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Nach einem Zeitraum von vierunddreißig Jahren, während dessen drei große Revolutionen stattgefunden haben, können sich heute allein die alten Leute des unerhörten Aufsehens entsinnen, das die Entführung eines Senators des französischen Kaiserreichs in Europa hervorrief. Kein Prozeß, außer dem Trumeaus, des Krämers von der Place Saint-Etienne, und dem der Witwe Morin unter dem Kaiserreich, den Prozessen Fualdes und Castaing unter der Restauration, denen der Frau Lafarge und Fieschis unter der Regierung Louis Philippes, kam an Spannung und Neugier dem Prozeß der jungen Leute gleich, die der Entführung Malins beschuldigt waren. Ein derartiges Attentat gegen ein Mitglied seines Senats erregte den Zorn des Kaisers, der die Verhaftung der Deliquenten fast gleichzeitig mit der Meldung von dem Delikt und dem negativen Ergebnis der Nachforschungen erfuhr. Der Wald war in seinen Tiefen durchsucht, die Aube und die benachbarten Departements in ihrem ganzen Umfang durchstreift worden, ohne daß sich die geringste Spur vom Durchkommen oder von der Einsperrung des Grafen von Gondreville zeigte. Der zu Napoleon berufene Oberrichter zog Erkundigungen beim Polizeiminister ein und erklärte dem Kaiser dann, in welcher Lage Malin sich gegenüber den Simeuses befand. Der Kaiser, der damals mit ernsten Dingen beschäftigt war, fand die Lösung der Sache in den früheren Vorgängen.
»Diese jungen Leute sind wahnsinnig«, sagte er. »Ein Jurist wie Malin muß doch gewaltsam entrissene Urkunden anfechten. Überwachen Sie diese Adligen, um zu erfahren, wie sie es anstellen werden, um den Grafen von Gondreville freizulassen.«
Er befahl, die größte Geschwindigkeit in dieser Sache zu entfalten, in der er ein Attentat auf seine Einrichtungen sah, ein unheilvolles Beispiel des Widerstandes gegen die Auswirkungen der Revolution, einen Schlag gegen die große Frage der Nationalgüter und ein Hindernis für die Verschmelzung der Parteien, welche die dauernde Sorge seiner inneren Politik war. Schließlich sah er sich auch durch diese jungen Leute hintergangen, die ihm versprochen hatten, sich still zu verhalten.
»Fouchés Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen!« rief er aus, als ihm die Worte einfielen, die seinem jetzigen Polizeiminister vor zwei Jahren entschlüpft waren, wenn auch nur unter dem Eindruck von Corentins Bericht über Laurence.
Unter einer konstitutionellen Regierung, wo niemand sich für eine blinde und stumme, undankbare und kalte Staatseinrichtung interessiert, kann man sich nicht vorstellen, welchen Eifer ein Wort des Kaisers in seinem politischen und Verwaltungsapparat erweckte. Sein mächtiger Wille schien sich den Dingen wie den Menschen mitzuteilen. Nachdem der Kaiser sein Wort gesprochen, vergaß er die Sache, da ihn die Koalition von 1806 überraschte. Er dachte an neue Schlachten, die er liefern wollte, und beschäftigte sich mit der Zusammenziehung seiner Regimenter, um einen großen Schlag ins Herz der preußischen Monarchie zu führen; aber sein Wunsch nach rascher Justiz fand mächtige Förderung in der Ungewißheit, in der die Stellung aller Richter des Kaiserreichs schwebte. Damals arbeiteten Cambacérès als Erzkanzler und der Oberrichter Régnier die Einrichtung der Gerichte erster Instanz, der kaiserlichen Gerichtshöfe und des Kassationshofes aus. Sie erörterten die Frage der Richtertracht, auf die Napoleon mit Recht so großen Wert legte, unterzogen das Personal einer Musterung und suchten nach den Überresten der abgeschafften Parlamentsgerichte. Natürlich glaubten die Richter des Departements Aube, daß Beweise von Eifer in der Entführungsgeschichte des Grafen von Gondreville eine ausgezeichnete Empfehlung für sie sein würden. Napoleons Mutmaßungen wurden also für die Höflinge wie für die große Masse zu Überzeugungen.
Auf dem Festlande herrschte noch Friede, und die Bewunderung für den Kaiser war in Frankreich allgemein. Er schmeichelte den Interessen, den Eitelkeiten, den Personen, den Dingen, kurz allem, selbst den Erinnerungen. Das Unternehmen erschien also jedermann als Attentat auf das öffentliche Wohl. So wurden die armen unschuldigen Edelleute mit allgemeinem Schimpf bedeckt. Die Adligen, die in kleiner Zahl und auf ihre Güter beschränkt waren, beklagten die Sache untereinander, aber keiner wagte den Mund aufzutun. Wie sollte man sich auch der Entfesselung der öffentlichen Meinung widersetzen? Im ganzen Departement wurden die Leichen der elf, im Jahre 1792 durch die Fensterläden des Hotels von Cinq-Cygne erschossenen Personen ausgegraben und gegen die Angeklagten ausgespielt. Man fürchtete, die Emigranten möchten dreist werden und sämtlich Gewaltakte gegen die Käufer ihrer Güter begehen, um deren Rückgabe durch Proteste gegen eine ungerechte Beraubung zu erwirken. So wurden diese edlen Menschen als Räuber, Diebe und Mörder hingestellt, und Michus Mitschuld wurde ihnen besonders verhängnisvoll. Dieser Mann, der mit seinem Schwiegervater alle Köpfe abgeschlagen hatte, die während der Schreckenszeit im Departement gefallen waren, wurde zum Gegenstand der lächerlichsten Märchen. Die Erbitterung war um so lebhafter, als fast alle Beamten der Aube ihre Stellung Malin verdankten. Keine hochherzige Stimme erhob sich, um der öffentlichen Meinung zu widersprechen. Schließlich besaßen die Unglücklichen auch kein gesetzliches Mittel, um die Anklage zu bekämpfen, denn das Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV legte sowohl die Grundlagen der Anklage wie das Urteil in die Hand von Geschworenen und entzog den Angeklagten damit die gewaltige Rechtssicherheit der Berufung bei begründetem Verdacht. Am zweiten Tage nach der Verhaftung wurden die Herren und die Dienerschaft des Schlosses Cinq-Cygne vor die Geschworenen geladen. Cinq-Cygne verblieb unter der Obhut des Pächters und der Aufsicht des Abbé Goujet und seiner Schwester, die ins Schloß übersiedelten. Herr und Frau von Hauteserre bezogen das Häuschen, das Durieu in einer der langen und weitläufigen Vorstädte von Troyes besaß. Laurences Herz krampfte sich zusammen, als sie die Wut der Menge, die Bosheit des Bürgertums und die Feindseligkeit der Verwaltung an mehreren jener kleinen Ereignisse erkannte, die den Verwandten der in eine Strafsache Verwickelten in allen Provinzstädten widerfahren, in denen ihr Prozeß geführt wird. Statt ermutigender und mitleidiger Worte hört man dann Unterhaltungen, aus denen schreckliche Rachbegierden hervorbrechen, Kundgebungen des Hasses statt strenger Höflichkeit oder der vom Anstand gebotenen Zurückhaltung; aber vor allem empfindet man eine Vereinsamung, die gewöhnlichen Menschen sehr nahe geht, und die um so rascher fühlbar wird, als Unglück das Mißtrauen wachruft.
