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Michu nahm einen Stuhl, setzte sich ruhig ans Feuer und warf einen Brief hinein, den er aus einer jener Blechröhren genommen hatte, die die Soldaten zum Aufheben ihrer Papiere benutzen. Bei diesem Vorgang atmete Martha wie von Zentnerlast befreit auf, und Violette wurde sehr neugierig. Der Verwalter legte seine Büchse mit bewundernswerter Kaltblütigkeit auf den Kaminmantel. Marianne und Marthas Mutter spannen beim Licht einer Lampe.
»Vorwärts, Franz, zu Bett!« sagte der Vater. »Willst du wohl in die Klappe!«
Damit faßte er seinen Sohn grob um die Hüften und trug ihn hinaus.
»Geh in den Keller hinunter,« sagte er ihm auf der Treppe ins Ohr, »nimm zwei Flaschen Macon, gieße ein Drittel des Inhalts aus und fülle sie mit dem Kognak nach, der auf dem Flaschenbrett steht. Dann mische eine Flasche Weißwein zur Hälfte mit Kognak. Mach das geschickt und stelle die drei Flaschen auf das leere Faß am Kellereingang. Wenn ich das Fenster öffne, verläßt du den Keller, sattelst mein Pferd, setzt dich drauf und erwartest mich am Bettlerpfahl.«
»Der kleine Schlingel will nie zu Bett gehen«, sagte der Verwalter, als er zurückkam. »Er will es machen wie die Erwachsenen, alles sehen, alles hören, alles wissen. Sie verderben mir meine Leute, Herr Violette.«
»Mein Gott! Mein Gott!« rief Violette, »wer hat Ihnen denn die Zunge gelöst? So viel haben Sie noch nie gesprochen.«
»Meinen Sie, ich ließe mich ausspionieren, ohne es zu merken? Sie stehen nicht auf der richtigen Seite, alter Violette. Wenn Sie, statt denen zu dienen, die mir schaden wollen, für mich wären, so täte ich noch mehr für Sie, als Ihre Pacht zu verlängern . . .«
»Was noch?« fragte der habgierige Bauer und riß die Augen weit auf.
»Ich würde Ihnen billig meinen Besitz verkaufen.«
»Billig ist nichts, wenn man bezahlen muß«, sagte Violette spitz.
»Ich will die Gegend verlassen und ich gebe Ihnen meinen Pachthof Le Mousseau mit Gebäuden, Saatkorn, Vieh für fünfzigtausend Franken.«
»Wirklich?«
»Ist's Ihnen recht so?«
»Das wäre zu überlegen.«
»Wir wollen darüber reden . . . Aber ich verlange eine Anzahlung.«
»Ich habe nichts.«
»Ein Wort.«
»Auch das noch! . . .«
»Sagen Sie mir, wer Sie hergeschickt hat!«
»Ich kam von da zurück, wo ich vorhin war, und ich wollte Ihnen kurz guten Abend sagen.«
»Du kamst zurück – ohne dein Pferd? Hältst du mich für einen Tropf? Du lügst, du kriegst meinen Pachthof nicht.«
»Na also, es war Herr Grévin. Er sagte zu mir: ›Violette, wir brauchen Michu. Geh ihn holen. Ist er nicht da, so warte auf ihn . . .‹ Ich begriff, daß ich heute abend hier bleiben sollte . . .«
»Waren die Pariser Schnapphähne noch auf dem Schloß?«
»Ach, ich weiß nicht recht, aber es waren Leute im Salon.«
»Du sollst meinen Pachthof haben. Machen wir das weitere aus. Frau, geh und hole den Vertragswein. Nimm vom besten Roussillon, dem Wein des früheren Marquis . . . Wir sind keine Kinder. Du findest zwei Flaschen davon auf dem leeren Faß am Eingang und eine Flasche Weißwein.«
»Famos«, sagte Violette, der sich nie betrank. »Trinken wir!«
»Sie haben fünfzigtausend Franken unter den Fliesen Ihres Schlafzimmers, soweit wie das Bett reicht. Die geben Sie mir vierzehn Tage, nachdem der Vertrag bei Grévin abgeschlossen ist . . .«
Violette blickte Michu starr an und wurde kreidebleich.
»Ha, du willst einen alten Jakobiner ausschnüffeln, der die Ehre hatte, Vorsitzender des Klubs in Arcis zu sein, und du meinst, er wird's nicht merken? Ich habe Augen im Kopf, ich habe gesehen, daß deine Fliesen frisch ausgegipst sind, und daraus zog ich den Schluß, daß du sie nicht aufgehoben hast, um Getreide zu säen . . . Prosit!«
Verwirrt trank Violette ein großes Glas Wein, ohne auf die Sorte zu achten. Der Schrecken hatte ihm gleichsam ein glühendes Eisen in den Bauch gestoßen; der Geiz verbrannte dort den Branntwein. Er hätte viel darum gegeben, zu Hause sein zu können, um seinen Schatz anderswo zu verbergen. Die drei Frauen lächelten.
