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Der verstorbne Marquis von Cinq-Cygne hatte seine Ersparnisse sowie die seiner Eltern dazu verwandt, ein prachtvolles Stadthaus in der Rue du Faubourg du Roule zu erwerben, das er in das beträchtliche, zur Erhaltung seiner Pairswürde begründete Majorat einbezog. Die schmutzige Sparsamkeit des Marquis und seiner Verwandten, die Laurence oft Kummer machte, fand darin ihre Erklärung. Und so verbrachte die Marquise, die auf ihrem Landgut lebte, um für ihre Kinder zu sparen, seit dieser Erwerbung ihre Winter um so lieber in Paris, als ihre Tochter Bertha und ihr Sohn Paul in ein Alter kamen, wo ihre Erziehung die Pariser Hilfsmittel erforderte. Frau von Cinq-Cygne ging wenig in Gesellschaft. Ihrem Gatten war der Gram, der im Herzen dieser Frau wohnte, nicht unbekannt geblieben, aber er entwickelte das geistvollste Zartgefühl für sie und starb, nachdem er sie allein auf Erden geliebt hatte. Dies edle, eine Zeitlang verkannte Herz, dem aber die hochherzige Tochter der Cinq-Cygnes in den letzten Jahren alle Liebe, die sie empfing, erwiderte, dieser Gatte wurde schließlich völlig glücklich. Laurence lebte vor allem im Familienglück. Keine Dame in Paris wurde von ihren Freunden mehr geliebt und geachtet. Sie zu besuchen, ist eine Ehre. Sanft, nachsichtig, geistreich und vor allem einfach, gefällt sie den erlesenen Seelen und zieht sie trotz ihrer schmerzvollen Haltung an, und dies Gefühl eines heimlichen Inschutznehmens erklärt vielleicht die Reize ihrer Freundschaft. Ihr Leben, das in ihrer Jugend so kummervoll war, ist am Lebensabend heiter und schön. Man kennt ihr Leiden. Niemand hat sie nach dem Urbild des Porträts von Robert Lefebvre gefragt, das seit dem Tode des Verwalters den düsteren Hauptschmuck ihres Salons bildet. Laurences Gesichtsausdruck hat die Reife spät gediehener Früchte. Eine Art religiösen Stolzes ziert heute ihre vielgeprüfte Stirn. Zu der Zeit, da die Marquise ein Haus zu machen begann, belief sich ihr Vermögen, durch das Entschädigungsgesetz vermehrt, auf zweihunderttausend Franken Einkommen, Laurence hatte die von den Simeuses hinterlassenen achthunderttausend Franken geerbt. Seitdem gab sie jährlich hunderttausend Franken aus und legte den Rest als Mitgift für Bertha zurück.
Bertha ist das lebende Ebenbild ihrer Mutter, aber ohne kriegerische Keckheit; sie ist fein und geistvoll wie ihre Mutter, aber »mehr Frau«, wie diese schwermütig sagt. Die Marquise wollte ihre Tochter nicht vor dem zwanzigsten Jahre verheiraten. Die Ersparnisse der Familie, die der alte Hauteserre weise verwaltete und die er 1830 in Staatspapieren anlegte, als diese fielen, bildeten eine Mitgift von etwa achtzigtausend Franken Einkommen, als Bertha 1833 zwanzigjährig wurde.
Damals hatte die Prinzessin von Cadignan, die ihren Sohn, den Herzog von Maufrigneuse, verheiraten wollte, seit ein paar Monaten eine Freundschaft zwischen ihm und der Marquise von Cinq-Cygne angeknüpft. Georges von Maufrigneuse speiste dreimal wöchentlich bei der Marquise von Cinq-Cygne, begleitete Mutter und Tochter ins italienische Theater und ritt im Bois neben ihrem Wagen, wenn sie spazierenfuhren. Seitdem war es für die Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain offenbar, daß Georges Bertha liebte. Nur konnte niemand wissen, ob Frau von Cinq-Cygne den Wunsch hegte, ihre Tochter zur Herzogin zu machen, in Erwartung des Tages, wo sie Prinzessin wurde, oder ob die Prinzessin für ihren Sohn eine so schöne Mitgift wünschte, ob die berühmte Diana dem Provinzadel entgegen kam, oder ob der Provinzadel sich vor der Berühmtheit der Frau von Cadignan, ihren Neigungen und ihrem verschwenderischen Leben fürchtete. In dem Wunsche, ihrem Sohne nicht zu schaden, hatte die Prinzessin, die fromm geworden war, ihr Leben in ihre vier Wände eingeschlossen und verbrachte die schöne Jahreszeit in einer Villa in Genf.