Laurence, die ihre ganze Kraft wiedergewonnen hatte, rechnete auf die Klarheit der Unschuld und verachtete die Menge zu sehr, um über das mißbilligende Schweigen, das man ihr bezeigte, zu erschrecken. Sie stützte den Mut des Herrn und der Frau von Hauteserre und dachte immerfort an die Gerichtsschlacht, die bei der Schnelligkeit des Verfahrens bald vor dem Kriminalgericht stattfinden mußte. Aber sie sollte noch einen Schlag erhalten, auf den sie nicht gefaßt war und der ihren Mut schwächte. Inmitten dieses Unglücks und der allgemeinen Entfesselung, in dem Augenblick, wo diese schwergeprüfte Familie sich wie in einer Wüste sah, wuchs vor Laurences Augen plötzlich ein Mann empor und zeigte die ganze Schönheit seines Charakters. Einen Tag, nachdem die Anklage mit der Bestätigungsformel »Ja, es wird stattgegeben«, die der Obmann der Geschworenen unter die Anklageschrift setzte, dem öffentlichen Ankläger zugestellt und der gegen die Angeklagten erlassene Haftbefehl in eine Verfügung zur Untersuchungshaft verwandelt war, kam der alte Marquis von Chargeboeuf seiner jungen Verwandten in seiner alten Kalesche mutig zu Hilfe. In Voraussehung rascher Justiz hatte sich das Haupt dieser großen Familie schleunigst nach Paris begeben und von dort einen der verschlagensten und ehrlichsten Anwälte der alten Zeit namens Bordin mitgebracht, der in Paris zehn Jahre lang der Rechtsbeistand des Adels wurde und dessen Nachfolger der berühmte Advokat Derville war. Dieser würdige Mann erkor zum Advokaten sofort den Enkel eines früheren Präsidenten des Parlamentsgerichts der Normandie, der die Richterlaufbahn einschlagen wollte und seine Studien unter Bordins Obhut gemacht hatte. Der junge Advokat – um eine abgeschaffte Bezeichnung zu gebrauchen, die der Kaiser alsbald wieder einführen sollte – wurde nach diesem Prozeß tatsächlich zum Vertreter des Generalstaatsanwalts von Paris ernannt und ist einer der berühmtesten französischen Richter geworden. Herr von Granville nahm diese Verteidigung als eine Gelegenheit zu einem glänzenden Anfang an. Damals wurden die Advokaten durch Offizialverteidiger ersetzt. Somit war das Recht der Verteidigung nicht beschränkt: alle Staatsbürger konnten die Sache der Unschuldigen vertreten, aber die Angeklagten nahmen sich nichtsdestoweniger frühere Advokaten als Verteidiger. Der alte Marquis war entsetzt über die Verheerungen, die der Schmerz bei Laurence angerichtet hatte, und benahm sich wunderbar feinfühlig und taktvoll gegen sie. Er erinnerte nicht an seine vergeblichen Ratschläge, stellte Bordin als ein Orakel hin, dessen Weisungen buchstäblich befolgt werden müßten, und den jungen Granville als einen Verteidiger, der volles Vertrauen verdiente.
Laurence reichte dem alten Marquis die Hand und drückte die seine mit einer Lebhaftigkeit, die ihn entzückte.
»Sie hatten recht«, sagte sie.
»Wollen Sie jetzt auf meine Ratschläge hören?« fragte er.
Die junge Gräfin nickte zustimmend, ebenso Herr und Frau von Hauteserre.
»Wohlan, so kommen Sie in mein Haus. Es liegt im Mittelpunkte der Stadt in der Nähe des Gerichts. Sie und Ihre Anwälte werden dort besser aufgehoben sein als hier, wo Sie dicht aufeinandersitzen und viel zu weit vom Schlachtfeld entfernt sind. Sie müßten ja täglich durch die ganze Stadt laufen.«
Laurence nahm es an. Der Greis brachte sie und Frau von Hauteserre in sein Haus, das während der ganzen Dauer des Prozesses der Wohnsitz der Verteidiger und der Bewohner von Cinq-Cygne blieb. Nach der Mahlzeit ließ Bordin sich bei verschlossenen Türen von Laurence genau alle Umstände der Sache erzählen und bat sie, keine Einzelheit fortzulassen, obwohl der Marquis Bordin und dem jungen Verteidiger schon während der Fahrt von Paris nach Troyes einige der früheren Ereignisse erzählt hatte. Die Füße am Kamin hörte Bordin zu, ohne sich irgendwie wichtig zu machen. Der junge Advokat aber konnte sich nicht enthalten, sich in seine Bewunderung für Fräulein von Cinq-Cygne und die Aufmerksamkeit für die Sache zu teilen.
»Ist das wirklich alles?« fragte Bordin, als Laurence die Ereignisse des Dramas so erzählt hatte, wie sie bisher in dieser Geschichte dargestellt sind.
»Ja«, entgegnete sie.
Ein paar Augenblicke herrschte tiefstes Schweigen in dem Salon des Hauses Chargeboeuf, in dem sich diese Szene abspielte, eine der ernstesten, die im Leben stattfinden, und auch eine der seltensten. Jeder Prozeß wird ja von den Advokaten noch vor den Richtern entschieden, ebenso wie die Ärzte den Tod des Kranken vorausahnen, noch ehe der Kampf des letzteren mit der Natur und der ersteren mit der Justiz beginnt. Laurence, Herr und Frau von Hauteserre und der Marquis hatten ihre Blicke auf das alte, dunkelfarbige und von tiefen Pockennarben entstellte Gesicht des alten Anwalts geheftet, der Worte über Leben und Tod sprechen sollte. Herr von Hauteserre wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Laurence blickte den jungen Advokaten an und fand, daß er betrübt dreinschaute.
