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Sechstes Kapitel

Es regnete noch immer fort. Die Dreisach schwoll täglich drohender an, der Gischt schlug schon bis zur gebräunten Lehne der alten Brücke. Die letzten Gäste gaben die Hoffnung auf einen Nachsommer auf und entflohen. Es wurde still im Ort. Man ergab sich darein, daß es nun einmal ein verlorenes Jahr war, und fragte nicht mehr, wen die Schuld traf. Die Hetze gegen den Bürgermeister verstummte. Der Bürgermeister, hieß es jetzt, kann schließlich auch nichts für's Wetter, er kann auch nicht zaubern. Der unablässig fließende Regen schien allen Widerstand abzuwaschen, aller Trotz zerfloß. Der Bürgermeister, die Gelegenheit witternd, wenn er sich jetzt bewährte, vielleicht zu neuem Ansehen und vielleicht unbemerkt wieder zur Macht zu kommen, holte gern den Rat Raderers ein, der klug genug war, sich immer erst dreimal bitten zu lassen. Auch versäumte der Bürgermeister nicht, sich unauffällig dem Pfarrer zu nähern, der in seiner Arglosigkeit bereit war zu vergessen, was der widerliche Mensch alles gegen ihn angezettelt hatte. Der Graf lachte, wenn er den Pfarrer von der unverhofften Bekehrung oder doch Besserung des alten Widersachers schwärmen hörte. Des Grafen Lebensbedürfnis war Ruhe. Was man über ihn dachte, was man für ihn fühlte, sogar was man über ihn sagte, galt ihm im Grunde gleich, solang er nur auf dem Schloß davon unbehelligt blieb. Nur nicht einbezogen zu werden in das Leben des Orts, ja vielleicht nicht einbezogen zu werden in irgendein anderes Leben überhaupt, das war seine Maxime, darin allein bestand für ihn das Glück. Er hatte sein Schloß, er hatte seine Frau, er hatte seine Pferde und seine Hunde, er hatte seine Whistpartie, er hatte ein paar ganz angenehme Menschen um sich, mit denen er, bis es Zeit wurde, schlafen zu gehen, behaglich plauschen konnte und wenn er dann in seiner Neuen Freien Presse las, was indessen alles da draußen in der immer schon närrischen, jetzt aber offenbar ganz verrückt gewordenen Welt vorging, empfand er es als ein unverdientes Glück, auf seinem alten Schlosse, wo ihn dieses alles jetzt, Gott sei Dank, nichts mehr anging, seine Ruh zu haben, weit vom Schusse der Welt. Er pflegte zu sagen: »Die paar Jahre, die mir noch allenfalls bestimmt sind, wird's schon grad noch halten und après nous le déluge!« Worauf Raderer einmal, nach den nassen Fensterscheiben zeigend, zum Scherz fragte, ob das nicht vielleicht schon der Anfang wäre, der Anfang des » déluge«. Denn es regnete noch immer unaufhaltsam fort. Man sah morgens gar nicht erst nach dem Wetter, man wußte schon, daß es regnete, man konnte sich kaum mehr vorstellen, wie das eigentlich ist, wenn es nicht regnet. Man ergab sich darein. Diese gelassene Stimmung hielt auf dem Schloß auch noch an, als man im Ort auf einmal unruhig zu werden begann, ohne jeden sichtlichen Grund, plötzlich, über Nacht. Man hatte sich mit der Flucht der Gäste, mit dem Entgang am gewohnten Gewinn, mit der schlechten Ernte, mit allem abgefunden – guten Jahren folgen auch wieder schlechte, das war schon einmal so, man hofft dann eben geduldig auf die nächste Serie! Doch täglich abends beim Einschlafen denselben Regen tropfen zu hören wie morgens gleich beim Erwachen wieder, das wurde nun allmählich auch den geduldigsten Nerven zu viel. Der Regen war schließlich das einzige Tagesgespräch des ganzen Orts. Selbst Greise konnten sich einer solchen Sintflut nicht entsinnen; das war nicht bloß ein ungewöhnlicher Regen, das war kein natürlicher Regen mehr, das war ein Zeichen, eine Strafe Gottes, unaufhaltsam, solange der Zorn des Himmels nicht durch ein Bußopfer wieder versöhnt sein würde. Auch wer sich sonst darin gefiel, mit seinem Unglauben zu prahlen und über die »Pfaffen« zu spotten, wurde nun kleinlaut und auf einmal hieß es, nur das Unrecht am Pfarrer, wodurch offenbar das ehrwürdige Gnadenbild beleidigt worden war, sei schuld. Der Lehrer Dittl, das Großmaul der »Roten«, wurde von rabiaten Weibern überfallen und verprügelt, denn die Strafe für ihn sei der Regen, für seinen frechen Spott und Hohn über alles Heilige, für ihn, der selbst die Schulkinder schon gegen den Glauben aufhetzt, ja, das Gnadenbild sogar mit seinen lästerlichen Späßen nicht verschont hatte! Seinen Frevel hätte jetzt die ganze Gemeinde zu büßen! Die Weiber richteten in ihrer Wut den Spötter so übel zu, daß er, als endlich doch die Stadtwache, zögernd und ohne rechte Lust, sich einzumischen und die Wut der Weiber zu bändigen, erschien, ohnmächtig fortgeschleppt und auf Anordnung des Bürgermeisters ins Loch gesteckt wurde, wo man Landstreicher und allerhand verdächtiges Gesindel unterzubringen pflegte, bis sie dann in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die Wut der Weiber, sich ihr Opfer entrissen zu sehen, kehrte sich nun gegen den Bürgermeister und steigerte sich nur noch, als er in seiner Todesangst erklärte, er sei bereit, zur Sühne von seinem Posten zurückzutreten. Da rasten sie bloß erst recht: Ja, jetzt möcht er sich drücken! feig auch noch! und wir müssen's büßen! Nein, er ist's, der den Zorn Gottes heraufbeschworen, an ihm ist's, Gott wieder zu versöhnen! Zitternd fand er sich bereit, die wütenden Weiber zum Herrn Pfarrer zu führen, der eine Bittprozession durch den ganzen Ort zur Sühnung des Frevels und zur Abwehr der drohenden Gefahr anordnen und durchführen sollte. Von den Weibern mehr getrieben, als sie führend, schritt er, immer von neuem wieder beschimpft und bedroht, den wutheulenden, immer wieder in den aufspritzenden Kot versinkenden Weibern unter den durchnäßt tropfenden Regenschirmen voran. Als sie den Pfarrhof erreichten, trat der Pfarrer ans Fenster, eine Schrift in der Hand, Ruhe gebietend. Die Weiber warfen sich in den Schlamm, immer von neuem wieder gegen den Bürgermeister zeternd. Als die Wut doch endlich heiser verstummte, begann der Pfarrer, ein Schriftstück in der Hand, mit klarer, ruhiger, weithin vernehmlicher Stimme: »Meine lieben Pfarrkinder! Beruhigt Euch! Euer Wunsch ist erfüllt! Hier, in dieser Schrift, habt ihr's schwarz auf weiß: ich bin abberufen. Ihr sollt einen neuen Pfarrer kriegen. Nehmt ihn mit Vertrauen auf und lernt auch diese schwere Zeit und die furchtbare Not geduldig und in Demut ertragen, die doch auch nur zu eurem Besten, zu eurem Heil bestimmt ist, wie alles, was der liebe Gott verhängt, sei's über einen Einzelnen, sei's über einen ganzen Ort. Was immer geschieht, der liebe Gott meint es immer gut mit uns. Er will uns nur prüfen, ob wir denn auch das rechte Vertrauen, die rechte Zuversicht, den rechten Gehorsam haben. Zeigt Geduld in eurer Not, dann wird sich auch der liebe Gott gnädig erweisen. Nächsten Sonntag will ich in meiner letzten Predigt hier an diesem alten gesegneten Gnadenort des wundertätigen alten Marienbildes von Maria Pram Abschied von euch nehmen, ich will euch herzlich für alles danken, was mir hier Liebes und Gutes widerfahren ist und ich will mir auch von euch allen, wer immer es sei, Nachsicht und Vergebung erbitten für alles, was ich armer schwacher Mensch beim besten Willen dennoch an euch gesündigt haben mag. Und jeden Einzelnen von euch und dann auch noch euch alle zusammen, die ganze liebe Gemeinde von Maria Pram, will ich um ein gutes Andenken an mich und um das rechte Vertrauen zu meinem Nachfolger und um den rechten freudigen Gehorsam gegen ihn bitten.«