Eines Abends hatte die Prinzessin von Cadignan die Marquise d'Espard und den Präsidenten des Staatsrates, de Marsay, bei sich. Sie sah den ehemaligen Liebhaber an jenem Abend zum letzten Male, denn er starb im folgenden Jahre. Rastignac, der Unterstaatssekretär in Marsays Ministerium war, zwei Gesandte, zwei berühmte Redner, die der Pairskammer verblieben waren, die alten Herzöge von Lenoncourt und von Navarreins, Graf von Vandenesse und seine junge Gattin sowie d'Arthez fanden sich dort zusammen und bildeten einen ziemlich wunderlichen Kreis, dessen Zusammensetzung leicht erklärlich ist: galt es doch, vom Premierminister einen Passierschein für den Prinzen von Cadignan zu erhalten. De Marsay, der diese Verantwortung nicht auf sich nehmen wollte, kam, um der Prinzessin zu sagen, daß die Sache in guten Händen wäre. Ein alter Politiker sollte ihr während des Abends die Lösung bringen. Die Marquise und Fräulein von Cinq-Cygne wurden gemeldet. Laurence, deren Grundsätze unbeugsam waren, war nicht erstaunt, sondern empört, als sie die erlauchtesten Vertreter der Legimität in beiden Kammern mit dem Premierminister des Mannes plaudern sah, den sie stets nur den Herrn Herzog von Orleans nannte. Sie hörten ihm zu und lachten mit ihm. De Marsay strahlte wie erlöschende Lampen im letzten Glanze. Hier vergaß er die politischen Sorgen gern. Die Marquise von Cinq-Cygne ließ de Marsay gelten, ganz wie man sagt, daß der österreichische Hof damals Herrn von Saint-Aulaire gelten ließ: der Weltmann setzte über den Minister hinweg. Aber sie fuhr hoch, als wäre der Lehnstuhl von glühendem Eisen gewesen, als der Herr Graf von Gondreville gemeldet wurde.
»Leben Sie wohl, Gnädigste«, sagte sie trocknen Tones zu der Prinzessin.
Sie ging mit Bertha fort und berechnete die Richtung ihrer Schritte, um diesem verhängnisvollen Menschen nicht zu begegnen.
»Sie haben vielleicht Georges' Heirat zum Scheitern gebracht«, sagte die Prinzessin leise zu de Marsay.
Der frühere Schreiber aus Arcis, der frühere Volksvertreter, Thermidormann, Tribun und Staatsrat, der frühere Graf des Kaiserreichs und Senator, der frühere Pair von Frankreich unter Ludwig XVIII. und neue Pair der Julimonarchie, machte der Prinzessin von Cadignan eine servile Verbeugung.
»Zittern Sie nicht mehr, schöne Dame, wir führen keinen Krieg mit den Prinzen«, sagte er und nahm neben ihr Platz.
Malin hatte die Achtung Ludwigs XVIII. genossen, dem seine gereifte Erfahrung nicht unnützlich war. Er hatte viel zum Sturze von Decazes beigetragen und stark zu dem Ministerium Villèle geraten. Von Karl X. kühl aufgenommen, hatte er sich Talleyrands Groll zu eigen gemacht. Damals stand er in großer Gunst bei der zwölften Regierung, der er seit 1789 zu dienen den Vorzug hatte und der er zweifellos schlechte Dienste leisten wird, aber seit fünfviertel Jahren hatte er die Freundschaft abgebrochen, die ihn seit sechsunddreißig Jahren mit dem berühmtesten Diplomaten Frankreichs verband. An jenem Abend ließ er über diesen großen Staatsmann das Wort fallen:
»Kennen Sie den Grund seiner Feindschaft gegen den Herzog von Burgund? . . . Der Prätendent ist zu jung.«
»Da geben Sie den jungen Leuten einen eigentümlichen Rat«, entgegnete Rastignac.