»Nun, mein lieber Bordin?« sagte der Marquis, ihm seine Tabaksdose reichend, aus der der Anwalt mit zerstreuter Miene nahm.
Bordin rieb sich die Waden, die in groben schwarzen Strümpfen aus Florettseide steckten; denn er trug Kniehosen aus schwarzem Tuch und einen Rock in der Art der sogenannten französischen Röcke. Er warf seinen boshaften Blick auf seine Klienten und gab ihm einen ängstlichen Ausdruck, von dem sie erstarrten.
»Soll ich Ihnen das zergliedern und frei heraus sprechen?« fragte er.
»Nur zu«, sagte Laurence.
»Alles Gute, was Sie getan haben, wird zur Belastung für Sie«, sagte der alte Praktikus. »Man kann Ihre Verwandten nicht retten, sondern nur die Strafe herabsetzen. Ihr Befehl an Michu, seinen Besitz zu verkaufen, wird als der schlagkräftigste Beweis für Ihre verbrecherischen Absichten gegen den Senator gelten. Sie haben Ihre Leute eigens nach Troyes geschickt, um allein zu sein, und das wird um so stichhaltiger sein, als es die Wahrheit ist. Der ältere Hauteserre hat zu Beauvisage ein furchtbares Wort gesagt, das Sie alle zugrunde richtet. Sie haben auf Ihrem Hofe ein anderes Wort gesagt, das Ihre schlimmen Absichten gegen Gondreville lange im voraus bewies. Sie selbst standen im Augenblick des Handstreiches am Gitter auf Posten; wenn Ihnen nicht der Prozeß gemacht wird, so geschieht es, um kein Element der Anteilnahme in die Sache hineinzubringen.«
»Die Sache ist unhaltbar!« rief Herr von Granville aus.
»Sie ist um so unhaltbarer,« fuhr Bordin fort, »als man nicht mehr die Wahrheit sagen kann. Michu, die Herren von Hauteserre und von Simeuse müssen sich auf die bloße Behauptung beschränken, sie wären mit Ihnen einen Teil des Tages im Walde gewesen und zum Frühstück nach Cinq-Cygne gekommen. Aber wenn wir feststellen können, daß Sie alle um drei Uhr dort waren, während das Attentat stattfand, wer sind dann unsere Zeugen? Martha, die Frau eines Angeklagten, die Durieus und Katharina, die in Ihrem Dienst stehen, Herr und Frau von Hauteserre, die Eltern zweier Angeklagten! Diese Zeugen sind wertlos, das Gesetz läßt sie nicht gegen Sie zu, der gesunde Menschenverstand lehnt sie zu Ihren Gunsten ab. Wenn Sie unglücklicherweise sagten, Sie hätten achthunderttausend Franken in Gold aus dem Walde geholt, so brächten Sie alle Angeklagten als Diebe ins Zuchthaus. Öffentlicher Ankläger, Geschworene, Richter, Publikum und ganz Frankreich würden glauben, Sie hätten dies Gold in Gondreville gestohlen und den Senator seiner Freiheit beraubt, um Ihren Handstreich auszuführen. Nimmt man die Anklage, wie sie in diesem Augenblick steht, so liegt die Sache nicht klar; aber in ihrer reinen Wahrheit würde sie durchsichtig: die Geschworenen würden alle Dunkelheiten durch den Diebstahl erklären, denn Royalist sein heißt heute so viel wie Räuber sein! Der vorliegende Fall stellt eine bei der politischen Lage unzulässige Rache dar. Die Angeklagten erleiden die Todesstrafe, aber sie ist nicht in aller Augen entehrend. Mischt man aber den Raub des Geldes hinein, der nie als berechtigt erscheinen wird, so verlieren Sie den Vorteil der Teilnahme, die zum Tode Verurteilten zuteil wird, wenn ihr Verbrechen als entschuldbar erscheint. Im ersten Augenblick, als Sie noch Ihre Verstecke, den Plan des Waldes, die Blechröhren und das Gold vorweisen konnten, um den Nachweis über die Verwendung Ihres Tages zu führen, wäre es noch möglich gewesen, sich vor unparteiischen Richtern herauszuziehen. Aber wie die Dinge jetzt liegen, muß man schweigen. Gott gebe, daß keiner der sechs Angeklagten die Sache verraten hat, aber wir werden sehen, daß wir aus ihren Verhören Nutzen ziehen.« Laurence rang verzweifelt die Hände und blickte trostlos gen Himmel, denn nun erkannte sie die ganze Tiefe des Abgrunds, in den ihre Vettern gestürzt waren. Der Marquis und der junge Verteidiger pflichteten Bordins furchtbarer Rede bei. Der biedere Hauteserre weinte.
»Weshalb hast du nicht auf den Abbé Goujet gehört, der ihnen zur Flucht riet!« rief Frau von Hauteserre erbittert.