»Ist's Ihnen recht so?« fragte Michu ihn und füllte sein Glas nochmals.
»Gewiß.«
»Dann hast du eine eigne Scholle, alter Halunke!«
Nach einer halben Stunde lebhafter Erörterungen über den Zeitpunkt der Besitzübernahme und die tausend Spitzfindigkeiten, unter denen die Bauern ihre Geschäfte abschließen, unter Beteuerungen, geleerten Weingläsern, Worten voller Versprechungen und Ableugnungen, – unter Ausrufen wie »Nicht möglich!« »Wahrhaftig!« »Mein Wort darauf!« »Was ich dir sage«, »Man soll mir den Hals abschneiden, wenn . . .«, »Dies Glas Wein soll zu Gift werden, wenn ich nicht die reine Wahrheit sage . . .« fiel Violette mit dem Kopf auf den Tisch, nicht berauscht, sondern völlig betrunken. Sobald Michu merkte, daß seine Augen sich trübten, öffnete er das Fenster.
»Wo ist der Schlingel, der Gaucher?« fragte er seine Frau.
»Zu Bett.«
»Du, Marianne,« sagte der Verwalter zu seiner treuen Magd, »geh und stell dich vor seine Tür und bewache ihn. – Du, Mutter, bleibst unten und bewachst mir den Spion da. Sei auf der Hut und öffne nur, wenn Franz ruft. Es geht um Tod und Leben!« setzte er mit tiefer Stimme hinzu. »Für alle, die unter meinem Dach wohnen, habe ich mein Haus heute nacht nicht verlassen: das werdet Ihr auch mit dem Kopf unter dem Fallbeil aussagen. – Geh,« sagte er zu seiner Frau, »geh, Mutter, zieh deine Schuhe an, setze deine Haube auf und zieh ab. Keine Fragen, ich begleite dich.«
Seit dreiviertel Stunden hatte dieser Mann in Blick und Gebärde einen despotischen, unwiderstehlichen Willen, der aus der gemeinsamen, unbekannten Quelle kommt, aus der sowohl die großen Heerführer schöpfen, die auf dem Schlachtfeld die Massen entflammen, wie die großen Redner, die die Versammlungen fortreißen, aber auch, das muß gesagt werden, die großen Verbrecher bei ihren kühnen Streichen. Es ist dann, als ströme vom Kopf ein unbezwinglicher Einfluß aus, dessen Träger das Wort ist, als flöße die Gebärde anderen den Willen des Einen ein. Die drei Frauen wußten sich in einer furchtbaren Krise. Ohne daß es ihnen gesagt worden wäre, ahnten sie es an der Raschheit der Handlungen dieses Mannes, dessen Gesicht funkelte, dessen Stirn redete, dessen Augen wie Sterne glänzten. Mehrmals hatten sie den Schweiß an seinen Haarwurzeln gesehen, mehrmals hatten seine Worte vor Ungeduld und Wut gebebt: Und so gehorchte Martha denn willenlos. Bis an die Zähne bewaffnet, die Flinte über der Schulter, sprang Michu in den Baumgang, von seiner Frau gefolgt, und rasch erreichten sie den Kreuzweg, wo Franz sich im Gestrüpp versteckt hatte.
»Der Kleine hat Verstand«, sagte Michu, als er ihn sah.
Es war sein erstes Wort. Seine Frau und er waren bis dahin gelaufen, ohne ein Wort sprechen zu können.
»Kehre zum Pavillon zurück, versteck dich im dichtesten Baum, beobachte die Felder und den Park«, sagte er zu seinem Sohne. »Wir sind alle zu Bett, machen niemandem auf. Deine Großmutter wacht und wird sich nur rühren, wenn sie dich sprechen hört. Merke dir jedes Wort von mir. Es geht um das Leben deiner Eltern. Die Justiz darf nie erfahren, daß wir die Nacht nicht zu Hause waren!«
Nachdem er diese Worte seinem Sohn ins Ohr geraunt hatte, schlüpfte dieser durch den Wald wie ein Aal durch den Schlamm, und Michu sprach zu seiner Frau:
»Aufs Pferd! Und bitte Gott, daß er mit uns ist. Halte dich gut. Mag das Tier verrecken.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so rannte das Pferd, von zwei Fußstößen Michus getrieben und von seinen starken Knien gepreßt, mit der Schnelligkeit eines Rennpferdes los. Es schien seinen Herrn zu verstehen: in einer Viertelstunde war der Wald durchquert. Ohne vom kürzesten Wege abgewichen zu sein, befand Michu sich an einer Stelle des Waldsaumes, wo die mondbeschienenen Dächer des Schlosses auftauchten. Er band sein Pferd an einen Baum und stieg behend auf den kleinen Hügel, von dem man das Tal von Cinq-Cygne überschaute.
