann bessert man es aus und trägt es, solange es hält!«
Der Schwung dieser Weltanschauung der Sünde fachte die verglimmende Lebenslust Hulots wieder an. Er vergaß seinen Kummer.
Nach einem kräftigen Frühstück sah Hulot am andern Tage eines der lebendigen kleinen Meisterwerke vor sich, wie sie in der Welt einzig nur Paris hervorbringt. Das Pariser Leben ist eine ewige wilde Ehe zwischen Luxus und Elend, Laster und Anstand, unterdrückter Lust und immer neuem Sinnestaumel. Das macht die wunderbare Stadt zur Erbin von Ninive, Babylon und dem Rom der Kaiserzeit.
Fräulein Olympia Bijou war sechzehn Jahre alt. Sie hatte ein Madonnengesicht mit unschuldigen großen schwarzen verträumten Augen, deren leise Trauer von Arbeit und Armut sprach. Alles an ihr war fein und zerbrechlich, fast krankhaft zart. Sie hatte einen süßen roten Mund, prächtige Zähne, hübsche Hände und wunderschönes schwarzes Haar. Sie trug ein billiges Kattunkleid mit einer gestickten Halskrause, hübsche Stiefelchen und Handschuhe. Es war ihr Sonntagsanzug, den sie angezogen hatte, weil sie zu einer großen Dame kam.
Von der Tigertatze der Wollust gepackt, fühlte der Baron, wie ihm seine ganze Lebenskraft in die Augen zusammenströmte. Vor diesem verführerischen Geschöpf vergaß er die ganze Welt.
Josepha flüsterte ihm ins Ohr:
»Ich bürge dir dafür, daß sie noch Jungfrau ist. Unverdorben und halb verhungert. Das ist Paris! So war ich einst auch.«
»Einverstanden!« gab ihr der alte Lebemann zur Antwort. Er stand auf und rieb sich vergnügt die Hände.
Als Olympia wieder fort war, sah ihn Josepha verschmitzt an.
»Alterchen! Wenn du dein Idyll nicht gestört haben willst, so sei streng wie ein Staatsanwalt mit ihr! Halte sie an der Kandare! Und sei wachsam! Wenn das Dingelchen erst einmal anständig angezogen und ein bißchen herausgefüttert ist, dann wird sie wie eine kleine Prinzessin einherstolzieren. Die Einrichtung deiner neuen Wohnung werde ich in die Hand nehmen. Der Herzog hat sich nicht lumpen lassen; er leiht, das heißt: er schenkt dir die zehntausend Francs und hinterlegt bei seinem Notar achttausend Francs mit der Bestimmung, dir vierteljährlich sechshundert Francs auszuzahlen. Es ist am besten so, denn du bist ein Leichtfuß. Ich trau dir nicht über den Weg. Sag, bin ich nicht nett?«
»Himmlisch!«
Seit vierzehn Tagen war Hulot für seine Angehörigen verschwunden. Betrübt stand die Familie am Bett der schwerkranken Adeline, die immer wieder mit schwacher Stimme fragte: »Wo ist er?« Inzwischen hatte der Baron unter der Firma Thoul & Bijou ein Stickereigeschäft in der Rue Saint-Maur eröffnet.
Das Unglück, das die Familie so hartnäckig bedrängte, hatte auch sein Gutes. Es festigte Viktor von Hulot; es brachte ihn zur letzten Entwicklung, zur Reife. Er machte es wie ein Luftschiffer und warf Ballast über Bord, um hoch zu kommen. Er legte seinen geistigen Hochmut, sein äußerliches Selbstbewußtsein, seinen Abgeordnetendünkel und seine politische Eingebildetheit ab. Er bemühte sich, als Mann zu sein, was seine Mutter als Frau war. Wenn Cölestine sein Ideal auch nicht war, so begann er doch, sich in sie hineinzufinden. Er wurde gütig und nachsichtig. Indem er einsah, daß sich der wahrhaft überlegene Mensch in seinen Forderungen an die Mitmenschen und das Leben immer wieder mit dem »Ungefähr« begnügen muß, gesundete seine Art, die Menschen zu beurteilen. Damit zugleich gelobte er sich, seine eigenen Pflichten streng zu erfüllen. Die Handlungsweise seines Vaters hatte ihn durch und durch gerüttelt. Am Krankenlager seiner Mutter gewann diese Umwandlung ihren Halt.
Dieses erste Glück blieb nicht das einzige. Der Fürst von Weißenburg, der sich durch Claude Vignon täglich über das Befinden der Baronin Bericht erstatten ließ, bat den – inzwischen von neuem gewählten – Abgeordneten eines Tages zu sich. Viktor und der Kriegsminister kannten sich bereits seit langem persönlich.
Der Fürst empfing den jungen Hulot mit verheißungsvoller Leutseligkeit.
»Mein Freund«, begann der alte Soldat, »in diesem Zimmer habe ich Ihrem verehrten Onkel, dem Marschall, beim Abschiednehmen versprochen, für Ihre Frau Mutter Sorge zu tragen. Man hat mir gemeldet, daß die anbetungswürdige Dame der Genesung entgegengeht. Somit ist der Augenblick gekommen, sie wieder aufzurichten. Ich habe hier zweihunderttausend Francs für sie, die ich Ihnen einhändige.«
Der Anwalt machte eine abwehrende Bewegung, an der sein Onkel Freude gehabt hätte.