»Ach,« rief der alte Anwalt, »wenn Sie sie retten konnten und es nicht taten, so haben Sie sie selbst getötet! Die Verurteilung in Abwesenheit gibt Zeit. Mit der Zeit klären Unschuldige alles auf. Diese Sache scheint mir die dunkelste, die ich je erlebt habe, und doch habe ich so manches entwirrt.«
»Sie ist für jedermann unerklärlich, selbst für uns«, sagte Herr von Granville. »Sind die Angeklagten unschuldig, so ist der Streich von anderen geführt worden. Fünf Personen kommen nicht wie durch Zauberei in eine Gegend, sie verschaffen sich keine Pferde, die wie die der Angeklagten beschlagen sind, machen sich ihnen nicht ähnlich und werfen Malin nicht in eine Grube, lediglich, um Michu und die Herren von Hauteserre und von Simeuse zu verderben. Die Unbekannten, die wahren Schuldigen, hatten irgendein Interesse daran, sich in die Haut der fünf Unschuldigen zu stecken. Um sie aufzufinden, um ihre Spuren zu suchen, müßten wir wie die Regierung ebenso viele Agenten und Augen haben, als es Gemeinden in einem Umkreis von zwanzig Wegstunden gibt . . .«
»Das ist unmöglich«, sagte Bordin. »Daran darf man nicht mal denken. Seit die menschliche Gesellschaft die Justiz erfunden hat, hat sie noch kein Mittel gefunden, um der angeklagten Unschuld die gleiche Macht zu geben, die dem Richter gegen das Verbrechen zu Gebote steht. Die Justiz ist nicht zweiseitig. Die Verteidigung hat weder Spione noch Polizei; sie verfügt zugunsten ihrer Klienten nicht über die Macht der Gesellschaft. Die Unschuld hat nur Vernunftgründe für sich, und diese Vernunftgründe, die den Richtern Eindruck machen können, sind oft ohnmächtig gegen die voreingenommenen Gemüter der Geschworenen. Das ganze Land ist gegen Sie. Die acht Geschworenen, die die Erhebung der Anklage genehmigt haben, waren Besitzer von Nationalgütern. Unter unsern Urteilsgeschworenen werden wir Leute haben, die wie jene Käufer oder Verkäufer von Nationalgütern oder Beamte sind. Kurz, wir werden eine Jury Malin haben! Daher brauchen wir ein vollständiges Verteidigungssystem; daran halten Sie fest, gehen Sie mit Ihrer Unschuld zugrunde. Sie werden verurteilt werden. Wir werden an den Kassationshof gehen und versuchen, die Sache dort hinzuziehen. Kann ich inzwischen Beweise zu Ihren Gunsten beibringen, so werden Sie ein Gnadengesuch einreichen. Das ist die Anatomie der Sache und meine Meinung. Sollten wir obsiegen (denn vor Gericht ist alles möglich), so wäre es ein Wunder, aber Ihr Advokat ist unter allen, die ich kenne, am meisten befähigt, dies Wunder zu vollbringen, und ich werde ihm helfen.«
»Der Senator muß den Schlüssel zu diesem Rätsel haben,« sagte Herr von Granville, »denn man weiß stets, wer einem nicht wohl will, und aus welchem Grunde. Ich sehe ihn gegen Ende des Winters Paris verlassen, allein und ohne Begleitung nach Gondreville kommen, sich dort mit seinem Notar einschließen und sich gewissermaßen fünf Männern ausliefern, die ihn vergewaltigen.«
»Gewiß,« sagte Bordin, »sein Benehmen ist mindestens ebenso außergewöhnlich wie das unsre; aber wie sollten wir angesichts eines gegen uns aufgebrachten Landes aus Angeklagten zu Anklägern werden? Dazu brauchten wir das Wohlwollen und die Unterstützung der Regierung, und tausendmal mehr Beweise als unter gewöhnlichen Umständen. Ich sehe raffiniertesten Vorbedacht bei unseren unbekannten Gegnern, die das Verhältnis Michus und der Herren von Simeuse zu Malin kennen. Nicht reden! Nicht stehlen! Darin liegt Vorsicht. Ich erkenne unter diesen Masken was ganz andres als Bösewichter . . . Aber sagen Sie dergleichen den Geschworenen, die man uns geben wird!«
Dieser Scharfblick in Privatangelegenheiten, der manchen Advokaten und Richter so groß macht, erstaunte und verwirrte Laurence; diese entsetzliche Logik krampfte ihr Herz zusammen.
»Auf hundert Kriminalfälle«, sagte Bordin, »kommen nicht zehn, die die Justiz in ihrem ganzen Umfange aufrollt, und wohl in einem guten Drittel der Fälle bleibt das Geheimnis ihr unbekannt. Ihr Fall gehört zu denen, die für die Angeklagten wie für die Ankläger, für die Justiz wie für das Publikum unentzifferbar bleiben. Der Herrscher aber hat mehr zu tun, als den Herren von Simeuse beizuspringen, selbst wenn sie ihn nicht hätten stürzen wollen. Aber wer zum Teufel hat es auf Malin abgesehen? Und was wollte man von ihm ?«
Bordin und Herr von Granville blickten sich an; sie schienen an Laurences Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Diese Geste war für das junge Mädchen einer der brennendsten unter den tausend Schmerzen dieses Prozesses, und sie warf den Verteidigern einen Blick zu, der bei ihnen jeden schlimmen Verdacht tötete.
Am nächsten Tage wurden die Akten den Verteidigern zugestellt, und diese konnten mit den Angeklagten konferieren. Bordin teilte der Familie mit, daß die sechs sich als brave Leute gut gehalten hätten, um einen Berufsausdruck zu gebrauchen.
»Herr von Granville wird Michu verteidigen«, sagte Bordin.
»Michu? . . .« rief Herr von Chargeboeuf aus, den dieser Wechsel erstaunte.
»Um ihn dreht sich alles, und bei ihm liegt die Gefahr«, entgegnete der alte Anwalt.
»Wenn er am meisten gefährdet ist, scheint es mir recht und billig!« rief Laurence aus.
»Wir erkennen Möglichkeiten,« versetzte Herr von Granville, »und wir wollen sie gründlich studieren. Wenn wir sie retten können, so ist es, weil Herr von Hauteserre zu Michu gesagt hat, er solle einen der Pfosten am Zaun des Hohlweges ausbessern, und weil im Walde ein Wolf gesehen worden ist. Denn vor einem Kriminalgericht hängt alles von den Verhandlungen ab, und die werden sich um Kleinigkeiten drehen, die, wie Sie sehen werden, riesengroß werden.«
Laurence verfiel in die innere Niedergeschlagenheit, die die Seele aller Tatmenschen und Denker quälen muß, wenn die Vergeblichkeit alles Tuns und Denkens ihnen bewiesen wird. Hier ging es nicht mehr darum, mit Hilfe ergebener Leute und fanatischer Sympathien, die in geheimnisvolles Dunkel gehüllt sind, einen Mann oder eine Macht zu stürzen; sie sah die ganze Gesellschaft gegen sich und gegen ihre Vettern bewaffnet. Man stürmt nicht ganz allein ein Gefängnis und befreit keine Gefangenen mitten aus einer feindlichen Bevölkerung und unter den Augen einer Polizei, die durch die angebliche Verwegenheit des Angeklagten wachsam geworden ist. Als daher der junge Verteidiger, erschreckt durch die dumpfe Bestürzung dieses edlen und hochherzigen Mädchens, die durch ihre Gesichtszüge noch stumpfsinniger erschien, ihren Mut zu heben suchte, antwortete sie ihm:
»Ich schweige, ich leide und warte ab . . .«
Tonfall, Gebärde und Blick gaben dieser Antwort eine Erhabenheit, der nur ein großer Schauplatz fehlte, um berühmt zu werden. Nach ein paar Augenblicken sagte der biedere Hauteserre zu dem Marquis von Chargeboeuf:
»Was für Mühe hab' ich mir für meine zwei unglücklichen Kinder gegeben! Ich habe schon fast achthunderttausend Franken in Staatspapieren für sie zusammengebracht. Hätten sie dienen wollen, sie wären in höhere Stellungen gekommen und könnten sich heute vorteilhaft verheiraten. Und so werden alle meine Pläne zu Wasser!«
»Wie kannst du an ihre Interessen denken,« sagte seine Frau zu ihm, »wo es um ihre Ehre und um ihren Kopf geht!«
»Herr von Hauteserre denkt eben an alles«, begütigte der Marquis.