De Marsay, der seit der Bemerkung der Prinzessin sehr nachdenklich geworden war, ging auf diese Scherze nicht ein. Er blickte Gondreville heimtückisch an und wartete offenbar auf den Aufbruch des Greises, der früh zu Bette ging, bevor er das Wort ergriff. Alle Anwesenden, die Zeugen des Fortgehens der Marquise von Cinq-Cygne gewesen waren und dessen Grund kannten, ahmten de Marsays Schweigen nach. Gondreville, der die Marquise nicht erkannt hatte, verstand die Gründe dieser allgemeinen Zurückhaltung nicht, aber seine Geschäftsgewandtheit und die politischen Sitten hatten ihm Takt beigebracht; zudem war er ein Mann von Geist. Er glaubte, daß seine Anwesenheit lästig fiel, und empfahl sich. De Marsay, der am Kamin stand, betrachtete diesen langsam davongehenden siebzigjährigen Greis in einer Weise, die ernste Gedanken erraten ließ.
»Es war falsch von mir, Gnädigste, daß ich Ihnen meinen Unterhändler nicht genannt habe«, sagte der Premierminister schließlich, als er das Rollen des Wagens hörte. »Aber ich will meinen Fehler wieder gutmachen und Ihnen das Mittel geben, sich mit den Cinq-Cygnes auszusöhnen. Die Sache spielte vor mehr als dreißig Jahren; sie ist ebenso alt wie der Tod Heinrichs IV., der – unter uns gesagt – trotz des Sprichworts wie viele andere geschichtliche Katastrophen zu der unbekanntesten Geschichte gehört. Übrigens schwöre ich Ihnen, auch wenn diese Sache die Marquise nichts anginge, wäre sie darum nicht minder merkwürdig. Kurz, sie beleuchtet einen in unseren modernen Annalen berühmten Übergang: den über den Sankt Bernhard. Die Herren Gesandten werden daraus ersehen, daß unsere heutigen Politiker in bezug auf die Tiefe recht weit hinter den Machiavellis zurückblieben, die die Volksfluten von 1793 über die Stürme hinaushoben und von denen einige, wie die Ballade sagt, einen Hafen gefunden haben. Um heute in Frankreich etwas darzustellen, muß man von den Orkanen jener Zeit hin und her geworfen worden sein.«
»Aber mir scheint,« lächelte die Prinzessin, »in dieser Hinsicht läßt Ihre jetzige Lage nichts zu wünschen übrig . . .«
Ein dezentes Lachen spielte auf allen Lippen, und selbst de Marsay konnte sich des Lächelns nicht erwehren. Die Gesandten schienen ungeduldig, de Marsay bekam einen Hustenanfall, und alles schwieg.