Das Schloß, das Michu und Martha einen Augenblick zusammen anschauten, macht in der Landschaft einen reizvollen Eindruck. Obgleich weder durch Umfang noch Bauart hervorragend, besitzt es ein gewisses archäologisches Interesse. Der alte Bau aus dem fünfzehnten Jahrhundert, auf einer Anhöhe gelegen und von tiefen, breiten und noch gefüllten Wassergräben umgeben, ist aus Feldsteinen und Mörtel errichtet, aber seine Mauern sind sieben Fuß dick. Seine Schlichtheit gemahnt wunderbar an das rauhe, kriegerische Leben der Feudalzeit. Dies wirklich echte Schloß besteht aus zwei dicken rötlichen Türmen, die durch ein langes Wohngebäude mit Steinfenstern getrennt sind, deren grob gearbeitete Kreuze Weinranken gleichen. Die Treppe liegt mitten vor der Außenmauer in einem fünfeckigen Turme mit kleiner Spitzbogenpforte. Das Erdgeschoß, im Innern im Stil Ludwigs XIV. modernisiert, wie auch das erste Stockwerk, wird von ungeheuren Dächern überragt, die von Fenstern mit gemeißelten Giebeln durchbrochen werden. Vor dem Schloß liegt ein weiter Wiesenplan, dessen Bäume vor kurzem gefällt waren. Zu beiden Seiten der Eingangsbrücke liegen zwei Häuschen, die als Gärtnerwohnung dienen, durch ein dürftiges, charakterloses, offenbar modernes Gitter getrennt. Rechts und links von dem Wiesenplan, den eine gepflasterte Straße mitten durchteilt, ziehen sich die Pferde- und Kuhställe, die Scheunen, die Holzschuppen, das Backhaus, die Hühnerställe und Gesindewohnungen hin, offenbar in den Überresten zweier Flügel untergebracht, die dem jetzigen Schloß ähnlich waren. In früheren Zeiten muß dies Kastell ein Viereck gewesen sein, das an den vier Ecken befestigt und von einem gewaltigen Turm mit gewölbtem Tor verteidigt war, an dessen Fuß sich an der Stelle des Gitters eine Zugbrücke befand. Die beiden dicken Türme, deren kegelförmige Dächer noch nicht abgetragen waren, und der Glockenstuhl des Mittelturmes gaben dem Dache Charakter. Ein paar Schritte davon ragte der spitze Turm der gleichfalls alten Kirche, der mit den Massen dieses Kastells im Einklang stand. Der Mond ließ alle Firste und Dachspitzen leuchten und umspielte sie mit flimmerndem Lichte.
Michu betrachtete diesen alten Herrensitz mit einem Blicke, der die Gedanken seiner Frau umwarf, denn sein Gesicht war ruhiger geworden und zeigte einen Ausdruck von Hoffnung und eine Art Stolz. Dann überschaute er den Gesichtskreis mit einem gewissen Mißtrauen: es mußte gegen neun Uhr sein; der Mondschein fiel auf den Waldrand, und die Anhöhe war besonders stark beleuchtet. Dieser Standpunkt schien dem Verwalter gefährlich; er stieg hinab, als fürchtete er, gesehen worden zu sein. Doch kein verdächtiges Geräusch störte den Frieden des schönen Tales, das auf dieser Seite vom Walde von Nodesme umschlossen wurde. Martha, die von dem scharfen Ritt erschöpft war und zitterte, erwartete irgendeine Lösung. Wozu hatte er sie mitgenommen? Zu einer guten Tat oder zu einem Verbrechen?
In diesem Augenblick sagte Michu seiner Frau ins Ohr:
»Du wirst zur Gräfin Cinq-Cygne gehen und sie zu sprechen verlangen. Wenn du sie siehst, bitte sie, beiseite zu kommen. Wenn niemand euch hören kann, wirst du zu ihr sagen: ›Gnädiges Fräulein, das Leben Ihrer beiden Vettern ist in Gefahr, und der Mann, der Ihnen das Wie und Warum erklären wird, wartet.‹ Hat sie Angst, ist sie mißtrauisch, so setze hinzu: ›Sie gehören zur Verschwörung gegen den Ersten Konsul, und die Verschwörung ist entdeckt.‹ Nenne deinen Namen nicht, man mißtraut uns zu sehr.«
Martha Michu hob den Kopf zu ihrem Manne und sprach:
»So dienst du ihnen?«
»Nun, und was weiter?« fragte er stirnrunzelnd, denn er glaubte an einen Vorwurf.