Während die Bewohner von Cinq-Cygne die Eröffnung der Verhandlungen vor dem Kriminalgericht erwarteten und um die Erlaubnis baten, die Gefangenen besuchen zu dürfen, ohne daß sie ihnen gewährt ward, ging im Schlosse in tiefster Heimlichkeit ein Ereignis von größtem Belang vor. Martha war sofort nach ihrer Vernehmung vor den Geschworenen nach Cinq-Cygne zurückgekehrt. Diese Vernehmung war so ergebnislos gewesen, daß der öffentliche Ankläger sie nicht mal vor das Kriminalgericht lud. Wie alle übermäßig empfindsamen Menschen blieb die arme Frau in einem Zustand erbarmungswürdiger Stumpfheit in dem Salon sitzen, wo sie Fräulein Goujet Gesellschaft leistete. Für sie wie übrigens auch für den Pfarrer und für alle, die nicht wußten, wie die Angeklagten ihren Tag verbracht hatten, war deren Unschuld fragwürdig. Bisweilen glaubte Martha, daß Michu, ihre Herren und Laurence irgendeine Rache an dem Senator verübt hätten. Kannte die unglückliche Frau doch Michus Ergebenheit hinreichend, um zu begreifen, daß er von allen Angeklagten am meisten in Gefahr war, sei es wegen seines Vorlebens oder wegen seines Anteils an der Ausführung. Der Abbé Goujet, seine Schwester und Martha verloren sich in Mutmaßungen, zu denen diese Meinung Anlaß gab, aber je mehr sie darüber nachgrübelten, deuteten sie sich die Sache verschieden. Der völlige Zweifel, wie ihn Descartes fordert, ist für das menschliche Gehirn ebensowenig erreichbar wie die Leere in der Natur, und der geistige Vorgang, durch den er entstehen könnte, wäre wie die Wirkung der Luftpumpe ein außergewöhnlicher, monströser Zustand. Um was es sich auch handeln mag, man glaubt stets an etwas. Nun aber hatte Martha solche Angst vor der Schuld der Angeklagten, daß ihre Furcht dem Glauben gleichkam, und diese Geistesverfassung wurde ihr zum Verhängnis. Fünf Tage nach der Verhaftung der Edelleute wurde sie in dem Augenblick, als sie zu Bett gehen wollte, gegen zehn Uhr abends von ihrer Mutter, die zu Fuß vom Pachthofe kam, in den Hof gerufen.
»Ein Arbeiter aus Troyes will dir etwas von Michu bestellen. Er erwartet dich im Hohlwege«, sagte sie zu Martha.
Beide gingen durch die Bresche, um den kürzesten Weg zu nehmen. Im Dunkel der Nacht und des Weges vermochte Martha nur die Gestalt eines Menschen zu erkennen, die sich von der Finsternis abhob.
»Reden Sie, Frau, damit ich erkenne, ob Sie Frau Michu sind«, sagte der Mann mit ziemlich unruhiger Stimme.
»Gut«, sagte der Unbekannte. »Geben Sie mir Ihre Hand. Haben Sie keine Angst vor mir. Ich komme von Michu,« fuhr er fort, sich zu Marthas Ohr neigend, »um Ihnen ein paar Zeilen zu bringen. Ich bin im Gefängnis angestellt, und wenn meine Vorgesetzten merkten, daß ich fort bin, wären wir alle verloren. Vertrauen Sie mir. Ihr braver Vater hat mich seinerzeit dort angestellt. Deshalb hatte auch Michu Vertrauen zu mir.«
Er drückte Martha einen Brief in die Hand und verschwand nach dem Walde, ohne eine Antwort abzuwarten. Martha schauderte bei dem Gedanken, daß sie nun zweifellos das Geheimnis der Sache erfahren würde. Sie lief mit ihrer Mutter nach dem Pachthofe, schloß sich ein und las den folgenden Brief:
»Liebe Martha, Du kannst Dich auf die Verschwiegenheit des Mannes verlassen, der Dir diesen Brief überbringt. Er kann weder lesen noch schreiben und ist einer der sichersten Republikaner aus der Verschwörung Baboeufs. Dein Vater hat ihn oft benutzt, und er sieht den Senator als Verräter an. Nun, liebe Frau, der Senator ist von uns in den Keller gesperrt worden, in dem wir schon unsre Herren versteckt hatten. Der Elende hat nur für fünf Tage Lebensmittel, und da es in unserm Interesse liegt, daß er am Leben bleibt, so bringe ihm gleich nach Empfang dieser Zeilen Lebensmittel für mindestens fünf Tage. Der Wald muß überwacht sein; triff also ebensoviel Vorsichtsmaßregeln, wie wir es bei unsern jungen Herren taten. Sage Malin kein Wort, sprich nicht mit ihm und lege eine unserer Masken an, die Du auf einer der Kellerstufen finden wirst. Willst Du unsre Köpfe nicht in Gefahr bringen, so wahre tiefstes Schweigen über das Geheimnis, das ich Dir anvertrauen muß. Sage Fräulein von Cinq-Cygne kein Wort davon; sie könnte schwatzen. Fürchte nichts für mich. Wir sind des guten Ausgangs der Sache gewiß, und wenn es sein muß, wird Malin unser Retter sein. Schließlich brauche ich Dir nicht zu sagen, daß Du diesen Brief verbrennen mußt, sobald Du ihn gelesen hast, denn er kostete mir den Kopf, wenn man eine einzige Zeile davon läse. Ich umarme Dich vieltausendmal.