»In einer Juninacht des Jahres 1800,« sagte der Premierminister, »gegen drei Uhr morgens, in dem Augenblick, da die Lichter im Morgengrauen erblaßten, verließen zwei Männer, die des Bouillottespiels müde waren oder nur gespielt hatten, um die anderen zu beschäftigen, den Salon des Ministeriums des Auswärtigen, das damals in der Rue du Bac lag, und gingen in ein Boudoir. Diese beiden, von denen der eine tot ist und der andere mit einem Fuß im Grabe steht, sind jeder in seiner Weise gleich außerordentlich. Alle beide sind Priester gewesen, und beide sind abtrünnig geworden; beide haben geheiratet. Der eine war simpler Oratorianer, der andere hatte die Bischofsmütze getragen. Der eine hieß Fouché, den Namen des anderen nenne ich Ihnen nicht; aber beide waren damals einfache französische Bürger, freilich sehr wenig einfach. Als sie das Boudoir betraten, zeigten die noch anwesenden Personen etwas Neugier. Ein Dritter folgte ihnen. Der hielt sich für weit stärker als die beiden anderen und hieß Siéyès, und wie Sie alle wissen, war er vor der Revolution gleichfalls ein Mann der Kirche. Der, dem das Gehen schwer wurde, war damals Minister des Auswärtigen; Fouché war Polizeiminister. Siéyès hatte auf das Konsulat verzichtet. Ein kleiner, kalter und strenger Mann verließ seinen Platz und trat zu den drei anderen, wobei er in Gegenwart eines, von dem ich diese Äußerung habe, mit lauter Stimme sagte: ›Ich fürchte das Glücksspiel der Priester.‹ Es war der Kriegsminister. Carnots Wort beunruhigte die beiden Konsuln nicht, die in dem Salon spielten. Cambacérès und Lebrun waren damals in der Gewalt ihrer Minister, die ungleich stärker waren als sie. Fast alle diese Staatsmänner sind tot; man ist ihnen nichts mehr schuldig. Sie gehören der Geschichte an, und die Geschichte jener Nacht war furchtbar. Ich erzähle sie Ihnen, denn ich kenne sie allein, weil Ludwig XVIII. sie der armen Frau von Cinq-Cygne nicht erzählt hat und es der jetzigen Regierung einerlei ist, ob sie sie erfährt. Alle vier setzten sich. Der Hinkende mußte die Tür schließen, bevor ein Wort fiel; er soll sogar den Riegel vorgeschoben haben. Nur wohlerzogene Leute nehmen solche kleine Rücksichten. Die drei Priester hatten die bleichen und unbeweglichen Gesichter, die Sie bei ihnen kannten. Nur Carnot hatte frische Farben. Und der Soldat sprach auch zuerst:
›Um was handelt es sich?‹
›Um Frankreich‹, dürfte der Fürst gesagt haben, den ich als einen der außerordentlichsten Männer unserer Zeit bewundere.
›Um die Republik‹, hat sicherlich Fouché gesagt.
›Um die Macht‹, war wahrscheinlich Siéyès' Wort.«
Alle Anwesenden blickten sich an. De Marsay hatte die drei Männer mit Stimme, Blick und Gebärde ausgezeichnet geschildert.
»Die drei Priester verstanden sich wundervoll«, fuhr er fort. »Carnot blickte zweifellos seine Kollegen und den Exkonsul mit würdiger Miene an. Ich glaube, er muß innerlich verdutzt gewesen sein.
›Glauben Sie an den Erfolg?‹ fragte Siéyès.
›Von Bonaparte kann man alles erwarten‹, entgegnete der Kriegsminister. ›Er hat glücklich die Alpen überschritten.‹
›In diesem Augenblick‹, sagte der Diplomat mit berechneter Langsamkeit, ›spielt er ums Ganze.‹
›Nun, sagen wir es offen,‹ versetzte Fouché, ›was werden wir tun, wenn der Erste Konsul besiegt wird? Ist es möglich, noch ein Heer auf die Beine zu bringen? Sollen wir seine ergebenen Diener bleiben?‹
›In diesem Augenblick‹, bemerkte Siéyès, ›gibt es keine Republik mehr; er ist für zehn Jahre Konsul.‹
›Er hat mehr Macht, als Cromwell hatte,‹ setzte der Bischof hinzu, ›und er hat nicht für den Tod des Königs gestimmt.‹
›Wir haben einen Herrn‹, sagte Fouché. ›Sollen wir ihn behalten, wenn er die Schlacht verliert, oder sollen wir zur reinen Republik zurückkehren?‹
›Frankreich‹, versetzte Carnot sentenziös, ›kann nur dann Widerstand leisten, wenn es zur Tatkraft des Konvents zurückkehrt.‹
›Ich teile Carnots Meinung‹, sagte Siéyès. ›Kehrt Bonaparte geschlagen zurück, so muß man ihm den Rest geben. Wir haben seit sieben Monaten zuviel von ihm zu hören gekriegt.‹
›Er hat das Heer!‹ fuhr Carnot nachdenklich fort.