Die Weiber hatten den Priester ruhig angehört. In der großen Stille vernahm man keinen Laut, als den niedertropfenden Regen und das klar durchdringende geistliche Wort. Jetzt aber schrie auf einmal jemand: »Nein! Dableiben!« Und sogleich erklang es von allen Seiten: »Dableiben! Dableiben!« Und vordrängend, immer näher zum Pfarrer hin, mit aufgespannten, sich ineinander verhängenden Schirmen, geriet der Zug so sehr in Unordnung, daß in dem Durcheinander, die einen vordrängend, die andern abwehrend, alle sich verwirrten, und als nun auch noch eine zitternde Greisin, die niedergestoßen worden war, vor Angst, zertreten zu werden, in einem hysterischen Anfall wild aufzukreischen und mit ihrem Schirm wütend um sich zu schlagen begann, versuchte der Pfarrer vergebens, sich vom Fenster aus Gehör zu erzwingen, das Kreischen, der Jammer, das Wehgeschrei der vor Angst sinnlos hier immer nur vorquetschenden, dort wieder zurückschlagenden Weiber verschlang den mahnenden Zuruf. Da wurde plötzlich geschossen. Drei Schüsse fielen. Schon beim ersten lagen mit einem Aufschrei die Weiber auf der Erde. Hell und klar gebot eine Stimme: »Steht's auf und geht's ruhig heim! Aber gleich! Wer aufsteht und macht, daß er fortkommt, dem geschieht nichts. Ich werd jetzt langsam, ganz langsam bis Hundert zählen. Es bleibt euch Zeit genug. Aber wer, wenn ich bis Hundert gezählt hab, noch nicht weg ist, dem kanns schlecht ergehen. Ich kenn keinen Spaß. Gegen das Unwetter ist vorgesorgt, Ihr werdt's schon alles Nötige noch erfahren. Und jetzt fang ich aber zu zählen an. Nur langsam, nicht drängen, alles in Ruhe: eins, zwei –!« Die Stimme schien aus der Ewigkeit selbst zu tönen und sie hatte noch nicht dreißig gezählt, da lag der weite Kirchenplatz schon ganz leer und man hörte wieder nichts als den ungestört eintönig niederrieselnden Regen. Raderer aber, das tutende Schallhorn absetzend, fragte den Pfarrer lächelnd: »Hab ich's Ihnen nicht vorausgesagt, Hochwürden? Nichts einfacher als die wildeste Menge zu bändigen, man muß nur kommandieren können und gleich ist wieder alles in Ordnung! Es liegt offenbar in der Natur der Menschen, sich nichts heißer zu wünschen als ein Kommando! Sie haben keineswegs gehorchen verlernt, aber wir haben leider kommandieren verlernt!«

»Damit ist aber ja doch alles eigentlich nur verschoben,« sagte der Pfarrer, »auf den nächsten Sonntag. Was aber soll ich am nächsten Sonntag den armen Weibern sagen? Es sieht nicht aus, als ob es bis dahin zu regnen aufhören würde. Was dann? Worauf soll ich sie dann vertrösten?«

»Vertrösten Sie sie gar nicht,« antwortete Raderer lachend, »sondern kommandieren Sie!«

»Das ist doch eigentlich nicht mein Amt.«

»Nein? Verzeihen Sie, Hochwürden, aber ich hätte gedacht, das Kommando über die Menschheit wäre recht eigentlich das Amt der Kirche. Doch Sie müssen das ja besser wissen! Ich bin in solchen Fällen immer für Schießen, es gibt meines Wissens kein besseres Argument ad hominem.

»Sie sind Soldat,« sagte der Pfarrer lächelnd, »ich bin Priester. Darin liegt der Unterschied.«

»Ist der Priester nicht auch ein Soldat?«

»Aber ein Soldat Gottes, ein Soldat der ewigen Liebe!«

 

Der Besuch des Bürgermeisters beim Pfarrer verlief in aller Ruhe, doch ergebnislos. Auf den Wunsch des Bürgermeisters, es müsse, wie er sich ausdrückte, von kirchlicher Seite, schon um das Ansehen der Kirche wieder zu »heben«, etwas gegen das Unwetter »veranlaßt« werden, ließ sich der Pfarrer überhaupt nicht ein und wenn er dagegen den Bürgermeister daran erinnerte, wie viele Mariapramer in den letzten Jahren, wenn nicht ungläubig, so doch immer gleichgültiger gegen die Kirche geworden, so leugnete dies der Bürgermeister gar nicht, aber es hätte nicht viel Sinn, über Vergangenes zu reden, statt jetzt nach der Gelegenheit zu greifen, die sich bot und den Leuten einmal zu beweisen, was die Kirche heute noch kann! »Maria Pram ist durch das wundertätige Gnadenbild in der ganzen Welt berühmt, und aus der ganzen Welt kommen Gläubige her, um geheilt zu werden. Ja, da kann man doch mit Recht verlangen, daß das Gnadenbild jetzt auch einmal für die Mariapramer selber was tut! Da würden Hochwürden die Folgen bei den nächsten Wahlen sehen können!«