»Du verstehst mich nicht!« rief Martha aus und ergriff Michus breite Hand. Dann fiel sie vor ihm auf die Knie und küßte diese Hand, die sich plötzlich mit Tränen bedeckte.
»Lauf! Weinen kannst du nachher«, sagte er, sie heftig umarmend.
Als er den Schritt seiner Frau nicht mehr hörte, traten dem eisernen Manne Tränen in die Augen. Er hatte Martha wegen der Ansichten ihres Vaters mißtraut, aber die Schönheit ihres schlichten Charakters war ihm plötzlich aufgegangen, wie ihr die Größe des seinen klar wurde. Martha geriet aus der tiefen Demütigung, die die Mißachtung eines Mannes verursacht, dessen Namen man trägt, in das Entzücken, die sein Ruhm bereitet. Der Übergang war so plötzlich, daß sie der Ohnmacht nahe war. Wie sie ihm später erzählte, hatte sie vom Pavillon bis Cinq-Cygne in ihrer Angst und Sorge Blut geschwitzt und einen Augenblick hatte sie sich unter die Engel des Himmels entrückt gefühlt. Er, der sich nicht verstanden fühlte, der das grämliche, schwermütige Wesen seiner Frau für einen Mangel an Liebe hielt, hatte sie sich selbst überlassen und draußen gelebt, seine ganze Zärtlichkeit auf seinen Sohn geworfen, aber nun hatte er im Nu begriffen, was die Tränen dieser Frau bedeuteten: sie verfluchte die Rolle, die ihre Schönheit und der Wille ihres Vaters sie zu spielen zwang. Das Glück hatte in seinen schönsten Flammen für sie geleuchtet, wie ein Blitz im Gewitter. Ja, es mußte ein Blitz sein! Beide dachten an zehn Jahre des Mißverstehens und jeder gab sich allein die Schuld. Michu blieb unbeweglich stehen, den Ellbogen auf der Büchse und die Hand am Kinn, in tiefes Sinnen verloren. In solchen Augenblicken heißt man alle Schmerzen der schmerzlichsten Vergangenheit gut.
Von tausend ähnlichen Gedanken bestürmt, fühlte Martha sich auch noch durch die Gefahr der Simeuses bedrückt, denn sie begriff alles, selbst die Gesichter der beiden Pariser; nur die Büchse war ihr unerklärlich. Wie eine Hirschkuh lief sie dahin und erreichte den Weg nach dem Schloß. Zu ihrer Bestürzung hörte sie hinter sich die Schritte eines Mannes und schrie auf, aber Michus breite Hand schloß ihr den Mund.
»Von dem Hügel aus sah ich in der Ferne das Silber auf den Hutborten glänzen! Geh durch die Bresche des Grabens zwischen dem Damenturm und den Ställen, dann werden die Hunde dich nicht anbellen. Geh in den Garten, ruf die junge Gräfin durchs Fenster; laß ihr Pferd satteln; sage ihr, sie solle es durch die Bresche führen. Ich werde dort sein, sobald ich den Plan der Pariser erforscht und herausgekriegt habe, wie man ihnen entgehen kann.«
Die Gefahr, die wie eine Lawine rollte und der man zuvorkommen mußte, gab Martha Flügel.