Michu.«
Das Vorhandensein des Kellers unter der Bodenerhebung mitten im Walde war nur Martha, ihrem Sohne, Michu, den vier Edelleuten und Laurence bekannt. Wenigstens mußte Martha dies glauben, denn ihr Mann hatte ihr nichts von seiner Begegnung mit Peyrade und Corentin gesagt. Somit konnte der Brief, der ihr übrigens von Michu geschrieben und unterzeichnet schien, nur von ihm kommen. Gewiß, hätte Martha sofort ihre Herrin und deren beide Berater gefragt, die die Unschuld der Angeklagten kannten, so hätte der verschlagene Anwalt irgendeine Aufklärung über die Ränke erlangt, mit denen man seine Klienten umspann. Aber Martha, die wie die meisten Frauen ganz ihrer ersten Regung folgte und durch diese Überlegungen, die ihr in die Augen sprangen, überzeugt war, warf den Brief in den Kamin. Trotzdem zog sie in einer eigenartigen Erleuchtung der Vorsicht die unbeschriebene Seite des Briefes und die ersten Zeilen, deren Inhalt niemanden bloßstellen konnte, aus dem Feuer zurück und nähte sie in den Saum ihres Rockes ein. Ziemlich erschreckt, daß der Gefangene seit vierundzwanzig Stunden fastete, wollte sie ihm noch in dieser Nacht Wein, Brot und Fleisch bringen. Ihre Neugier wie ihre Menschlichkeit erlaubte ihr nicht, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie heizte ihren Ofen, machte mit Beihilfe ihrer Mutter eine Pastete aus Hasen- und Entenfleisch, einen Reiskuchen, briet zwei Hühner, nahm drei Flaschen Wein und buk selbst zwei runde Brote. Gegen halb drei Uhr morgens machte sie sich auf den Weg nach dem Walde. Sie trug alles in einer Kiepe und nahm Couraut mit, der bei all diesen Unternehmungen mit seltener Intelligenz als Aufklärer diente. Er witterte Fremde auf riesige Entfernungen, und hatte er ihre Anwesenheit gespürt, so kehrte er mit leisem Knurren zu seiner Herrin zurück, blickte sie an und drehte das Maul nach der gefährdeten Seite.
Gegen drei Uhr morgens langte Martha bei dem Sumpfe an, wo sie Couraut als Schildwache zurückließ. Es kostete ihr eine halbe Stunde Arbeit, den Eingang freizumachen; dann trat sie mit einer Blendlaterne an die Kellertür, das Gesicht mit einer Maske bedeckt, die sie tatsächlich auf einer Stufe gefunden hatte. Die Gefangensetzung des Senators war anscheinend lange vorher überlegt worden. Ein Loch von einem Quadratfuß, das Martha vordem nicht bemerkt hatte, war roh in dem Oberteil der Eisentür angebracht, die den Keller schloß. Damit aber Malin nicht mit der Zeit und Geduld, die alle Gefangenen haben, den eisernen Riegel, der die Tür verschloß, zurückschieben konnte, hatte man ein Vorlegeschloß angebracht. Der Senator, der sich von seinem Mooslager erhoben hatte, stieß einen Seufzer aus, als er ein maskiertes Gesicht erblickte, und erriet, daß es sich noch nicht um seine Befreiung handelte. Er beobachtete Martha in dem undeutlichen Schein einer Blendlaterne und erkannte sie an ihren Kleidern, ihrer Beleibtheit und ihren Bewegungen. Als sie ihm durch das Loch die Pastete reichte, ließ er diese fallen, um ihre Hände zu ergreifen, und versuchte mit außerordentlicher Geschwindigkeit, ihr zwei Ringe vom Finger zu streifen: ihren Trauring und ein Ringchen, das ihr Fräulein von Cinq-Cygne geschenkt hatte.
»Sie werden nicht leugnen, daß Sie es sind, liebe Frau Michu?« sagte er.
Martha ballte die Faust, sobald sie die Finger des Senators fühlte, und gab ihm einen kräftigen Schlag gegen die Brust. Dann ging sie, ohne ein Wort zu sagen, um sich eine kräftige Rute zu schneiden, und benutzte sie, um dem Senator den Rest der Vorräte zu reichen.
»Was will man von mir?« fragte er.
Martha ging, ohne eine Antwort zu geben. Bei der Heimkehr erreichte sie gegen fünf Uhr den Waldrand, und Couraut meldete ihr die Anwesenheit eines Lästigen. Sie kehrte um und ging auf den Pavillon zu, wo sie so lange gewohnt hatte. Als sie aber in die Allee kam, wurde sie von weitem vom Feldhüter von Gondreville bemerkt. Nun entschloß sie sich, gerade auf ihn loszugehen.
»Sie sind recht früh auf, Frau Michu!« redete er sie an.
»Wir sind so unglücklich«, entgegnete sie, »daß ich gezwungen bin, die Arbeit einer Magd zu tun. Ich gehe nach Bellache, um Korn zu holen.«
»Haben Sie denn in Cinq-Cygne kein Korn?« fragte der Feldhüter.
Martha gab keine Antwort und setzte ihren Weg fort. Als sie zum Pachthof Bellache kam, bat sie Beauvisage, ihr verschiedene Sorten von Saatkorn zu geben; Herr von Hauteserre hätte ihr befohlen, sie bei ihm zu holen, um seine Samenarten aufzufrischen. Als Martha fort war, kam der Feldhüter von Gondreville nach dem Pachthof und fragte, was Martha dort hatte holen wollen.
Sechs Tage darauf ging Martha, die nun vorsichtig geworden war, schon um Mitternacht fort, um die Vorräte hinzubringen und nicht von den Wächtern überrascht zu werden, die den Wald offenbar überwachten. Nachdem sie dem Senator zum drittenmal Lebensmittel gebracht hatte, ward sie von einer Art von Schrecken ergriffen, als sie den Pfarrer die öffentlichen Vernehmungen der Angeklagten vorlesen hörte, denn die Verhandlungen hatten eben begonnen. Sie nahm den Abbé Goujet beiseite, ließ sich von ihm schwören, über das, was sie ihm sagen würde, wie bei der Beichte Schweigen zu bewahren, und zeigte ihm die Fetzen des Briefes, den sie von Michu erhalten hatte. Dann gab sie ihm dessen Inhalt an und vertraute ihm das Geheimnis an, wo sich der Senator befand. Der Pfarrer fragte sie sogleich, ob sie Briefe von ihrem Gatten hätte, damit er die Schrift vergleichen könne. Martha ging nach Hause auf den Pachthof und fand dort eine Vorladung, als Zeugin vor Gericht zu erscheinen. Als sie ins Schloß zurückkehrte, waren der Abbé Goujet und seine Schwester auf Antrag der Angeklagten gleichfalls vorgeladen worden. Sie mußten sich also unverweilt nach Troyes begeben. So waren alle Personen dieses Dramas, selbst die, welche gewissermaßen nur Statisten waren, auf dem Schauplatz vereinigt, auf dem um das Schicksal der beiden Familien gespielt ward.