»Sie sollten sich daran erinnern, daß ich mich um die Wahlen stets sehr wenig gekümmert hab; sie gehn mich nichts an.«

»Leider, leider!« erwiderte der Bürgermeister, »das war ja der Hauptfehler! Hochwürden haben damit nur den Gegnern Mut gemacht, das müssen's doch jetzt selber einsehn.«

Der Pfarrer schwieg mit einer so stolz abweisenden Miene, daß der Bürgermeister erst nach einer Pause fortfuhr: »Aber irgend etwas wird ja jetzt geschehn müssen, sonst wird sich jeder sagen, da sieht man wieder, daß gerade wenn die Not am höchsten ist, auch die Kirche nicht helfen kann. Jetzt wird sich's zeigen! Jeder Tag, den es weiter regnet, ist nur neues Wasser auf die Mühle von dem frechen Dittl!«

Der Pfarrer erwiderte: »Wenn es Ihnen nächsten Sonntag vielleicht Ihre Zeit, Herr Bürgermeister, ausnahmsweise doch einmal erlaubt, dem Hochamt beizuwohnen, so werden Sie hören, wodurch ich, sofern es im Rate Gottes nicht anders beschlossen ist, unserer Gemeinde helfen oder doch jedenfalls ihr Vertrauen zu Gott stärken zu können hoffe.«

»Mehr hab ich ja gar nicht verlangt, Hochwürden, dann is schon alles in Ordnung, das genügt mir vollständig!« Und er entfernte sich, eilig dankend. Der Priester sah ihm lächelnd nach, er kannte den Mann, dem es nur darauf ankam, für alle Fälle die ganze Verantwortung auf den Pfarrer abzuwälzen. Er sagte sich: ich krieg aber wenigstens wieder einmal meine Kirche voll und wenn darunter nur zehn sind, ja, wenn es ein einziger ist, der in sich geht, zu sich kommt und sich seiner Christenpflicht entsinnt, so wär ich doch weit über Gebühr für all den kleinen Ärger und Verdruß belohnt!

Am nächsten Sonntag war die Kirche so voll, wie sie der Pfarrer überhaupt noch nie gesehen hatte. Das Herz schlug ihm, als er auf die Kanzel trat. Er sprach von der unerschöpflichen Liebe Gottes zu den Menschen, die sich niemals gewaltiger offenbart, als wenn er sie zu züchtigen scheint. Wenn ein Vater sein Kind straft, leidet er mit, ja er leidet dabei selbst weit mehr als das Kind, das er straft. Er muß es strafen, um es zu retten; es geht sonst verloren. Wenn nun schon einem irdischen Vater die Hand zittert bei jedem Streich und er dabei selber mehr leidet als das heulende, doch im nächsten Augenblick schon wieder vergessende Kind, wie schwer muß es erst dem Allerbarmer im Himmel sein, den Geboten seiner ewigen Gerechtigkeit zu gehorchen! Seine Langmut ist unendlich, er klopft erst ganz leise, seine Milde scheint unerschöpflich, er klopft stärker, er zögert noch immer zu strafen, er gibt immer wieder ein warnendes Zeichen und wenn alles vergeblich, alle Warnung, alle Mahnung ungehört bleibt und er schon die strafende Hand erheben will, fällt ihm erst noch der mächtige Chor der englischen Scharen, der himmlischen Gewalten, der Seraphim und Cherubim fürbittend in den strafenden Arm und der Liebesblick unserer lieben Frau, der Vermittlerin und Verwalterin aller Gnaden, schmelzt seinen gerechten Zorn. Was der Mensch in seiner Torheit Unglück nennt, darin ist wie in einer Kapsel Seligkeit versteckt; es liegt nur an uns, die Kapsel zu öffnen und nach der Seligkeit zu greifen. Wenn nach so vielen gesegneten Jahren, deren sich unser Ort erfreuen durfte, jetzt böse Tage drohen, Tage der Warnung und der Mahnung, o so lasset uns darum nicht gleich verzagen, lasset uns nicht unmutig, nicht kleinmütig werden, sondern darin ein Zeichen erkennen, daß offenbar in uns, und nicht etwa bloß in diesem oder jenem, sondern in uns allen, wer es auch sei, hoch oder niedrig, nicht alles dem lieben Gott gefällt, nicht alles recht, nicht alles in Ordnung ist und so lasset jeden von uns, wer es auch immer sei, reumütig erkennen, daß er gefehlt, daß er gesündigt, daß er sich der hohen Gnaden, deren unser Ort seit uralten Zeiten immer wieder gewürdigt worden ist, unwert erwiesen hat! O meine lieben Pfarrkinder, wälzt nicht einer die Schuld auf den andern, zeigt nicht jeder mit dem Finger auf den Nachbar, sagt nicht: Jener oder dieser ist schuld, sondern bekennt: wir alle sind schuld, alle miteinander! Und so gehe jeder in sich selbst, rechte jeder mit sich selbst, spreche jeder zu sich selbst: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa! Schone keiner sich selbst, klage jeder sich selber an, ich will euch das Beispiel geben, ich will der Erste sein, der sich anklagt vor der ganzen Gemeinde! Auch ich bin schuld und ich bin es mehr als irgend ein anderer unter euch, mehr als der Letzte von euch und wenn selbst der heilige Franziskus, der seraphische Gottesmann, sich angeklagt hat, der schlechteste von allen Menschen auf Erden zu sein, wohin soll erst ich flüchten, wohin mich vor Gottes rächendem Zorne verkriechen, ich Elendester, Erbärmlichster, Schändlichster unter allen Sündern? Ich kann euch nur anflehen: Verzeiht mir, verzeihe mir jeder unter euch, wer es auch sei, verzeiht mir, was ich an euch gesündigt habe! Dies ist ja meine letzte Bitte an euch, denn der liebe Gott hat verfügt, daß ich ja heute zum letzten Male auf dieser Kanzel stehe, von dieser Kanzel spreche, zum letzten Male euch segne! Denn ich bin abberufen, das Schreiben des Bischofs von Linz ist eingetroffen, euer Wunsch wird erfüllt, ihr sollt einen neuen Pfarrer haben, beweist euern Dank dadurch, daß ihr ihm von Anfang an das Vertrauen, den willigen Gehorsam und die Liebe darbringt, die meiner aufrichtigen aber unzulänglichen, kraftlosen Bemühung versagt geblieben sind!«