»Seien Sie beruhigt!« sagte der Fürst gütig. »Es ist Familieneigentum. Nehmen Sie die Summe! Meine Tage sind gezählt, und es könnte eines Tages zu spät für mich sein. Benutzen Sie die Summe, die Hypotheken abzustoßen, die Ihr Haus belasten. Die zweihunderttausend Francs gehören Ihrer Frau Mutter und Ihrer Schwester. Wenn ich sie der Baronin von Hulot unmittelbar übergeben würde, müßte ich befürchten, das Geld ginge durch ihren Edelmut verloren. Es ist aber die Absicht dessen, der mich zu der Rückgabe bevollmächtigt, der Baronin und ihrer Tochter, der Gräfin Steinbock, das tägliche Brot zu sichern. Sie sind ein umsichtiger Mann, der würdige Neffe meines teuren Freundes. Man schätzt Sie allgemein. Mein lieber Freund, ich verlange von Ihnen, seien Sie von diesem Tag an der Schutzherr Ihrer Familie und nehmen Sie hiermit das Vermächtnis Ihres Onkels an!«
»Durchlaucht wissen, daß Dank in Worten nichts bedeutet. Dankbarkeit muß sich in Taten beweisen!«
»Beweisen Sie mir die Ihre!« sagte der alte Soldat.
»Was kann ich tun, Durchlaucht?«
»Nehmen Sie folgenden Antrag an!« sagte der Minister. »Man möchte Sie als Anwalt der vom Kriegsministerium zu führenden Prozesse haben. Das Armee-Bauamt ist mit streitigen Angelegenheiten infolge der Befestigungsarbeiten um Paris überschüttet. Damit verknüpft wäre der Posten als Anwalt der Polizei und der königlichen Zivilliste. Diese drei Ämter bringen Ihnen achtzehntausend Francs Gehalt und lassen Ihnen im übrigen Ihre Unabhängigkeit. Im Abgeordnetenhaus können Sie ganz Ihren politischen Anschauungen und Ihrem Gewissen folgen. Bewahren Sie da Ihre Freimütigkeit! Unbedingt! Wo käme ein Staat hin, der keine nationale Opposition hätte! – Weiter! Ein Wort, das mir Ihr Onkel wenige Stunden vor seinem Hingange geschrieben hat, verpflichtet mich, um Ihre Frau Mutter Sorge zu tragen. Der Marschall hat sie sehr verehrt. Nun haben die Damen Popinot, de Rastignac, de Navarreins, d'Espard, de Grandlieu, de Carigliano, de Lenoncourt und de la Bâtie für Ihre liebe Frau Mutter einen Posten geschaffen, den einer Aufsichtsdame ihres Wohltätigkeitsvereins. Die Patronessen dieses Vereins werden mit ihren Obliegenheiten nicht allein fertig. Sie brauchen eine Vertrauensdame, die sie tätig vertritt, die die Hilfsbedürftigen besucht, die Erkundigungen anstellt, ob wirklich nur Würdige unterstützt werden, ob denen in der Tat geholfen wird, denen Unterstützungen zugedacht sind, die verschämte Arme auffindet und so weiter. Ihre Frau Mutter könnte hier sehr segensreich wirken. Sie hat nur Rücksicht auf die Geistlichkeit und die Krankenschwestern zu nehmen. Sie bekommt sechstausend Francs im Jahr und die freie Verfügung über einen Wagen. Sehen Sie, junger Freund, so bleiben hochherzige Menschen auch über das Grab hinaus die Beschützer der Ihren!«
»Durchlaucht, die zarte Fürsorge ehrt meinen Onkel!« gab Viktor zur Antwort. »Ich will versuchen, Ihren Erwartungen zu entsprechen.«
»Richten Sie Ihre Familie auf! – Da fällt mir ein: Ihr Vater ist verschwunden?«
»Leider ja, Durchlaucht!«
»Ich finde es korrekt.«
»Er hat die Folgen von Wechselschulden zu befürchten.«
»So!« sagte der Fürst. »Sie werden das Gehalt eines halben Jahres für alle Ihre Ämter im voraus ausgezahlt bekommen. Damit werden Sie zweifellos in der Lage sein, die Papiere aus den Händen des betreffenden Wucherers zu bekommen. Außerdem will ich einmal mit Nucingen sprechen. Vielleicht kann er Ihres Vaters Pension wieder frei machen, ohne daß es Ihnen noch meinem Ministerium einen Groschen kostet. Nucingen ist unersättlich. Er will schon wieder ich weiß nicht welche Konzession . . .«
Viktor räumte seiner Mutter, ebenso seiner Schwester und Tante Lisbeth voneinander getrennte Wohnungen in seinem Hause in der Rue Louis-le-Grand ein. Der Baronin war ihr früheres Heim in der Rue Plumet völlig verleidet, so daß sie das Angebot ihres Sohnes gern annahm. Vor den wirtschaftlichen Kleinigkeiten des Lebens blieb sie bewahrt, da Lisbeth die Wirtschaft mit ihrer gewohnten Sparsamkeit und Geschicklichkeit in die Hände nahm. Sie sah hierin ein Mittel, ihre dumpfe Rachsucht auf diesen drei Menschen lasten zu lassen. Nach wie vor war ihr Ziel die Rache, und der Zusammenbruch ihrer Hoffnungen hatte ihren Haß noch geschürt. Einmal im Monat suchte sie Frau Valerie Marneffe auf. Hortense schickte sie, weil sie Neues über Stanislaus erfahren wollte. Nach und nach wurden die Besuche der Tante Lisbeth immer häufiger, wobei sie immer wieder die ihr so erwünschte Wißbegierde ihrer Kusine als Vorwand benützte.