Es gibt sehr wenige Orte in Frankreich, wo die Justiz den Dingen den Nimbus verleiht, den sie stets haben sollten. Ist sie nicht nächst der Religion und dem Königtum das größte Triebwerk der Gesellschaft? Überall, selbst in Paris, wird die Wirkung dieser ungeheuren Macht durch die Ärmlichkeit des Lokals, die schlechte Raumverteilung und den Mangel an Ausstattung vermindert, und das bei dem eitelsten und bei Monumenten theatralischsten Volke, das es heute gibt. Die Einrichtung ist fast in allen Städten die gleiche. Im Hintergrund eines langen, viereckigen Saales sieht man auf einer Estrade einen mit grünem Tuche bedeckten Tisch, hinter dem die Richter auf gewöhnlichen Lehnstühlen Platz nehmen. Links befindet sich der Stuhl des öffentlichen Anklägers und auf derselben Seite längs der Wand eine lange Tribüne mit Stühlen für die Geschworenen. Ihnen gegenüber erstreckt sich eine zweite Tribüne, auf der sich eine Bank für die Angeklagten und die sie bewachenden Gendarmen befindet. Der Gerichtsschreiber sitzt am Fuße der Estrade an dem Tisch, auf dem die Beweisstücke liegen. Vor der Einrichtung der kaiserlichen Justiz hatten der Regierungskommissar und der Direktor der Jury jeder einen Stuhl und einen Tisch rechts und links von dem Richtertisch. Zwei Gerichtsdiener tummeln sich in dem Raum vor der Estrade, der für das Erscheinen der Zeugen frei bleibt. Die Verteidiger sitzen unter der Tribüne der Angeklagten. Eine Holzschranke verbindet beide Tribünen am anderen Saalende und teilt einen Raum ab, in dem die Bänke für die vernommenen Zeugen und die bevorrechtigten Zuschauer stehen. Ferner befindet sich gegenüber dem Gerichtshof über der Eingangstür stets eine elende Tribüne für die Behörden und die Frauen, die von dem Präsidenten, der die Saalpolizei ausübt, aus dem Departement ausgewählt werden. Das nicht bevorrechtigte Publikum steht in dem Raume zwischen der Saaltür und der Schranke. Dies normale Aussehen der französischen Gerichte und der jetzigen Schwurgerichte war auch das des Kriminalgerichtes von Troyes.
Im April 1806 hatten weder die vier Richter noch der Präsident, die den Gerichtshof bildeten, noch der öffentliche Ankläger, noch der Direktor der Jury, noch der Regierungskommissar, noch die Gerichtsdiener oder die Verteidiger, kurz, niemand außer den Gendarmen eine Amtstracht oder ein Erkennungszeichen, das die Kahlheit der Dinge und den recht mageren Anblick der Gesichter hob. Das Kruzifix fehlte und gab weder den Richtern noch den Angeklagten sein Beispiel. Alles war traurig und gewöhnlich. Der im sozialen Interesse so nötige Apparat ist vielleicht ein Trost für den Verbrecher. Der Andrang des Publikums war der gleiche, wie er bei allen derartigen Anlässen sein wird, solange die Sitten sich nicht gebessert haben und Frankreich nicht erkannt hat, daß die Zulassung des Publikums zur Sitzung nicht die Öffentlichkeit bedingt, daß die Öffentlichkeit der Verhandlungen eine so unerhörte Strafe darstellt, daß der Gesetzgeber sie nicht vorgeschrieben hätte, wenn er sie hätte ahnen können. Die Sitten sind oft grausamer als die Gesetze. Die Sitten sind die Menschen, aber das Gesetz ist die Vernunft eines Landes. Die Sitten, die oft unvernünftig sind, siegen über das Gesetz.
Menschenansammlungen bildeten sich um das Gerichtsgebäude. Wie bei allen berühmten Prozessen war der Präsident genötigt, die Türen durch Militär bewachen zu lassen. Der Zuschauerraum hinter der Schranke war so überfüllt, daß man darin erstickte. Herr von Granville, der Michu verteidigte, Bordin, der Verteidiger der Herren von Simeuse, und ein Advokat aus Troyes, der für die Herren von Hauteserre und für Gotthard, die am wenigsten Belasteten unter den sechs Angeklagten, eintrat, waren schon vor Beginn der Sitzung auf ihrem Posten und blickten zuversichtlich drein. Ebenso wie der Arzt seinen Kranken nichts von seinen Befürchtungen merken läßt, ebenso zeigt der Advokat seinem Klienten stets ein hoffnungsvolles Gesicht. Dies ist einer der seltenen Fälle, wo die Lüge zur Tugend wird. Als die Angeklagten eintraten, erhob sich wohlwollendes Gemurmel beim Anblick der vier jungen Leute, die nach zwanzigtägiger Haft und Sorge etwas blaß geworden waren. Die vollkommene Ähnlichkeit der Zwillinge erregte das stärkste Interesse. Vielleicht dachte jeder, die Natur müsse eine ihrer merkwürdigsten Seltenheiten besonders in Schutz nehmen, und jedermann war versucht, die Vergeßlichkeit des Schicksals ihnen gegenüber wieder gut zu machen. Ihr edles, schlichtes Benehmen, ohne das geringste Zeichen von Scham, aber auch von Prahlerei, rührte viele Frauen. Die vier Edelleute sowie Gotthard erschienen in der Kleidung, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatten; Michu jedoch, dessen Kleider zu den Beweisstücken gehörten, hatte seinen besten Anzug angelegt, einen blauen Überrock, eine braune Samtweste nach der Art Robespierres und eine weiße Halsbinde. Der Ärmste zahlte jetzt den Tribut für sein finsteres Aussehen. Wenn er seinen gelben, klaren und tiefen Blick über die Versammlung schweifen ließ oder eine Bewegung machte, antwortete ihm ein Murmeln des Schreckens. Das Publikum wollte den Finger Gottes in seinem Erscheinen auf der Anklagebank sehen, auf die sein Schwiegervater so viele Opfer gebracht hatte. Dieser wahrhaft große Mann blickte seine Herren mit einem unterdrückten ironischen Lächeln an, als wollte er zu ihnen sagen: »Ich werde Euch schaden!« Die fünf Angeklagten begrüßten sich herzlich mit ihren Verteidigern. Gotthard spielte noch immer den Blöden.