Die Predigt des Pfarrers war anfangs zunächst ruhig angehört worden, mit der üblichen Spannung in den andächtigen Mienen, von der man nicht recht weiß, ob sie ein Zeichen innerer Teilnahme oder bloß der heftigen Anstrengung nicht zu gähnen ist. Pfarrer Modl, von Jugend auf ein guter Sprecher, mit allen Finessen ciceronianischer Beredtsamkeit vertraut, hatte sich gleich anfangs in Maria Pram eben durch seinen kunstvollen Vortrag unbeliebt gemacht, man fand ihn »gespreizt« und gedachte wehmütig seines Vorgängers, der wirklich zu den Herzen gesprochen hatte, tauben Herzen offenbar, denn er hätte sonst nicht so brüllen müssen. Auch rang er beschwörend die Hände, ballte sie zu drohenden Fäusten und schlug so gewaltig auf den Rand der Kanzel ein, daß es auch den ältesten Großmüttern nicht gelang, in ihrem Schläfchen ungestört zu bleiben. Mit diesen Erinnerungen an seinen Vorgänger hatte Modl schwer zu kämpfen und er fragte sich selber zuweilen, ob es nicht im Grunde doch bloß Eitelkeit von ihm war, wenn er sich bemühte, seinen Predigten eine möglichst vollendete Form zu geben. Graf Gandolf war dagegen: eine Predigt habe kein Kunstgenuß, habe nicht zum Vergnügen von Feinschmeckern zu sein, sondern zur allgemeinen Erbauung und zwar gerade zur Erbauung derjenigen bestimmt, denen sonst überhaupt jede Gelegenheit dazu fehlt. Wenn ich, argumentierte der Graf, wenn ich mich bei der Predigt langweil, so kann ich mich ruhig gedulden, für mich gibt es andere Gelegenheiten zu geistiger Anregung genug, für unsere Dorftrotteln aber nicht! Die haben nichts als die Predigt am Sonntag, bei der sie doch irgendwie dumpf inne werden, daß offenbar immerhin noch irgendein Unterschied zwischen ihnen und dem gemeinen Vieh zu sein scheint. Pfarrer Modl, ohne übrigens diesen Argumenten zu widersprechen, gestand ein, daß es ihm beim besten Willen einfach nicht gelang, den rechten Ton für das gemeine Volk zu treffen. Ihm schwebte der heilige Franz von Sales vor, dem es doch gelungen war, sich auch in der Volkspredigt als Sprachkünstler höchsten Ranges zu bewähren. »Aber nicht in Maria Pram,« erwiderte der Graf trocken, »hier hätten's das auch dem Salesier schon in der ersten Woche gleich ausgetrieben!« Daran erinnerte sich der Pfarrer unwillkürlich, als er nun zum letztenmal auf dieser Kanzel stand, seltsam bewegt durch die Totenstille der atemlos an seinem Munde hängenden, gleichsam mit seinen Worten verwachsenden Hörer. Er hatte sich das oft so heiß gewünscht, bis er, immer wieder enttäuscht, schließlich den Glauben verlor, daß es überhaupt möglich sei. Jetzt aber, in der fast beklemmenden Stille, kam ein ihm bisher völlig fremdes Gefühl über ihn, nämlich als ob es gar nicht er wäre, der da sprach, und auch die gewohnten Hörer, die er doch alle beim Namen kannte, waren plötzlich wie verwandelt und als lägen ihre Herzen vor ihm bloß und es kam ein unsägliches Erbarmen mit aller Kreatur über ihn! Er konnte plötzlich nicht weiter, er hätte sonst weinen müssen und indem er den Anfall überwand, entstand eine Pause, kaum einen Atemzug lang, aber schon schluchzte jemand in der gedrängten Menge laut auf und, wie davon angesteckt, weinten alle. Dies gab ihm wieder Kraft und mit mächtiger, fast herrisch gebietender Stimme, begann er nun die Hörer an ihre Pflicht des Gehorsams gegen seinen Nachfolger, den neuen ihnen vom Bischof verordneten Pfarrer, strenge zu mahnen. »Er kommt nicht, um nach euren Wünschen zu fragen, er hat euch nicht zu gefallen, das ist nicht sein Amt, er hat seine Pflicht zu tun und ob er seiner Pflicht genügt, darüber steht keinem von euch ein Urteil zu! Irrt er, fehlt er, wovon kein Mensch auf Erden, auch der reinste, gütigste, frömmste nicht, sich hier auf Erden gesichert fühlen darf, so wird er das zu büßen haben, aber nicht euch steht es zu, mit ihm darüber zu rechten, das gebührt euch nicht, euch gebührt Vertrauen, Gehorsam und Ergebung! Ist es mir, während ich euer Pfarrer war, geschehen, daß ich einem von euch Unrecht tat oder es an der rechten Geduld mit ihm, an der alles versöhnenden Liebe fehlen ließ, so will ich dies von ganzem Herzen bereuen und ihn hiermit um Verzeihung bitten. Und nun wollen wir gemeinsam unsere liebe Gottesmutter anrufen, die Verwalterin und Vermittlerin aller Gnaden, durch deren reine Hand alle Tröstung und alle Stärkung von oben kommt, und von ihr erflehen, sie möge den Eintritt meines euch verordneten Nachfolgers segnen, so daß er, stärker als mir gegeben war, euren Trotz zu brechen und euch zu demütigen vermöge!«

Während der Pfarrer niederkniete, stieg ein solches Schluchzen empor, daß er alle gewohnte Selbstüberwindung aufbieten mußte, um nicht selber laut aufzuweinen. Auch nach dem Gebet blieb alles ungewohnt still. Der Eindruck war so stark, daß niemand aufzublicken wagte. Sie sahen still vor sich hin, voll Scham, einander ihre tiefe Rührung und Ergriffenheit merken zu lassen. Graf Gandolf war gewohnt, nach dem Hochamt auf dem Platz vor der Kirche noch eine Zeitlang zu verweilen und, einen oder den andren heranwinkend und durch einen Händedruck auszeichnend, gewissermaßen, Cercle zu halten. Er wunderte sich, daß ihn die Gräfin bat, heute lieber gleich heimzukehren. Das geschah, Raderer schloß sich an, alle drei schwiegen.