›Wir werden das Volk haben!‹ rief Fouché aus.
›Sie sind rasch, Herr!‹ erwiderte der Grandseigneur mit der Baßstimme, die er behalten hat, und die den Oratorianer nachdenklich machte.
›Seien wir offen,‹ sagte ein altes Konventsmitglied, das seinen Kopf zeigte; ›wenn Bonaparte siegt, werden wir ihn anbeten; unterliegt er, so werden wir ihn begraben.‹
›Sie waren da, Malin!‹ sagte der Hausherr, ohne sich aufzuregen. ›Sie werden einer der Unseren sein.‹
Er winkte ihm, Platz zu nehmen. Diesem Umstand verdankte jener Mann, ein ziemlich obskures Konventsmitglied, daß er das ist, was wir noch eben gesehen haben. Malin war verschwiegen, und die beiden Minister hielten ihm die Treue, aber er wurde auch zum Drehpunkt der Maschine und zur Seele der ganzen Machenschaft.
›Dieser Mann ist noch nie besiegt worden!‹ rief Carnot mit dem Ausdruck der Überzeugung, ›und eben hat er Hannibal übertroffen.‹
›Im Fall eines Unglücks ist hier das Direktorium‹, fuhr Siéyès sehr listig fort, indem er jeden darauf hinwies, daß sie fünf waren.
›Und‹, sagte der Minister des Auswärtigen, ›wir alle haben an der Erhaltung der französischen Revolution ein Interesse. Wir drei sind aus der Kutte gesprungen; der General hat für den Tod des Königs gestimmt. Was Sie betrifft,‹ sagte er zu Malin, ›Sie haben Güter von Emigranten.‹
›Wir haben alle die gleichen Interessen‹, versetzte Siéyès bestimmt, ›und unsere Interessen decken sich mit denen des Vaterlands.‹
›Etwas Seltenes!‹ lächelte der Diplomat.
›Wir müssen handeln‹, setzte Fouché hinzu. ›Die Schlacht ist im Gange, und Melas hat überlegene Streitkräfte. Genua ist aufgegeben, und Masséna hat den Fehler begangen, sich nach Antibes einzuschiffen. Es ist also nicht sicher, ob er zu Bonaparte stoßen kann, der dann auf seine eigenen Kräfte angewiesen ist.‹
›Woher haben Sie diese Nachricht?‹ fragte Carnot.
›Sie ist sicher‹, entgegnete Fouché. ›Sie werden die Meldung zur Börsenstunde haben.‹
›Die machten keine Umstände‹, sagte de Marsay lächelnd und hielt einen Augenblick inne.
›Nun können wir aber‹, sagte Fouché, ›erst bei Eintreffen der Unglücksbotschaft die Klubs organisieren, den Patriotismus wecken und die Verfassung ändern. Unser achtzehnter Brumaire muß vorbereitet sein.‹
›Überlassen wir das dem Polizeiminister,‹ sagte der Diplomat, ›und mißtrauen wir Lucian.‹ (Lucian Bonaparte war damals Minister des Innern.)
›Den werde ich verhaften‹, sagte Fouché.
›Meine Herren,‹ rief Siéyès aus, ›unser Direktorium soll keinen anarchistischen Umwälzungen mehr unterworfen sein. Wir organisieren eine oligarchische Gewalt, einen Senat auf Lebenszeit, eine gewählte Kammer, die in unsrer Hand sein wird . . . Denn wir wollen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.‹
›Bei diesem System werde ich Frieden kriegen‹, sagte der Bischof.
›Machen Sie mir einen sichren Mann ausfindig, um mit Moreau in Verbindung zu treten, denn das Heer in Deutschland wird unsere einzige Stütze werden!‹ rief Carnot, der in tiefes Nachsinnen verloren blieb.
Fürwahr,« fuhr de Marsay nach einer Pause fort, »die Leute hatten recht, meine Herren! Sie waren in dieser Krise groß, und ich hätte es wie sie gemacht.
