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Zwölftes Kapitel

Hedwig erstaunte, den Grafen schon beim Frühstück zu finden. Er hatte sich im Winter angewöhnt, bis in den Tag hinein zu schlafen und wenn er endlich erwachte, noch stundenlang die Post durchsehend und Zeitungen lesend im Bett liegen zu bleiben. Fast erschrak sie, hätte sie nicht der Anblick des mit Geschenken überladenen, von Blumen umwundenen Tischchens erinnert, daß ihr Geburtstag war. Ist das schon wieder ein Jahr her! Wieder ein Jahr vorbei! So schnell vergeht die Zeit und man merkts gar nicht und auf einmal wird dann eines Tages alles vergangen sein und das bißchen Leben vorbei, bevor man selber noch recht weiß, womit und wohin – vergangen und zergangen, nichts bleibt einem davon in der leeren Hand! Aber der Graf überließ sie nicht lang ihren Gedanken. »Schau nur, auch dein Raderer hat nicht versäumt, sich pünktlich einzustellen, und aus lauter Angst vor Verspätung sogar lieber gleich zweimal: Schon vorige Woche kam ein dicker Brief und gestern, weil er offenbar der Überseepost nicht recht traut, überdies noch ein langmächtiges Gedicht – er hat auch in Brasilien reimen nicht verlernt! Und jetzt schau aber, daß du mit dem Frühstück fertig wirst, jeden Augenblick können die Festgäste kommen – ja ja, mein Kind, »mir bleibt doch nichts erspart«, wie der gute alte Franz Joseph in solchen Fällen zu sagen pflegte: ich hab den neuen Herrn Pfarrer zu uns gebeten und er bringt sogar auch den verrückten Höfelind mit und dann wandern wir wieder zu deiner Alm, alles genau wie heute vor einem Jahr, ich bin einmal ein Mann der Ordnung! Ich war überdies erstaunt, in diesem ja zunächst etwas schäbig und sozusagen noch nicht ganz zimmerrein aussehenden Pfarrer Rixner bei näherer Betrachtung ein eigentlich ganz famoses Menschenkind zu finden, er hat Humor, versteht Spaß und erzählt Anekdoten. An unseren unvergeßlichen Modl darf man freilich nicht denken, sie haben miteinander nur das eine gemein, daß jeder in seiner Art ein Unikum ist. Der Laie, mag er auch ein noch so guter Katholik sein, muß doch immer wieder von neuem staunen über die Vielfalt katholischer Gestalten! Derselbe Geist erscheint jedesmal wieder ganz anders, jeder einzelne Priester, wahrscheinlich überhaupt auch jeder einzelne Katholik, ist immer wieder eine neue Variante der einen unveränderlichen, aber auch unerschöpflichen, sich immer wieder anders äußernden Grundform. Unser lieber Modl und dieser Rixner – eine Welt scheint zwischen den beiden zu liegen und doch hört man jedem Wort, sieht man jedem Schritt der beiden ein gemeinsames Geheimnis an, dessen Ausdruck sie sind, und man kann nicht einmal sagen, der eine drücke dasselbe Wesen stärker oder reiner oder immerhin verständlicher aus, nein, keine dieser Varianten geht vor und wahrscheinlich ist keine von ihnen entbehrlich, wir brauchen alle, damit für jeden Katholiken gesorgt wird, damit für jeden von uns, wer es auch sei, der Tisch der Gnade gedeckt steht! Ich war von Jugend auf, was man einen guten Katholiken nennt, schon einfach aus dem Grunde, weil ein österreichischer Graf halt ein guter Katholik zu sein hat: es gehört dazu. Der Bauer ist auch Katholik, ohne lange zu fragen, auch einfach, weil es dazu gehört. Und allmählich kam ich dann darauf, daß es allen Menschen so geht, jedenfalls den Menschen der abendländischen Kultur: sie denken gar nicht erst viel über ihren Glauben nach, sie erben ihn, er sitzt ihnen von klein auf gut, er ist ein Stück ihres Lebens, er gehört einmal dazu. Daß er jedem sitzt, das gibt ihm seine ungeheure Kraft! Daß die katholische Form reich genug an Varianten ist, um jedem Einzelnen eine davon anzubieten, in der er sich so wohl fühlt, als wär's seine für ihn vorbestimmte, eigens ihm angepaßte Haut, das ist das Geheimnis des Katholizismus, dadurch hat er sich, rein menschlich gesprochen, die Welt erobert. Der unerschöpfliche Reichtum an unzähligen Varianten der einen, ewig gleichen aber niemals starren Grundform macht ihn unwiderstehlich. Freilich werden diese Varianten zuweilen so kühn und übernehmen sich so dreist, daß einen oft schon bange werden könnt, ob nicht am Ende doch einmal die Grundform reißen wird.«