Bei Tische sagte der Graf: »Ja, Kinder, die Predigt war ja wirklich sehr schön, unser verehrter Herr Pfarrer hat sich selbst übertroffen, aber das ist ja schließlich kein Grund für uns, melancholisch zu werden! Ich sehe darin, daß man ihn abberuft, trotz der albernen Petition abberuft, nur einen Beweis, daß Größeres für ihn und mit ihm geplant wird. Um ihn ist mir nicht bang, die Opfer sind wir, denn wer weiß, welcher Klachl uns zugedacht ist! No, warten wirs halt ab!«

Die Gräfin sagte: »Du hast ganz recht, wir wollen es ihm herzlich gönnen und schließlich wird er ja auch als Gesellschafter, so gern ich ihn hatte, nicht unersetzlich sein. Wenn dir auffällt, daß ich stiller bin als sonst, so hat das einen anderen Grund. Ich muß gestehen: mich hat seit langer Zeit nichts so tief bewegt als diese Predigt. Ja, lach nur! Du nennst mich immer eine Ketzerin –«

»Im Spaß!«, fiel der Graf abwehrend ein.

»Nein,« sagte die Gräfin nachdrücklich, »nein, Gandolf, oder doch jedenfalls nicht bloß im Spaß! Denn du weißt ganz genau, daß ich meine religiösen Pflichten eigentlich doch bloß als Standespflichten erfülle.«

»Das genügt ja!«

»Ja, dir genügt das! Dir genügt, daß sich die Gräfin Ahamb als eifrige Katholikin zeigt. Das ist dein Wunsch, diesen Wunsch hab ich stets erfüllt, das genügt dir und was ich mir bei meinen Gebeten, hier im Schloß oder in der Öffentlichkeit, eigentlich denke, woran ich dabei denke, ob ich mir überhaupt dabei was denke, was ich dabei fühle, darum hast du mich nie gefragt, das interessiert dich weiter nicht!«

»Gedanken«, sagte der Graf, »sind zollfrei, gar aber Gefühle sind es erst recht! Wir haben unsere Pflicht zu tun, so gut es uns gelingt, mit Aufgebot unseres ganzen Willens: um den guten Willen handelt es sich! Was aber dabei herauskommt, das liegt nicht in unserer Macht und so sind wir nicht dafür verantwortlich. Gefühle zu heucheln wäre Sünde, schon weil dabei doch nichts herauskommt. Wer die Gebote der Kirche hält, hat seine Christenpflicht erfüllt. Sich Gefühle vorzutäuschen oder gar anzuschwindeln verlangt die Kirche sicherlich nicht, schon darum nicht, weil sie, die große Menschenkennerin, zu gut weiß, daß sich Gefühle nicht kommandieren lassen. Und auf Heuchler verzichtet sie lieber.«

Nach einer Pause sagte die Gräfin leise: »Ich bin aber halt doch sehr froh, jetzt endlich einmal nicht bloß eine Pflicht erfüllt, sondern dabei selbst in mir etwas ganz Großes und Starkes erlebt zu haben!« Und da der Graf schwieg, fuhr sie nach einer Pause lächelnd fort: »Verboten ist das ja doch schließlich nicht? Eine besondere Freude scheint es dir ja nicht gerade zu bereiten?«

Der Graf blickte lächelnd auf und sagte: »Nein, mißversteh mich nicht! Ich laß dir sehr gern dein Vergnügen! Es hat mich bloß, offen gestanden, im ersten Augenblick etwas überrascht, es zeigt dich mir von einer neuen Seite, die dich mir aber ja nur noch lieber macht.« Und zu Dr. Raderer fuhr er fort: »Sagen Sie, lieber Oberst, Sie kennen ja Hedwig viel länger als ich, Sie kennen sie von klein auf – hätten Sie je gedacht, daß sie fromm ist, was man so richtig fromm nennt?«

»Fromm? Ja, da müßten wir uns doch aber erst einigen, was man denn eigentlich unter fromm zu verstehen hat. Und mein Urteil ist da ziemlich laienhaft. Aber was man, wie Sie sich ausdrückten, so richtig fromm nennt, das wird sie wohl sein oder das Wort hat überhaupt keinen Sinn. Kann man denn übrigens auch unrichtig fromm sein?«

»Du wirst,« sagte der Graf, den Obersten plötzlich wieder duzend, was stets ein Zeichen seines Behagens war, »Du wirst gleich verstehen, was ich mit richtig fromm mein, du mußt es dir bloß übersetzen: auf griechisch heißt es: orthodox.«

»Nein das natürlich nicht!«, versicherte Raderer lebhaft, das durchaus nicht – das heißt, ich weiß es ja nicht, aber soweit ich die Gräfin zu kennen glaube, kommt es ihr sicherlich nicht so sehr auf Dogmen an als auf ein umfassendes tiefes reines Gefühl der Gegenwart Gottes. Wie wir ihn uns denken und welches Bild wir von ihm haben, wird dabei gar erst nicht gefragt, sondern uns genügt, daß wir seiner gewiß sind.«

»Und das ist es ja,« sagte die Gräfin lebhaft, wodurch mich die Predigt des Pfarrers heut so bewegt hat und was ich doch sonst so oft, ja ich muß schon sagen: eigentlich fast immer beim Gottesdienst entbehre: gerade diese nicht bloß, weil es im Katechismus steht, angenommene, sondern unmittelbar und auch wenn wir vorher noch nie davon gehört hätten, empfundene lebendige Gegenwart Gottes, von der ein Glanz heute bei der Predigt auf allen Gesichtern lag!«

Nach einer Pause sagte der Graf: »Ich gönn dir ja gewiß dein schönes Erlebnis von ganzem Herzen, aber ich bin nun einmal ein unverbesserlicher Pedant und so darfst du mir's schon nicht übel nehmen, wenn ich dich vor einer Überschätzung warne, zu der du ja überhaupt neigst, vor einer Überschätzung, die stets gefährlich ist, in allen menschlichen Beziehungen, gar aber in Glaubensfragen: vor der Überschätzung schöner Gefühle! Nicht bloß mit guten Vorsätzen, sondern vor allem mit schönen Gefühlen ist der Weg zur Hölle gepflastert! Schöne Gefühle führen wie zu den reinsten Taten oft genug, ohne sich's merken zu lassen, auch zu den schlimmsten, denn gerade das schöne Gefühl ist ja stets sofort bereit, sich zu verwirren, sobald es meint, dadurch vielleicht noch an Intensität gewinnen zu können. Es ist ein begreiflicher, aber sehr gefährlicher Irrtum, wenn wir uns einbilden, daß ein Gefühl mit jedem Grad, um den wir es steigern, immer reiner und besser wird, daß mit der Intensität zugleich auch die Qualität wächst. Nein, durchaus nicht! Eher umgekehrt: sobald ein Gefühl, auch das reinste, ja gerade dieses ganz besonders, einen bestimmten Hochgrad erreicht, gerät es immer in Gefahr, plötzlich umzuschlagen und Unheil anzurichten! Ja ich weiß schon, lieber Oberst, ich seh's Ihren Augen an. Sie spotten: aurea mediocritas! Aber je mehr ich dem Treiben der Menschen und was dabei herauskommt, zuseh, desto klarer wird mir, daß auch der höchste Sinn, auch der beste Wille, wenn er den sogenannten schönen Gefühlen die Leitung überläßt, zuschanden wird. Ich hab's zu oft erlebt und wenn ich Kinder hätt, so wär meine größte Sorge, sie vor schönen Gefühlen zu bewahren, denn nur ein ganz hoher Geist kann sich diesen gefährlichen Luxus erlauben! Wir haben's ja an unserem lieben Pfarrer Modl erlebt, den ich achte, schätze, verehre, bewundere, der mir so lieb und wert ist wie nur ganz wenige Menschen und der doch schließlich mit seiner ganz außerordentlichen Begabung, dem besten Willen und einem bewundernswerten Pflichtgefühl, niemals an sich denkend, es allen so gut meinend, mit allen diesen Tugenden doch nur den ganzen Ort, den der frühere Pfarrer, keineswegs ein Kirchenlicht und noch weniger ein Tugendbold, spielend in Ordnung hielt, schließlich bloß in heillose Verwirrung und sich selbst dabei noch um alles Ansehen oder jedenfalls um alle Macht über die Gemüter gebracht hat oder über das, was halt hierzulande die Stelle des Gemüts vertritt!«