›Meine Herren!‹ rief Siéyès in ernstem und feierlichem Tone,« fuhr Marsay in seiner Erzählung fort.
»Dies Wort ›meine Herren‹ wurde vollkommen verstanden. Alle Blicke drückten das gleiche Gelübde aus, das gleiche Versprechen unbedingten Schweigens und völliger Solidarität, falls Bonaparte als Sieger zurückkehrte.
›Wir alle wissen, was wir zu tun haben‹, setzte Fouché hinzu.
Siéyès hatte ganz sacht den Riegel zurückgeschoben; sein Priesterohr hatte ihn nicht getäuscht. Lucian trat ein.
›Gute Nachricht, meine Herren! Ein Kurier bringt Frau Bonaparte ein Briefchen vom Ersten Konsul: Er hat mit einem Siege bei Montebello begonnen.‹
Die drei Minister blickten sich an.
›Ist es eine allgemeine Schlacht?‹ fragte Carnot.
›Nein, ein Gefecht, in dem Lannes sich mit Ruhm bedeckt hat. Das Treffen war blutig. Er wurde mit zehntausend Mann von achtzehntausend angegriffen und ist durch eine ihm zu Hilfe geschickte Division gerettet worden. Ott ist auf der Flucht. Kurz, Melas' Operationslinie ist durchbrochen.‹
›Wann fand der Kampf statt?‹ fragte Garnot.
›Am achten‹, entgegnete Lucian.
›Wir haben heut den dreizehnten‹, fuhr der kluge Minister fort. ›Wohlan, allem Anschein nach wird Frankreichs Schicksal in diesem Augenblick, wo wir plaudern, entschieden.‹ (In der Tat begann die Schlacht bei Marengo am vierzehnten Juni in der Morgendämmerung.)
›Vier Tage tödlichen Wartens‹, sagte Lucian.
›Tödlich?‹ wiederholte der Minister des Auswärtigen kalt und mit fragender Miene.
›Vier Tage‹, sagte Fouché.
Ein Augenzeuge hat mir bestätigt, daß die beiden Konsuln diese Einzelheiten erst in dem Augenblick erfuhren, als die sechs Personen wieder in den Salon traten. Es war um vier Uhr Morgens. Fouché brach zuerst auf. Folgendes tat mit höllischer und stummer Tatkraft dies finstere, tiefe, außerordentliche, wenig bekannte Genie, das aber ganz gewiß dem Genie Philipps II., Tiberius' und Caesar Borgias gleichwertig war. Sein Benehmen bei der Affäre von Walcheren war das eines erfahrenen Soldaten, eines großen Staatsmannes und eines vorausschauenden Verwaltungsmannes. Er war der einzige Minister, den Napoleon hatte. Sie wissen, daß er damals Napoleon ängstigte. Fouché, Masséna und der Fürst sind die drei größten Männer, die stärksten Köpfe in der Diplomatie, im Krieg und in der Regierung, die ich kenne. Hätte Napoleon sie offen an seinem Werke beteiligt, es gäbe kein Europa mehr, sondern nur ein französisches Riesenreich. Fouché hat sich von Napoleon erst abgewandt, als er Siéyès und den Fürsten von Talleyrand beiseite geschoben sah. Binnen drei Tagen organisierte Fouché die allgemeine Angst, die auf ganz Frankreich lastete und die republikanische Tatkraft von 1793 wieder belebte. Dabei verbarg er die Hand, die die Asche dieses Feuers schürte.