Wenn sich der Graf einmal in Erörterungen einließ, fand er so bald nicht wieder heraus: sein Gedächtnis war unerschöpflich an Beispielen, sein Verstand überbot sich in immer neuen Fassungen, sein Vergnügen, denselben Gedanken immer wieder in einem anderen überraschenden Lichte zu zeigen, ließ nicht nach. »Nichts hütet die Kirche zärtlicher als diesen unermeßlichen Reichtum an Varianten: Franz von Assisi und Franz von Sales, Ignatius von Antiochien und Ignatius von Loyola, Katharina von Alexandrien und Katharina von Genua und Katharina von Siena! Keine andere Religion hat soviel Ehrfurcht vor der Persönlichkeit, soviel Achtsamkeit auf den Eigensinn jeder Variante! Wie jeder seinen besonderen Schutzengel, so hat er auch seinen besonderen Schutzpatron. Wer aber will sich anmaßen, einer dieser unzähligen Varianten einen besonderen Wert, einen Vorrang zu vindizieren, wer will sagen, welcher von den Farben, in die sich das ewige Licht bricht, die Palme gebührt?«

Der Graf fand wieder einmal kein Ende, ein ungewohnter Hörer hätte drehkrank werden können und selbst Hedwig in ihrer himmlischen Geduld atmete doch auf, als, von den kläffenden Hunden angekündigt, die Festgäste erschienen, der kugelrunde Pfarrer Rixner voran, sichtlich geschmeichelt, ein bißchen verlegen, neugierig um sich blickend, und hinter ihm Höfelind, starr und stumm, ohne den Garten oder das Schloß eines Blickes zu würdigen. Er sieht aus, sagte der Graf, wie ein böser Hund an der Leine und Rixner bat auch gleich, die Herrschaften möchten sich gar nicht um ihn kümmern: er hat durchaus nicht mitkommen wollen, aber ich kann ihn ja nicht allein lassen, man weiß dann nie, was ihm in seiner Zerknirschung alles einfällt, er treibt's dann oft arg, aber wenn ich dabei bin, geschieht nix, da is er dann lamperlfromm – ich möcht nur bitten, gar nicht erst von ihm Notiz zu nehmen!

Die Schulkinder standen schon draußen in Paaren gereiht, und so setzte sich nun der heitere Zug in Bewegung, denselben Weg entlang wie vor einem Jahre, die sanften, kaum merklich ansteigenden Serpentinen empor, immer wieder gelegentlich anhaltend, um zurückzublicken auf das Schloß, auf die Kirche mit dem wundertätigen alten Gnadenbild, auf das sich rings entfaltende Städtchen und den Kranz angeblich schmucker Villen, bis hinüber zum hellglänzenden Flusse mit der uralten hölzernen Brücke. »Hier ist die Welt mit braunen Brettern verschlagen,« sagte der Graf und, die lauschenden Kinder um sich scharend, begann er ihnen von der wilden Zeit ihrer Ahnen zu erzählen, als diese plötzlich nicht mehr leiden wollten, daß es auch Herrenleut auf der Welt geben muß. Warum denn?, fragte da ein vorlauter Knirps. Weil es sonst zu fad wär auf der Welt, sagte der Graf, denn denkts euch nur, wenn es sich der liebe Gott bequem gemacht und statt Schwalben und Amseln und Zeiserln und die ganze liebe reiche Vogelwelt einfach bloß Spatzen geschaffen hätt, wär das nicht doch zu traurig, und wenn ein jedes von euch genau dieselben Augen, dieselbe Nasen und dieselben Ohren hätt, wie möcht man denn dann einen von dem anderen auseinander kennen? Aber schon damals hat's auch Bauern gegeben, die lieber Herrenleut gespielt hätten und da hat der große Tanz angfangen, die Bauern sind gegen die Herren aufmarschiert und eine Zeit hats schon arg ausgschaut im Landl. Aber bei uns hier sind's bloß bis an die Dreisach kommen, bis an die schwarzen Bretter da drüben! Dort haben ihnen die Herrenleut den Herrn gezeigt und da war's dann aus, der Stephan Fadinger is vor Linz gefallen und nach ein paar Jahren war alles wieder in Ordnung. Es geht schon einmal in der Welt nicht anders: etwas muß oben und etwas muß unten sein und wenn man's umdreht und das Untere nach oben, das Obere nach unten kehrt, dann is ja doch erst wieder ein Oben und ein Unten, es ändert sich also gar nichts und die alte Gschicht fangt also bloß wieder von neuem an!«