»Ja willst jetzt gar auch du noch«, fragte Gräfin Hedwig, »Partei gegen unseren lieben Pfarrer nehmen? Irgendwo muß schließlich doch deine Lust am Paradoxen eine Grenze haben! Gandolf, Gandolf!«

»Unserem guten Modl wird es nicht fehlen, die leise Kränkung ist bald vergessen, um ihn ist mir nicht bange. Aber wir sind zu bedauern, und ich ja noch weit mehr als du, denn dir bleibt immerhin dein Raderer!« Das klang so gereizt, daß Raderer und die Gräfin einander fragend anblickten. »Ich dachte,« sagte sie dann, »er gehörte uns beiden. Aber wenn du mir ihn zedierst –?«

»Begreifst du denn,« fragte der Graf in einem zwischen Verdruß und Laune schwebenden Ton, »bemerkst du denn noch immer nicht, daß ich die Qualen rasender Eifersucht in vollen Zügen ausschlürfen will?«

Die Gräfin nahm seinen labilen Ton auf: »Ach so! Verzeih, ich hab das gar nicht bemerkt, du fängst auch etwas spät damit an! Aber wenn's dir Spaß macht, gern! Aber muß es gerade der Oberst sein? Und vergiß nur nicht, daß ich ja sehr dagegen war, ihn einzuladen! Es geschah bloß auf deinen ausdrücklichen Wunsch, der mir eben immer Befehl ist, und da du mir jetzt auf einmal befiehlst, mich in ihn zu verlieben, will ich mich halt bemühen!«

»Ja bitte,« sagte der Graf, »bitte, bemühe dich. Seit du, lieber Raderer, unterversehens die Hauptperson von Maria Pram geworden bist, was eigentlich ja nicht sehr für dich spricht, uns aber nur recht sein kann, wir haben wenigstens einen Beschützer, das ist sehr angenehm für uns, aber warum machst du dich so rar? Man könnt fast meinen: du meidest uns! Und ich – ich langweile mich! Du darfst das nicht nach Frauenart persönlich nehmen, Hedi! Es ist nicht deine Schuld! Es kommt in den besten Ehen vor, es gehört sogar gewissermaßen dazu, es ist das Kennzeichen einer guten Ehe: nur in schlechten Ehen langweilt man sich nie, da geht immer etwas vor! Aber schau! Pfarrer Modl geht fort, sein Nachfolger, vielleicht gewarnt sich nicht auch gleich wieder durch gute Beziehungen zum Schloß zu kompromittieren, oder vielleicht auch bloß aus Schüchternheit, aus einer gewissen Verlegenheit, meidet uns und wir haben keinen Grund, uns ihm aufzudrängen; er sieht nicht übermäßig amüsant aus. Und nun machst auch du dich noch rar, Raderer! Warum? Was hast du auf einmal? Mir wirst du nicht einreden, daß du dein neues Amt auf einmal ernst nimmst und wirklich die Buchführung des Bürgermeisters überprüfst! Was aber soll ich anfangen, mir einen endlosen Regentag um den anderen zu vertreiben? Patiencen legen? Oder gar Romane lesen? Das wär übrigens noch eine Idee! Und jedenfalls originell! Wer liest denn heut noch Romane? Der arme Romanschreiber kann an Einfällen doch längst mit dem Leben nicht mehr konkurrieren! Jede Zeitung überbietet an Aufregung den Grafen von Monte Christo und die Geheimnisse von Paris, die Romanschreiber kommen den Journalisten in der Kunst des Lügens längst nicht mehr nach. Schon in meiner Jugend lasen Männer keine Romane mehr. Mein Großvater verschlang sie noch leidenschaftlich, im Archiv liegen ganze Stöße von Exzerpten aus Romanen von Gutzkow, besonders aus dem Zauberer von Rom. Was ich davon las, kam mir ziemlich konfus vor. Offenbar fing das damals schon an, daß Romane den Ehrgeiz haben, keine Romane mehr zu sein. Ich aber hätte Lust, jetzt wieder einmal einen richtigen Roman zu lesen, einen Roman, wo man dann nachher schimpft, weil der Durcheinander eigentlich doch zu dumm ist, den man aber doch die ganze Nacht durch nicht aus der Hand geben kann, bevor man weiß, wie das schließlich ausgeht. Das muß es doch auch heute noch geben, oder haben die Dichter jetzt gar kein Talent mehr?«

»Das ist ein herrlicher Einfall! Laßt uns Romane lesen!«, rief Raderer. »Es gibt nichts schöneres auf der Welt!«

»No siehst du, Hedi, dem Obersten wirst du's ja glauben. Es stellt sich eben wieder einmal heraus, daß mein Instinkt immer gut ist!«

»Daß Sie,« sagte die Gräfin, »gerade Sie, lieber Oberst, ein Romanleser sind, hätte ich mir nie träumen lassen! Das stimmt irgendwie nicht.«