Der fränkische Name, den die Cinq-Cygnes und die Chargeboeufs gemeinsam trugen, war Duineff. Cinq-Cygne wurde der Name des jüngeren Zweiges der Chargeboeufs, nachdem fünf Töchter dieses Hauses in Abwesenheit ihres Vaters ein Kastell verteidigt hatten. Alle waren auffallend bleich, und kein Mensch hätte von ihnen ein solches Benehmen erwartet. Einer der ersten Grafen der Champagne wollte durch diesen hübschen Namen die Erinnerung daran verewigen, solange die Familie lebte. Seit jener seltsamen Waffentat waren die Töchter dieses Hauses stolz, aber vielleicht nicht alle bleich. Die letzte, Laurence, war entgegen dem salischen Gesetz die Erbin des Namens, des Wappens und der Lehen. Der König von Frankreich hatte den Lehnsbrief des Grafen der Champagne bestätigt, wonach in dieser Familie die Frau den Adel verleihen und erben sollte. Laurence war also Gräfin von Cinq-Cygne; ihr Gatte mußte ihren Namen und ihr Wappen annehmen, auf dem als Wappenspruch die stolze Antwort stand, die die älteste der fünf Schwestern auf die Aufforderung zur Übergabe des Schlosses gab: »Singend sterben!« Dieser schönen Heldinnen würdig, hatte Laurence eine so weiße Haut, als hätte der Zufall eine Wette gemacht. Die geringsten Verästelungen ihrer blauen Adern schimmerten durch das feine und feste Hautgewebe hindurch. Ihr Haar vom schönsten Blond stimmte wunderbar zu ihren tiefblauen Augen. Alles an ihr war zierlich. Doch in ihrem schmächtigen Körper lebte trotz ihres schlanken Wuchses und ihrer milchweißen Haut eine Seele, so gehärtet wie die des charakterfestesten Mannes. Aber erraten hätte sie niemand, auch kein Beobachter, beim Anblick ihres sanften Ausdrucks und ihrer Gesichtsform, deren Profil eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Kopf eines Schafes hatte. Diese übermäßige, wenn auch vornehme Sanftheit schien bis zur Blödigkeit eines Lammes zu gehen. »Ich sehe aus wie ein träumendes Schaf«, sagte sie bisweilen lächelnd. Laurence, die wenig sprach, schien nicht sowohl nachdenklich als verschlafen. Entstand jedoch eine ernste Lage, so offenbarte sich sofort die verborgene Judith und sie wurde erhaben, und an solchen Lagen hatte es ihr leider nicht gefehlt.
Mit dreizehn Jahren stand Laurence nach den schon bekannten Ereignissen als Waise auf der Stätte, an der sich tags zuvor in Troyes eines der eigenartigsten Häuser im Baustil des sechzehnten Jahrhunderts erhoben hatte: das Hotel Cinq-Cygne. Herr von Hauteserre, einer ihrer Verwandten, der ihr Vormund geworden war, brachte die Erbin sofort aufs Land. Dieser wackere Provinzedelmann, durch den Tod seines Bruders, des Abbé von Hauteserre, erschreckt, den eine Kugel in dem Augenblick auf dem Platze traf, als er sich in Bauerntracht retten wollte, war nicht imstande, die Sache seines Mündels zu verteidigen. Er hatte zwei Söhne im Heere der Prinzen, und täglich glaubte er beim geringsten Geräusch, die Munizipalgardisten von Arcis kämen, ihn zu verhaften. Stolz, eine Belagerung bestanden zu haben und die historische weiße Hautfarbe ihrer Vorfahren zu besitzen, verachtete Laurence diese kluge Feigheit des vom Sturm der Zeit gebeugten Greises; sie dachte nur daran, sich hervorzutun. So hängte sie in ihrem armseligen Salon in Cinq-Cygne dreist das Bild der Charlotte Corday auf, mit geflochtenen Eichenzweigen bekränzt. Durch einen besonderen Boten stand sie mit den Zwillingen in Briefwechsel, trotz dem Gesetz, das sie mit dem Tode bestraft hätte. Der Bote, der gleichfalls sein Leben aufs Spiel setzte, brachte die Antworten zurück. Seit den Katastrophen in Troyes lebte Laurence nur noch für den Triumph der königlichen Sache. Nachdem sie Herrn und Frau von Hauteserre richtig eingeschätzt und ihren braven, aber kraftlosen Charakter erkannt hatte, stellte sie sich außerhalb der Gesetze ihrer Sphäre. Laurence besaß zuviel Geist und wirkliche Nachsicht, um ihnen wegen ihres Charakters zu grollen. Sie war gut, liebenswürdig, herzlich gegen sie, gab ihnen aber keins ihrer Geheimnisse preis. Nichts verschließt die Seele so sehr wie beständige Verstellung im Schoß einer Familie. Als Laurence großjährig wurde, überließ sie die Verwaltung ihrer Geschäfte dem guten Hauteserre wie zuvor. Wenn ihre Lieblingsstute gut geputzt, wenn ihre Zofe Katharina nach ihrem Geschmack gekleidet und ihr kleiner Diener Gotthard anständig angezogen war, fragte sie wenig nach dem übrigen, ihr Denken richtete sich auf ein zu hohes Ziel, als daß sie sich zu Beschäftigungen herabließ, die ihr zu anderen Zeiten gewiß gefallen hätten. Die Kleidung bedeutete wenig für sie; zudem waren ihre Vettern ja nicht da. Laurence hatte ein flaschengrünes Reitkleid zum Ausreiten, ein ärmelloses Kleid aus gewöhnlichem Wollstoff mit Schnüren, um zu Fuß auszugehen, und ein seidenes Morgenkleid fürs Haus. Gotthard, ihr kleiner Stallknecht, ein gewandter, kecker Bursche von fünfzehn Jahren, begleitete sie, denn sie war fast stets draußen und jagte auf allen Feldern von Gondreville, ohne daß die Pächter, noch Michu etwas dagegen hatten. Sie ritt ausgezeichnet und war eine wunderbar geschickte Jägerin. In der Gegend hieß sie nur das Fräulein, selbst während der Revolution.