»Schad!«, sagte der Pfarrer Rixner, »schad, daß der Herr Graf nicht in der Volksschul Geschichtsunterricht gibt, ja da könnten die Buben was lernen!«

Ein Knirps erhob die Hand, um etwas sagen zu dürfen. »Red nur!«, sagte der Pfarrer, »der Herr Graf erlaubt's schon.«

»Wenn aber dann«, sagte der Knirps nachdenklich, »immer dieselben Leut oben und dieselben Leut unten bleiben und sich's gar nicht anders wünschen möchten, ja, um was soll denn nachher grauft werden? Da höret sich das Raufen dann überhaupt auf!«

»Brauchst keine Angst zu haben,« sagte der Graf, »so lang wir leben, hört sich das Raufen nicht auf. Und wennst hundert Jahr alt wirst, gerauft wird immer noch werden!«

»No dann is es ja schon gut!«, sagte der Bub, beruhigt.

Um die Rasse braucht einem wirklich nicht bang zu sein, dachte der Graf.

So gelangte die gesprächige Schar unmerklich immer höher und war am Ende fast etwas enttäuscht nach einer Abbiegung am Waldesrand, die zunächst noch ganz unverdächtig schien, plötzlich schon auf der Alm angekommen zu sein: im Waldesdunkel stand Tischlein an Tischlein, schneeweiß gedeckt; verheißend zog ein holder Dampf von Knödeln durch die Sommerluft und sie ließen sich erst nicht nötigen; man hätte meinen können, sie kämen aus schwerer Hungersnot. Den Grafen freute das unbändig, er ging von Tisch zu Tisch, immer wieder aneifernd und aufmunternd, ordentlich dreinzuhauen, und setzte dann noch, was wirklich doch gar nicht erst nötig war, drei Preise für diejenigen Buben oder Mädeln an, die sich schließlich ausweisen könnten, die meisten Knödel vertilgt zu haben – aber nicht schwindeln, ich paß auf! Das ließen sie sich nicht erst zweimal sagen und je mehr sie sich anstopften um die Wette, desto mehr schien er selber wieder zum Kinde zu werden. Schwitzend und außer Atem vor Übermut kam er dann zur Gräfin, um neben ihr ein wenig zu verschnaufen: »Ist das nicht ein herrlicher Tag? Nur der Raderer fehlt mir, ich muß unwillkürlich in einem fort an ihn denken, der wäre da doch in seinem Element!« Und da die Gräfin schwieg, fuhr er kopfschüttelnd fort: »Ihr Weiberleut seid's schon eine merkwürdige Erfindung! Es stellt sich jetzt heraus, daß unser Raderer eigentlich mir viel mehr abgeht als dir!«