»Ich bin's auch erst sehr spät geworden, ganz unversehens. In meiner Jugend lasen Romane bloß Frauen mit Migräne auf dem Sofa. Ich kannte bloß einen einzigen Roman, den Don Quixote – warum man das tiefste Buch der Weltliteratur, dessen Gehalt wahrscheinlich erst ein Greis von der reifsten Lebenserfahrung ausschöpfen kann, mit Vorliebe gerade Kindern in die Hand gibt, so daß es den meisten Erwachsenen unbekannt bleibt, weiß ich nicht. Mir fiel dann jahrelang nicht ein, Romane zu lesen, die, wie sie prätendieren, naturalistischen schon gar nicht, die sind ja zu dumm! Das Leben läßt sich nicht abschreiben, und was hätt ich auch von der Abschrift? Dasselbe Leben noch einmal, in einem zweiten Exemplar? Wozu? Ich hab schon an dem einen genug, am Original. Nein, was ein wirklicher Roman ist, erfuhr ich erst, als ich in einem Unterseeboot an ein zerlesenes Büchl geriet, das irgendwie von irgendwem da liegengeblieben war: ein Roman von Balzac, in einer elenden Übersetzung, die Cousine Bette. Ich hatte nie was von Balzac gelesen. Ich kannte den Namen kaum, ich verschlang das Buch und gleich danach auch den Père Goriot und was ich nur erwischen konnte von Balzac! Aber ich kam doch immer wieder zur Cousine Bette zurück, die ist doch das Schönste. Da geht einem auch erst auf, wozu Romane geschrieben und gelesen werden: der Sinn und der Zweck der ganzen Übung!«

»Dich hat's halt besonders stark gepackt,« sagte der Graf, »weil du selbst ein geborener Romanheld bist. Sehr merkwürdig bei deiner Begabung für alles Technische – sonst verträgt sich das selten!«

»Ausgezeichnet verträgt es sich! Es kommt nur darauf an, was du damit meinst! Wenn, wie ich jetzt entdeckt zu haben glaube, wenn das, was uns als Wirklichkeit gilt, wenn das nichts als Schein oder im besten Fall eine so tief verschleierte Wahrheit ist, daß wir sie nicht erkennen können, und wenn nur in Romanen von dieser seltenen Art des Don Quixote oder der Cousine Bette die Hülle fällt oder jedenfalls, sei's auch nur für einen Augenblick, einen Zipfel der Wahrheit sehen läßt, dann will ich gern ein Romanheld heißen, ich kann mir gar nichts Besseres wünschen!«

»Gib uns nicht Rätsel zu knacken!«, sagte der Graf. »Du bist auch so der Damenwelt schon interessant genug!«

»Wenn einer sich wünscht,« fuhr Raderer eifrig fort, »ein Romanheld zu sein, was meint er damit eigentlich? Es gibt Leute, die fortwährend jammern, sie möchten so gern auch einmal einen Roman erleben, aber es glückt ihnen nicht, in ihrem Leben geht nichts vor, während wieder anderen, die sich's gar nicht wünschen, die lieber endlich schon einmal Ruh hätten, fortwährend etwas passiert. Wer darauf wartet, dem passiert nie was. Woran liegt das? So hab ich mich auch lange vergebens gefragt, bis mir eines Tages jemand, so ganz nebenher, sagte, das Leben sei überhaupt unverständlich ohne den schaffenden Spiegel. Das Wort frappierte mich. Ein schaffender Spiegel? Was ist das? Gibt's denn das? Wie soll ein Spiegel schaffen können? Ein Spiegel spiegelt ab, je reiner, desto besser. Aber dadurch entsteht doch nichts! Ein Spiegel verhält sich doch ganz passiv, er fängt auf, weiter nichts. Dann aber fiel mir freilich ein: wenn er auffängt, ist er denn dabei bloß passiv? Fangen enthält doch selber schon eine Tätigkeit, fangen ist ja schon aktiv! Wenn ich etwas fangen, auffangen, einfangen soll, dann bin ich doch nicht mehr bloß empfangend, sondern der Ball, der mir zufliegt, will doch nun erst noch von mir ergriffen, angepackt und festgehalten oder abgewehrt und zurückgeschlagen sein, und wofür immer ich mich entscheide, niemals bin ich dabei bloß passiv, immer ist es das Ergebnis einer Aktion. Auch wer faul im Grase liegt und bloß den Wolken am Himmel zusieht, ist ja damit allein schon in voller Tätigkeit, denn das Leben selber ist schon ein Tun, das Auge nimmt ja nicht bloß auf, es empfängt nicht bloß, sondern sogleich tritt es nun selbst in Aktion, es nimmt keineswegs bloß hin, was ihm gegeben wird, sondern es gibt nun selber dem Gegebenen etwas, es gibt ihm aus sich etwas hinzu, es tut ihm etwas an, ohne diese Tätigkeit würde daraus doch niemals ein Bild, es würden gar keine Wolken am Himmel daraus, jeder Blick von uns ist schon eine Tat und so gewahren wir, daß auch unser Auge selbst ein solcher schaffender Spiegel ist.«

»Sehr interessant, das alles, aber wir sprachen eigentlich von Romanen!«, mahnte der Graf sanft.

»Ich spreche doch von nichts anderem! Denn was ist denn ein Roman sonst als ein solcher schaffender Spiegel? Ich mein natürlich einen richtigen Roman.«

»Von der Courths-Mahler also? Der Gräfin leuchten schon die Augen!«

»Ich weiß gar nicht, warum die Literaten sich über die Courths-Mahler so sehr erbosen, sie haben's wirklich nicht nötig! Ich bin da ganz unbefangen, auch mein Geschmack ist sie gerade nicht, aber ich muß schon sagen, daß sie für mich dem Wesen und der Funktion des Romans immerhin noch näherkommt als die Literaten, die zu meinen scheinen, daß der Roman ein Ragout aus Weltanschauungen und Lesefrüchten ist.«

»Was aber soll er nach deiner Ansicht?«

»Was er sein soll, das weiß ich nicht, es geht mich auch gar nichts an, ich will ja keinen schreiben. Ich bemüh mich nur zu verstehen, wodurch die paar Romane, die mir einen großen Eindruck machen, besonders also der Don Quixote und die Cousine Bette, so stark auf mich wirken. Ich las sie zunächst auch, als ob sich, was darin erzählt wird, wirklich in unserer wirklichen Welt abgespielt hätte. Der naive Leser nimmt alles für bare Münze. Er liest einen Roman kaum viel anders als Nachrichten in einer Zeitung; der Unterschied ist doch auch eigentlich nur, daß der Roman gar nicht Wahrheit prätendiert, während Zeitungen sich den Anschein geben, als ob ihre Nachrichten nicht erfunden wären. Erst auf einer höheren Stufe der Entwicklung, der wir uns jetzt zu nähern scheinen, werden auch die Zeitungen gewahr, wie wenig den Leser wahre Nachrichten interessieren. Der Leser will gar nicht Wirklichkeit, die hat er ja schon, er hat sie fortwährend, er hat von ihr mehr als genug, sie langweilt ihn, er wünscht sich nichts sehnlicher, als sie los zu sein, sei's auch nur für einen Augenblick; und bloß weil die Zeitungen sich doch in diesem Punkte seinen Wünschen noch immer nicht völlig anpassen, greift er nach Romanen, er will durchaus nicht Wirklichkeit, die hat er ja satt; und so sind wir unversehens wieder beim schaffenden Spiegel! Wirklichkeit langweilt uns: was soll uns ein Spiegel, der bloß abspiegelt? Nur wenn er uns eine bessere Welt vorzuspiegeln wüßte, dann ja, dann her mit ihm!«

»Du verlangst also von der Kunst, daß sie lügen soll«, sagte der Graf.