Da dieser dunkle Winkel unserer Geschichte aufgehellt werden muß, will ich Ihnen sagen, daß diese von ihm ausgegangene Agitation – denn er hielt alle Fäden der früheren Bergpartei in Händen – die republikanischen Verschwörungen hervorrief, die das Leben des Ersten Konsuls nach seinem Siege bei Marengo bedrohten. Das Bewußtsein des Unheils, das er angerichtet hatte, gab ihm die Kraft, Bonaparte trotz dessen gegenteiliger Meinung klarzumachen, daß die Republikaner mehr an diesen Unternehmungen beteiligt seien als die Royalisten. Fouché war ein wunderbarer Menschenkenner; er zählte auf Siéyès, weil dessen Ehrgeiz getäuscht war, auf Talleyrand, weil er ein vornehmer Herr war, auf Carnot wegen seiner tiefen Ehrlichkeit; aber er fürchtete den Mann von heute Abend, und folgendermaßen wickelte er ihn ein. Damals war es bloß Malin, Malin, der mit Ludwig XVIII. im Briefverkehr stand. Der Polizeiminister zwang ihn, die Proklamationen der revolutionären Regierung zu verfassen, ihre Akte, ihre Erlasse, die Ächtung der Parteigänger des achtzehnten Brumaire. Mehr noch, dieser Mitschuldige wider Willen ließ sie in der nötigen Anzahl drucken und hielt sie in Ballen in seinem Hause bereit. Der Drucker wurde als Verschwörer verhaftet, denn man suchte sich einen revolutionären Buchdrucker aus, und die Polizei ließ ihn erst nach zwei Monaten wieder frei. Dieser Mann ist 1816 gestorben; er glaubte noch an eine Verschwörung der Bergpartei. Eine der merkwürdigsten Szenen, die Fouchés Polizei gespielt hat, ist unweigerlich die, welche der erste, bei dem berühmtesten Bankier jener Zeit eingetroffene Kurier hervorrief, der den Verlust der Schlacht bei Marengo meldete. Das Glück erklärte sich, wie Sie wissen, erst um sieben Uhr abends für Napoleon. Gegen Mittag hielt der Agent, den der damalige Finanzkönig auf den Kriegsschauplatz geschickt hatte, die französische Armee für vernichtet und schickte schleunigst einen Kurier ab. Der Polizeiminister ließ die Anhefter der öffentlichen Anschläge und die Ausrufer holen, und einer seiner Vertrauten kam mit einem Rollwagen an, der mit den Drucksachen beladen war, als der Kurier vom Abend, der sich außerordentlich beeilt hatte, die Siegesnachricht brachte, die Frankreich in einen wahren Taumel versetzte. An der Börse gab es große Verluste. Die Ansammlung der Anschläger und Ausrufer, die die Ächtung, den politischen Tod Bonapartes verkünden sollten, wurde in Schach gehalten und man wartete, bis die Proklamation und das Plakat gedruckt waren, worin der Sieg des Ersten Konsuls in den Himmel gehoben wurde. Malin, auf den die ganze Verantwortung für das Komplott fallen konnte, erschrak derart, daß er die Ballen auf Karren lud und sie bei Nacht nach Gondreville schaffte, wo er diese unheilvollen Papiere zweifellos in den Kellern seines Schlosses begrub, das er unter dem Namen eines Mannes . . . er hat ihn zum Präsidenten eines Kaiserlichen Gerichtshofes gemacht . . . er hieß Marion . . . gekauft hatte! Dann kehrte er rechtzeitig nach Paris zurück, um den Ersten Konsul zu beglückwünschen. Wie Sie wissen, eilte Napoleon nach der Schlacht bei Marengo mit furchtbarer Schnelligkeit von Italien nach Frankreich, aber für die, welche die geheime Geschichte jener Zeit gründlich kennen, steht es fest, daß die Ursache seiner Schnelligkeit eine Botschaft Lucians war. Der Minister des Innern hatte die Haltung der Bergpartei halb erkannt und fürchtete das Gewitter, ohne zu wissen, woher der Wind blies. Napoleon, der die drei Minister nicht beargwöhnen konnte, schrieb diese Bewegung dem Haß zu, den sein Bruder am achtzehnten Brumaire erregt hatte, sowie dem festen Glauben der von 1793 Übriggebliebenen an eine unabänderliche Niederlage in Italien. Die Rufe in Saint-Cloud: ›Tod dem Tyrannen!