Wer den schönen Roman »Rob Roy« gelesen hat, wird sich eines der seltnen Frauencharaktere erinnern, bei deren Schilderung Walter Scott seine gewohnte Kälte abgelegt hat, nämlich Diana Vernon. Diese Erinnerung kann zum Verständnis Laurences dienen, wenn man zu den Eigenschaften der schottischen Jägerin die verhaltene Begeisterung der Charlotte Corday hinzufügt, aber die liebenswürdige Lebhaftigkeit fortläßt, die Diana so anziehend macht. Die junge Gräfin hatte ihre Mutter sterben, den Abbé von Hauteserre fallen, den Marquis und die Marquise von Simeuse auf dem Schafott enden sehen. Ihr einziger Bruder war seinen Wunden erlegen; ihre beiden Vettern, die in der Armee Condés dienten, konnten jeden Augenblick fallen; schließlich war das Vermögen der Simeuses und der Cinq-Cygnes von der Republik verschlungen worden, ohne der Republik zu nützen. Ihr Ernst, der in anscheinende Stumpfheit ausgeartet war, wird jetzt begreiflich.
Herr von Hauteserre zeigte sich übrigens als Vormund höchst ehrlich und einsichtig. Unter seiner Verwaltung nahm Cinq-Cygne die Gestalt eines Pachthofes an. Der Biedermann, der weit weniger einem Ritter als einen tüchtigen Landwirt glich, hatte den Park und die Gärten, die etwa zweihundert Morgen umfaßten, nutzbringend verwertet. Sie lieferten ihm Futter für die Pferde, Nahrung für die Leute und Brennholz. Dank strengster Sparsamkeit hatte die Gräfin, als sie großjährig wurde, durch Anlage der Einkünfte in Staatspapieren bereits ein hinreichendes Vermögen erlangt. Im Jahre 1798 besaß die Erbin 20 000 Franken in Staatsrenten, deren Zinsen freilich ausstanden, und 12 000 Franken in Cinq-Cygne, dessen Pachtverträge unter beträchtlichen Steigungen erneuert waren. Herr und Frau von Hauteserre hatten sich mit einer Leibrente von 3000 Franken aus der Gesellschaft Lafarge aufs Land zurückgezogen. Diese Trümmer ihres Vermögens erlaubten ihnen nicht, anderswo als in Cinq-Cygne zu leben. Und so war es auch das erste, was Laurence tat, daß sie ihnen den Pavillon, in dem sie wohnten, auf Lebenszeit überließ. Die Hauteserres waren für ihr Mündel ebenso sparsam geworden wie für sich selbst. Sie legten jedes Jahr ihre tausend Thaler in dem Gedanken an ihre Söhne zurück und gaben der Erbin eine dürftige Kost. Die Gesamtausgaben von Cinq-Cygne betrugen jährlich nicht mehr als 5000 Franken. Aber Laurence, die sich um Einzelheiten nicht kümmerte, fand alles gut. Der Vormund und seine Frau standen unvermerkt unter der Herrschaft dieses Charakters, der sich in den kleinsten Dingen geltend machte, und sie waren schließlich dahin gelangt, das junge Mädchen, das sie von klein auf kannten, zu bewundern, ein ziemlich seltnes Gefühl. Aber Laurence hatte in ihrem Wesen, in ihren Kehllauten, ihrem gebieterischen Blick jenes Etwas, jene unerklärliche Macht, die stets imponiert, selbst wenn sie nur scheinbar ist, denn für Dummköpfe gleicht die Leere der Tiefe. Für den großen Haufen ist Tiefe unverständlich. Daher kommt vielleicht die Bewunderung des Volkes für alles, was es nicht versteht.