Die Verteidiger übten ihr Ablehnungsrecht mit Scharfsinn. Sie waren in diesem Punkte von dem Marquis von Chargeboeuf beraten worden, der mutig neben Bordin und Herrn von Granville saß. Als dann die Jury zusammengestellt und die Anklageschrift verlesen war, wurden die Angeklagten getrennt, um vernommen zu werden. Alle antworteten in auffälliger Übereinstimmung. Nachdem sie am Morgen im Walde geritten wären, seien sie um ein Uhr zum Frühstück nach Cinq-Cygne zurückgekehrt. Nach dem Essen seien sie von drei bis halb sechs Uhr wieder in den Wald geritten. Das war der gemeinsame Grundzug ihrer Aussagen; einzelne Abweichungen ergaben sich aus der besonderen Lage jedes Angeklagten. Als der Präsident die Herren von Simeuse aufforderte, Gründe für ihren so frühzeitigen Ritt anzugeben, erklärten beide, seit ihrer Rückkehr hätten sie daran gedacht, Gondreville zurückzukaufen, und da sie beabsichtigt hätten, mit Malin zu verhandeln, der tags zuvor angekommen sei, wären sie mit ihrer Base und Michu ausgeritten, um den Wald abzuschätzen und ihre Angebote darauf zu begründen. Inzwischen hätten die Herren von Hauteserre, ihre Base und Gotthard einen Wolf gejagt, den die Bauern bemerkt hätten. Wären ihre Pferdespuren im Walde ebenso sorgfältig geprüft worden wie die, die durch den Park von Gondreville führten, so hätte man den Beweis für ihre Ritte in Gegenden gehabt, die vom Schlosse recht weit ablagen.
Das Verhör des Herren von Hauteserre bestätigte ihre Angaben und stimmte mit ihren Aussagen in der Voruntersuchung überein. Die Notwendigkeit, ihren Ritt zu rechtfertigen, hatte jeden Angeklagten auf den Gedanken gebracht, ihn mit der Jagd zu begründen. Ein paar Tage vorher hatten Bauern einen Wolf im Walde gemeldet und jeder von ihnen nahm das zum Vorwand.
Doch der öffentliche Ankläger hob Widersprüche zwischen den ersten Vernehmungen hervor, wo die Herren von Hauteserre ausgesagt hatten, sie hätten allesamt gejagt, und dem in der Verhandlung befolgten System, wonach die Herren von Hauteserre und Laurence gejagt, die Herren von Simeuse aber den Wald abgeschätzt hätten.
Herr von Granville wies darauf hin, daß das Delikt erst zwischen zwei und halb sechs Uhr begangen sei; somit müsse man den Angeklagten Glauben schenken, wenn sie erklärten, wie sie den Vormittag verbracht hätten.
Der Ankläger erwiderte, die Angeklagten hätten ein Interesse daran, die Vorbereitungen zur Freiheitsberaubung des Senators zu verbergen.
Die Geschicklichkeit der Verteidigung wurde nun jedermann klar. Richter, Geschworene und Zuschauer begriffen bald, daß der Sieg heiß umstritten werden würde. Bordin und Herr von Granville schienen alles vorausgesehen zu haben. Die Unschuld muß über ihr Tun und Lassen klar und stichhaltig Rechenschaft ablegen. Die Verteidigung hat also die Pflicht, dem unwahrscheinlichen Roman der Anklage einen wahrscheinlichen Roman entgegenzustellen. Für den Verteidiger, der seinen Klienten als unschuldig betrachtet, wird die Anklage zum Märchen. Das öffentliche Verhör der vier Edelleute erklärte die Dinge hinreichend zu ihren Gunsten. Soweit ging alles gut. Ernster jedoch war Michus Vernehmung; mit ihr begann der Kampf. Ein jeder begriff jetzt, warum Herr von Granville die Verteidigung des Dieners der seiner Herren vorgezogen hatte.
Michu gab zu, Marion bedroht zu haben, stritt jedoch ab, daß es mit der behaupteten Heftigkeit geschehen sei. Betreffs des Auflauerns von Malin sagte er aus, er sei ganz einfach im Park umhergegangen. Vielleicht hätten der Senator und Herr Grévin Angst bekommen, als sie die Mündung seines Flintenlaufs erblickt hätten, und ihm eine feindliche Haltung zugeschrieben, während sie ganz harmlos gewesen sei. Er hob hervor, daß ein Mann, der nicht an die Jagd gewöhnt ist, am Abend ein Gewehr gegen sich gerichtet glauben kann, während es ruhig auf der Schulter liegt. Den Zustand seiner Kleider bei seiner Verhaftung erklärte er damit, daß er bei der Heimkehr in die Bresche gefallen sei.
»Da ich beim Durchklettern nicht mehr deutlich sah,« sagte er, »habe ich sozusagen die Steine umarmt, die unter mir einbrachen, als ich mich an ihnen festhielt, um den Hohlweg zu erklimmen.«
Betreffs des Kalks, den Gottfried ihm gebracht hatte, antwortete er wie bei allen seinen Vernehmungen, mit dem Kalk hätte er einen Pfosten am Zaun des Hohlweges ausgeflickt.
Der öffentliche Ankläger und der Präsident forderten ihn nun auf, zu erklären, wie er gleichzeitig in der Bresche beim Schloß und oben im Hohlweg hätte sein können, um einen Pfosten des Zauns auszuflicken, zumal der Friedensrichter, die Gendarmen und der Feldhüter erklärten, sie hätten ihn von unten kommen hören. Michu entgegnete, Herr von Hauteserre hätte ihm Vorwürfe gemacht, weil er nicht längst die kleine Ausbesserung ausgeführt hatte, auf die er Wert legte, weil dieser Weg Schwierigkeiten mit der Gemeinde hervorrufen konnte. Er sei also hingegangen, um ihm zu melden, daß der Zaun in Ordnung sei.
In der Tat hatte Herr von Hauteserre einen Zaun oben am Hohlweg errichten lassen, damit die Gemeinde ihn nicht in Beschlag nahm. Als Michu sah, welche Wichtigkeit der Zustand seiner Kleider und der Kalk bekam, dessen Gebrauch nicht abzuleugnen war, hatte er diese Ausflucht ersonnen. Wenn bei Gericht die Wahrheit oft einem Märchen gleicht, so kommt auch das Märchen der Wahrheit sehr nahe. Der Verteidiger wie der Ankläger legten beide großen Wert auf diesen Umstand, der durch die Bemühungen des Verteidigers wie durch den Verdacht des Anklägers grundlegend wurde.