‹ hallten noch immer in Lucians Ohr. Die Schlacht bei Marengo hielt Napoleon bis zum 25. Juni auf den Schlachtfeldern der Lombardei zurück; am 2. Juli kam er in Frankreich an. Nun stelle man sich die Gesichter der fünf Verschwörer vor, als sie den Ersten Konsul in den Tuilerien zu seinem Siege beglückwünschten. Fouché sagte im Salon selbst zu dem Tribunen – denn dieser Malin, den Sie vorhin sahen, hat auch etwas den Tribunen gespielt –, er solle noch abwarten, es sei noch nicht alles zu Ende. In der Tat schien es Herrn von Talleyrand und Fouché nicht, als sei Bonaparte mit der Revolution so eng verschwistert wie sie selbst, und zu ihrer eignen Sicherheit ketteten sie ihn durch die Erschießung des Herzogs von Enghien daran fest. Die Hinrichtung des Herzogs hängt durch greifbare Verästelungen mit dem zusammen, was während des Marengofeldzuges im Ministerium des Auswärtigen angesponnen worden war. Heute ist es sicherlich klar für jeden, der gut unterrichtete Leute gekannt hat, daß Bonaparte von Herrn von Talleyrand und von Fouché wie ein Kind gegängelt worden ist. Sie wollten ihn unwiderruflich mit dem Hause Bourbon entzweien, dessen Abgesandte damals Versuche beim Ersten Konsul machten.«
»Als Talleyrand seine Whistpartie bei der Herzogin von Luynes spielte,« sagte einer der Zuhörer, »zog er um drei Uhr Morgens seine Uhr, unterbrach das Spiel und fragte seine drei Mitspieler plötzlich und ohne Übergang, ob der Prinz von Condé noch andre Kinder hätte als den Herzog von Enghien. Eine so wunderliche Frage aus dem Munde des Herrn von Talleyrand erregte größte Überraschung.
›Warum fragen Sie uns nach etwas, was Sie so genau wissen?‹ fragte man ihn. ›Um Ihnen mitzuteilen, daß das Haus Condé in diesem Augenblicke erlischt.‹ Nun war Herr von Talleyrand seit Beginn des Abends im Hause Luynes' und wußte zweifellos, daß Bonaparte außerstande war, den Herzog zu begnadigen.«
»Aber,« sagte Rastignac zu de Marsay, »ich sehe bei alledem nichts von Frau von Cinq-Cygne.«
»Ach, Sie waren noch so jung, mein Lieber, daß ich den Schluß vergaß. Sie kennen die Geschichte der Entführung des Grafen von Gondreville, die den Tod der beiden Simeuses und des älteren Bruders Hauteserre zur Folge gehabt hat. Der jüngere wurde durch seine Heirat mit Fräulein von Cinq-Cygne Graf und später Marquis von Cinq-Cygne . . .«
Da mehrere Personen, denen die Abenteuer unbekannt waren, de Marsay darum baten, erzählte er den Prozeß und sagte, die fünf Unbekannten seien Schnapphähne der politischen Polizei des Kaiserreichs gewesen, die den Auftrag hatten, Drucksachenballen zu vernichten, zu deren Verbrennung der Graf von Gondreville eigens gekommen war, als er das Kaiserreich für befestigt hielt.
»Ich habe Fouché im Verdacht,« sagte er, »daß er dort zugleich nach Beweisen für den Briefwechsel zwischen Gondreville und Ludwig XVIII. hat suchen lassen, mit dem er stets im Einvernehmen stand, selbst zur Schreckenszeit. Aber in dieser furchtbaren Sache hat von Seiten des Hauptagenten, der noch lebt, Leidenschaft mitgespielt. Er gehört zu den großen Handlangern, die sich nie ersetzen lassen, und hat sich durch erstaunliche Kraftproben hervorgetan. Anscheinend hat Fräulein von Cinq-Cygne ihn schlecht behandelt, als er zur Verhaftung der Simeuses erschien. Somit, Gnädigste, besitzen Sie das Geheimnis der Sache. Sie können es der Marquise von Cinq-Cygne erklären und ihr begreiflich machen, warum Ludwig XVIII. Schweigen bewahrt hat.«