Fast zwei Jahre vergingen. Adelines Gesundheit festigte sich wieder; ihre Nervosität legte sich allerdings nicht. Die Baronin ging ihrer Beschäftigung nach, die ihre trübsinnige Stimmung ableitete.
Während dieser Zeit wurden die Vauvinetschen Wechsel des Barons eingelöst, ebenso wurde seine Pension zum größten Teil wieder frei. Mit den zehntausend Francs Zinsen, die das vom Kriegsministerium zum Familiengut gemachte Kapital von zweihunderttausend Francs einbrachte, deckte Viktor alle Ausgaben von Mutter und Schwester. Abgesehen davon bot das Gehalt der Baronin den beiden Damen im Verein mit der Pension des Barons die Aussicht, fortan auf ein Jahreseinkommen von zwölftausend Francs rechnen zu können. Aber die beständige Sorge um den Verschwundenen, zu der sich der Anblick der verlassenen Tochter und die ihr unter dem Deckmantel der Harmlosigkeit beigebrachten Böswilligkeiten Lisbeths gesellten, ließ sie nicht glücklich werden.
Im Mameffeschen Hause hatten sich zwei bedeutsame Ereignisse vollzogen. Valerie hatte ein nicht lebensfähiges Kind geboren, an dessen Sarg sie um die ihr entgangene Rente von zweitausend Francs trauerte.
Eines Tages war Tante Lisbeth von einem ihrer Erkundigungsbesuche mit folgender Neuigkeit nach Hause gekommen.
»Heute früh hat das gemeine Frauenzimmer den Doktor Bianchon holen lassen, um festzustellen, ob sich der Hausarzt nicht irre, der am Tage vorher erklärt hatte, Mameffes Zustand sei hoffnungslos: Bianchon hat ihr gesagt, ihr Schweinekerl von Mann werde im Laufe des Tages seine Höllenfahrt antreten. Dein Vater, liebe Cölestine, war bei der Konsultation zugegen und hat dem Arzt für die gute Nachricht ein Honorar von hundert Francs in die Hand gedrückt. Als Bianchon fort war, hat Papa Crevel im Salon Cancan getanzt, seine Liebste umarmt und ausgerufen: ›Valerie, nun bist du endlich Frau Crevel!‹ Und zu mir hat dein honetter Vater gesagt: ›Tantchen, wenn Valerie meine Frau ist, werde ich noch Pair von Frankreich! Ich werde mir ein Landgut kaufen; ich habe schon eins in Aussicht, das Gut Prestes, das die jetzige Besitzerin, Frau von Sérizy, verkaufen will. Dann heiße ich Cölestin Crevel von Prestes. Ich werde Mitglied des Bezirksausschusses und Abgeordneter meines Kreises. Dann bekomme ich einen Sohn und besitze endlich alles, was ich mir gewünscht habe!‹ – ›Schön!‹ habe ich ihm darauf entgegnet, ›und Cölestine?‹ – ›Cölestine! Sie ist weniger eine Crevel als eine Hulot! Valerie kann die Sippe nicht ausstehen. Mein Schwiegersohn ist nicht ein einziges Mal hierhergekommen. Er spielt den Pädagogen, den Spartaner, den Puritaner, den Philanthropen! Überdies habe ich meine Tochter bereits abgefunden. Sie hat das gesamte Vermögen meiner verstorbenen Frau und zweihunderttausend Francs dazu bekommen. Ich kann also tun und lassen, was mir gefällt. Ich will abwarten, wie sich Viktor und Cölestine zu meiner Wiederverheiratung stellen. Danach wird sich mein Verhalten ihnen gegenüber richten. Sind sie nett zu ihrer Stief- und Schwiegermutter, na, dann werden wir ja sehen. Ich bin ein ganzer Kerl!‹ – Nein, solche Dummheiten! Und dabei stand er da wie Napoleon auf der Vendôme-Säule!«
Die vom Code Napoleon vorgeschriebenen zehn Monate Witwenstand waren nunmehr abgelaufen und das Gut Prestes gekauft. Viktor und Cölestine schickten Tante Lisbeth von neuem zu Frau Marneffe, um über die Hochzeit der hübschen Witwe mit dem Bürgermeister Neues auszukundschaften.