Herr und Frau von Hauteserre, denen das gewohnte Schweigen der jungen Gräfin und ihr ungeselliges Wesen tiefen Eindruck machte, lebten stets in der Erwartung von etwas Großem. Da Laurence mit klugem Sinn Gutes tat und sich nicht täuschen ließ, gewann sie sich große Achtung bei den Bauern, obwohl sie Aristokratin war. Ihr Geschlecht, ihr Name, ihr Unglück, ihr eigenartiges Leben, alles trug dazu bei, ihr Ansehen bei den Bewohnern des Tales von Cinq-Cygne zu verschaffen. Bisweilen ritt sie, von Gotthard begleitet, für ein bis zwei Tage fort, und bei ihrer Rückkehr fragten die Hauteserres sie nie nach den Gründen ihrer Abwesenheit. Bemerkenswert ist, daß Laurence nichts Wunderliches an sich hatte. Die Virago verbarg sich unter der anscheinend weiblichsten und schwächsten Form. Ihr Herz war von äußerster Empfindsamkeit, aber im Kopfe trug sie männliche Entschlossenheit und stoische Festigkeit. Ihre klarblickenden Augen konnten nicht weinen. Wenn man ihr weißes, zartes Handgelenk mit dem blauen Geäder sah, so hätte niemand geglaubt, daß sie es mit dem des stärksten Reiters aufnehmen konnte. Ihre so weiche, so schlaffe Hand handhabte eine Pistole, eine Flinte mit der Kraft eines geübten Jägers. Draußen trug sie nie eine andre Frisur, als die Frauen sie beim Reiten tragen, dazu ein kokettes Biberhütchen mit herabgelassenem grünen Schleier, und so hatte ihr zartes Gesicht, ihr weißer Hals, um den sich eine schwarze Krawatte schlang, von ihren Ritten in der frischen Luft nie gelitten.
Unter dem Direktorium und zu Beginn des Konsulats hatte Laurence sich derart aufführen können, ohne daß jemand sich um sie kümmerte, aber seit es wieder eine geregelte Regierung gab, versuchten die neuen Behörden, der Präfekt des Departements Aube, Malins Freunde und dieser selbst, sie in Mißachtung zu bringen. Laurence dachte nur an den Sturz Bonapartes, dessen Ehrgeiz und Triumph eine Art Wut bei ihr erregt hatten, aber eine kalte, berechnete Wut. Als heimliche, unbekannte Feindin des ruhmbedeckten Mannes zielte sie aus der Tiefe ihres Tales und ihrer Wälder mit furchtbarer Starrheit auf ihn. Bisweilen wollte sie hingehen und ihn in der Gegend von Saint-Cloud oder Malmaison ermorden. Die Ausführung dieses Anschlages hätte bereits die Übungen und Gewohnheiten ihres Lebens erklärt, aber da sie seit dem Bruch des Friedens von Amiens in die Verschwörung der Männer eingeweiht war, die den 18. Brumaire gegen den Ersten Konsul umkehren wollten, hatte sie seitdem ihre Kraft und ihren Haß dem weitverzweigten und sehr gut geleiteten Plan gewidmet, der Bonaparte von außen her durch die große Koalition Rußlands, Österreichs und Preußens treffen sollte, die er als Kaiser bei Austerlitz besiegte, und im Innern durch die Koalition der verschiedenartigsten Elemente, die ein gemeinsamer Haß verband und von denen manche wie Laurence auf den Tod dieses Mannes sannen, ohne vor dem Worte Mord zurückzuschrecken.
Dies anscheinend so zarte, doch für jeden, der sie kannte, so starke junge Mädchen war also in jenem Augenblick der treue und sichre Führer der Edelleute, die aus Deutschland kamen, um an diesem ersten Angriff teilzunehmen. Fouché fußte auf dieser Mitwirkung der Emigranten jenseits des Rheins, um den Herzog von Enghien in das Komplott zu verwickeln. Die Anwesenheit dieses Prinzen auf badischem Gebiet unweit von Straßburg gab später solchen Annahmen Gewicht. Die große Frage, ob der Herzog wirklich Kenntnis von dem Unternehmen hatte, ob er nach dessen Gelingen nach Frankreich zurückkehren sollte, gehört zu den Geheimnissen, über welche die Prinzen des Hauses Bourbon wie über einige andre tiefstes Schweigen bewahrt haben. In dem Maße, wie die Geschichte jener Zeit verblaßt, werden unparteiische Geschichtsschreiber es zum mindesten unvorsichtig finden, daß der Herzog sich der Grenze in einem Augenblick näherte, wo eine riesige Verschwörung ausbrechen sollte, um deren Geheimnis die ganze königliche Familie sicherlich wußte. Die Vorsicht, die Malin bei seiner Unterredung im Freien mit Grévin angewandt