»Ich wußte gar nicht,« sagte die Gräfin, »daß du so sehr an ihm hängst.«

Der Graf sah lächelnd auf: »Wenn du das gewisse hochmütige Gesicht machst, bist du womöglich noch schöner als sonst! Schad, daß wir verheiratet sind! Wenn du nicht meine Frau wärst, möcht ich mich heut unsinnig in dich verlieben!« Und dann erhob er sich, schlug an sein Glas, um Stille zu gebieten, und sprach mit einer bürokratisch näselnden Feierlichkeit: »Verehrte Festgäste! Ein Jahr ist es her, daß wir auch hier saßen, um den Geburtstag meiner lieben Schloßherrin festlich zu begehen. Es war kein gutes Jahr, das damals begann. Es kam der lange Regen, der war arg, man hätt manchmal schon meinen können, er schwemmt das ganze bißchen Verstand weg, das bisher noch in unserem lieben alten Maria Pram übrig war! Aber schließlich hat es dann doch, als wir schon kaum mehr darauf hofften, nach und nach schön langsam wieder zu regnen aufgehört und ganz still hat sich auf einmal der Sonnenschein auch wieder eingestellt – man darf halt nur nicht gleich kleinlaut werden, man muß geduldig warten lernen! Jetzt sitzen wir doch wieder fröhlich hier vereint und wenn uns unser lieber Freund Pfarrer Modl verlassen hat, so dürfen wir uns dafür der Gegenwart des hochwürdigen Herrn Pfarrers Rixner erfreuen und wenn uns allen der unersetzliche Dr. Raderer, dem wir ja diese schönen Anlagen, den neuen Weg, den wir heute gingen, und die Hütte hier, vor der wir schmausen, zu danken haben, in seinem Tatendrang echappiert ist, gleich bis nach Brasilien hinüber, um sich dort im Urwald ein neues Heim, eine deutsche Siedlung in der Wildnis zu schaffen, so dürfen wir dafür in unserer Mitte herzlich einen neuen Freund begrüßen, den verehrten und bewunderten –«

Der Graf hielt unwillkürlich ein, erschreckend vor dem drohenden Blick, mit dem sich Höfelind erhob und, die Faust ballend, sprach: »Nix! Keine Bewunderung, Gott sei Dank! Alles weg! Nix mehr übrig, als der Meßner, nix mehr als der Niemand!« Er schien noch etwas sagen zu wollen, setzte sich aber gehorsam, leise von der Hand Rixners an der Schulter berührt, nur noch einmal vor sich hinmurmelnd: »Nix übrig als der Meßner, der Laienbruder Niemand, Gott sei Dank!«

Nach einer Pause sagte der Graf, um die Beklemmung durch den wilden Blick Höfelinds zu lösen: »Und jetzt wollen wir aber alle, wie wir da so friedlich auf der Alm beisammen sitzen, einen Brief an den Dr. Raderer schreiben, damit der in seinem Urwald drüben ein Zeichen kriegt, daß er uns unvergessen bleibt! Das wird ihn freuen, denn je weiter einer vom Heimatland weg ist, desto näher geht's ihm! Wir brauchen aber jetzt solche Leut, die sich umschauen, wo denn in der weiten Welt vielleicht noch Platz ist, denn bei uns daheim sitzen wir einander schon ein bißl gar zu nah auf dem Buckel, das Vaterland is ein bißl eng worden und hier herüben laßt's sich nicht mehr anstückeln, das is vorbei! Und da hat sich unser Dr. Raderer gedacht: die Welt ist weit, da gibt's immer noch Platz für einen, der das Fürchten nicht gelernt hat, denn wo man zugreifen und was schaffen kann, dort ist das Vaterland und den tätigen Mann laßt der liebe Gott nirgends im Stich! Und so schreibts jetzt alle miteinand, Buben wie Mädeln, eure Namen auf diesen Bogen, damit er's schwarz auf weiß hat: wenn er sich auch noch so tief im Urwald drüben verkriecht, das Heimatland vergißt ihn nicht!« Und Buben und Mädeln malten eifrig mit großen Schnörkeln ihre Namen hin. Der Graf schloß dann abends daheim noch ein Postskriptum an: »Wir haben Hedwigs Geburtstag auch heuer wieder auf der Alm begangen, die ja dein Werk ist, und so kannst du dir denken, daß du mitten unter uns warst. Der Bogen mit den Unterschriften der nachwachsenden Jugend von Maria Pram mag es dir schwarz auf weiß bestätigen. Dir erst noch Glück zu wünschen erübrigt sich, du schaffst es dir überall und auf den Schauplatz kommt es dabei wirklich nicht an, das Glück steht uns immer und überall bereit und verlangt von uns nichts, als ergriffen zu werden. Übrigens möcht ich dich bitten, darauf gefaßt zu sein, daß ich dich nächstens vielleicht telegraphisch herüberbitte, denn du mußt, wenn es – hoffentlich! – ein Bub sein wird, natürlich Taufpate sein!«

 

– Ende. –

 


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