hatte, übte das junge Mädchen bei ihren geringsten Beziehungen. Sie empfing die Sendboten und besprach sich mit ihnen an verschiedenen Rändern des Waldes von Nodesme oder jenseits des Tals von Cinq-Cygne, zwischen Sézanne und Brienne. Oft ritt sie mit Gotthard in einem Zuge fünfzehn französische Meilen weit, und wenn sie nach Cinq-Cygne zurückkehrte, merkte man ihrem frischen Gesicht keine Spur von Ermüdung oder Sorge an. Sie hatte im Gesicht dieses kleinen Kuhhirten, der damals neun Jahre alt war, die naive Bewunderung bemerkt, die Kinder für das Außergewöhnliche hegen, nahm ihn zum Stallknecht und brachte ihm bei, die Pferde mit englischer Sorgfalt und Aufmerksamkeit zu pflegen. Sie erkannte seinen Wunsch, alles gut zu machen, Verstand und das Fehlen jeder Berechnung. Sie stellte seine Treue auf die Probe und fand bei ihm nicht nur Gescheitheit, sondern auch Adel: an Lohn dachte er nicht. Sie pflegte diese noch so junge Seele und war gut zu ihm, gut mit einem Zuge zur Größe. Sie fesselte ihn an sich, indem sie sich an ihn fesselte, seinen halbwilden Charakter selbst schliff, ohne ihm seine Frische und Schlichtheit zu nehmen. Als sie seine fast hündische Treue, die sie gezüchtet, hinreichend erprobt hatte, wurde Gotthard ihr listiger und harmloser Mitschuldiger. Der Bauernjunge, den niemand in Verdacht haben konnte, ritt von Cinq-Cygne bis Nancy und kehrte manchmal zurück, ohne daß jemand wußte, daß er die Gegend verlassen hatte. Alle Listen der Spione waren ihm geläufig. Das außerordentliche Mißtrauen, das seine Herrin ihm eingeimpft hatte, veränderte seine Wesensart in keiner Weise. Gotthard, der zugleich die weibliche Verschlagenheit, die Offenheit eines Kindes und die stets rege Aufmerksamkeit der Verschwörer besaß, verbarg diese wunderbaren Eigenschaften unter der tiefen Unwissenheit und Gleichgültigkeit der Landbewohner. Dieser Bursche schien albern, linkisch und schwach; war er aber einmal am Werke, so war er behend wie ein Fisch und entschlüpfte wie ein Aal. Er verstand wie ein Hund jeden Blick, witterte den Gedanken. Sein gutes, grobes, rundes und rotes Gesicht, seine schläfrigen braunen Augen, seine nach Bauernart geschnittenen Haare, seine Kleidung, sein fast zurückgebliebenes Wachstum gaben ihm das Aussehen eines zehnjährigen Knaben. Unter dem Schutz ihrer Base, die von Straßburg bis Bar-sur-Aube über sie wachte, kamen die Herren von Hauteserre und von Simeuse in Begleitung mehrerer andrer Emigrierter durch Elsaß-Lothringen und die Champagne, während andre, nicht weniger mutige Verschwörer an den Steilufern der Normandie in Frankreich landeten. Als Arbeiter gekleidet, waren die Hauteserres und die Simeuses von Wald zu Wald gezogen, von Ort zu Ort durch Leute geführt, die Laurence seit drei Monaten in jedem Departement unter den Königstreusten und am wenigsten Verdächtigen ausgesucht hatte. Die Emigranten schliefen bei Tage und wanderten bei Nacht. Jeder von ihnen brachte zwei ergebene Soldaten mit, deren einer auf Kundschaft vorausging, während der andere zurückblieb, um im Fall eines Unglücks den Rückzug zu decken. Dank diesen militärischen Vorsichtsmaßregeln hatte das wertvolle Häuflein ungefährdet den Wald von Nodesme erreicht, der zum Treffpunkt bestimmt war. Siebenundzwanzig andere Edelleute kamen aus der Schweiz und durch Burgund; sie wurden unter gleichen Vorsichtsmaßregeln nach Paris geleitet. Herr von Rivière zählte auf fünfhundert Leute, darunter hundert junge Edelleute, die Offiziere dieser heiligen Schar. Die Herren von Rivière und von Polignac, deren Benehmen als Führer äußerst bemerkenswert war, wahrten unverbrüchliches Schweigen über alle diese Mitverschworenen, und so wurden sie nicht entdeckt. Daher kann man heute in Übereinstimmung mit den während der Restaurationszeit erfolgten Enthüllungen sagen, daß Bonaparte den Umfang der Gefahren, in denen er damals schwebte, so wenig kannte wie England die Gefahr, in die es durch das Lager von Boulogne gebracht ward; und doch wurde die Polizei zu keiner Zeit geistvoller und geschickter geleitet.