»Lügt die Musik?«, fragte Raderer. »Für mein Gefühl ist alle Kunst eigentlich immer nur ein Versuch von Musik. Gefrorene Musik hat man die Baukunst genannt und irgendwie Musik zu werden, als Musik zu wirken, strebt doch jede Kunst an, wenn auch mit anderen Mitteln, meistens mit unzulänglichen. Musik hat vor den anderen Künsten schon das voraus, daß sie gar nicht erst versucht, uns etwas vorzutäuschen. Nur Narren erkühnen sich, ihr Gewalt anzutun, als ob sie schildern könnte. Beim ersten Takt aber schon fühlen wir uns aus dieser Welt entführt, die Wirklichkeit ist verbannt, wir sind weg! Schau dir nur die Gesichter von Menschen an, wie sie sich verwandeln, wenn sie Musik hören, Haydn oder Mozart, Bach oder Beethoven, es ist ganz gleich, die Wirkung bleibt im Grunde dieselbe: sie sind weg! Weg von der Wirklichkeit, weg vom gewohnten Leben, weg von sich selbst oder richtiger: weg zu sich selbst! Das nennt man dann: außer sich sein, denn es ist schon einmal so, daß der Mensch außer sich sein muß, um zu sich selbst zu kommen. Die Musik macht die Menschen nicht besser. Eine Viertelstund später sind sie wieder geradeso gemein, sie sind dann wieder bei sich. Aber daß sie doch einmal, wenn auch bloß eine halbe Stunde lang, außer sich waren und das fortan niemals wieder vergessen können, in dieser Erinnerung ruht der Zauber, ruht die beglückende Macht der Musik! Alle anderen Künste wetteifern darin mit ihr, sie streben dieselbe Wirkung an, wenn auch nur sehr selten mit demselben Erfolg. Das Ohr des Menschen ist offenbar recht eigentlich sein Organ zur Verbindung mit der Ewigkeit. Es gibt freilich auch Menschen, die mit Augen hören, und andere wieder, denen dazu gar schon ein Parfum genügt, sie riechen sozusagen die Ewigkeit! Es ist eben ganz individuell, aber jeder hat sein Telephon zur Ewigkeit! Meins ist der Roman, übrigens auch erst, seit mir am Don Quixote und an der Cousine Bette aufgegangen ist, was wir an einem Roman, an einem richtigen Roman haben können: alle Geheimnisse der Ewigkeit in einer Nußschale!«

»Wenn ich dich recht versteh,« sagte der Graf nachdenklich, »so wäre, was wir erleben, die ganze Wirklichkeit also, zwar keineswegs bloß, wie wir oft zu meinen geneigt sind, Traum, Schein und Trug, sondern im Grunde schon Wahrheit, aber gewissermaßen eine aus dem Leim gegangene, deren Buchstaben in einen solchen Durcheinander geraten sind, daß sie keinen Sinn mehr geben; die Romanschreiber aber versuchen nun diese durcheinandergewurstelten Buchstaben so zusammenzusetzen, daß es doch wieder halbwegs einen Sinn ergibt?«

»Vortrefflich!«, sagte Raderer. »Und meistens gelingt das natürlich den Romanschreibern nicht. Im Gegenteil, sie bringen die Buchstaben nur noch mehr durcheinander, die Verwirrung wird stets ärger. Es genügt eben nicht, die Buchstaben bloß auf gut Glück zu schütteln. Das ist ja der Zauber des Don Quixote und der Cousine Bette, daß da nicht auf gut Glück geschüttelt, sondern einfach einmal wieder der richtige Text des Lebens hergestellt wird!«

»Der richtige Text! Ja, das meint jeder! Wie willst du denn aber beweisen, wer ihn hat? Da kommen wir dann schließlich wieder zum Naturalismus, der einfach das Leben abschreibt.«

»Aber nein! Im Gegenteil!«, sagte Raderer, sich ereifernd. »Wer das Leben abschreibt, gibt uns doch eben nur die Verwirrung wieder, in die die Buchstaben geraten sind, statt, worauf es doch eben ankommt, das Alphabet des Daseins wieder in Ordnung zu bringen! Ich will dir an einem Beispiel zeigen, was ich mein, an unserem eigenen Beispiel. Uns alle, dich, den Pfarrer Modl, seinen Nachfolger, den Bürgermeister, mich und so weiter hat hier in dem alten Gnadenort von Maria Pram der Zufall zusammengeweht. No es is eigentlich ganz schön! Und es muß doch aber auch einen Sinn haben! Wie wir einmal organisiert sind, sehen wir uns jedenfalls gezwungen, allem was wir erleben, einen Sinn zu geben. Du gibst ihm einen, die Gräfin auch, ich auch, aber das ist doch im besten Fall mein Sinn, dein Sinn, der Gräfin Sinn und so weiter, aber durch bloßes Addieren kriegen wir noch immer nicht den Sinn heraus, den das Ganze hat, den Sinn des Lebens von Maria Pram in dieser Zeit!«

»Du meinst, daß es einen Sinn hat? Du bist ein unverbesserlicher Optimist!«

»Wenn ich's nicht meinte,« sagte Raderer, »erschieß ich mich ja heute noch! Denn dann lohnt es doch wirklich nicht die Mühe, täglich wieder aufzustehen, sich zu waschen, anzuziehen und lauter solche fade Sachen! Ich kann nur leben, wenn es einen Sinn hat. Dieser Sinn bleibt mir unbekannt. Aber ich geb meinem Dasein, das ja ein Stück des Lebens von Maria Pram ist, einen Sinn und du tust das auch und jeder tut's, aber dein Sinn und mein Sinn und der Sinn des Bürgermeisters zusammen ergeben keinen gemeinsamen Sinn, denn das Leben von Maria Pram sieht in jeder Perspektive ja wieder ganz anders aus. Ja, ein Musiker, der hätte die Macht, den Sinn, den allgemeinen Sinn dieses Lebens in Maria Pram, den keiner von uns verstehen kann, wenn ihn auch jeder irgendwie spürt, in uns allen widerhallen zu lassen!«

»Du denkst,« sagte der Graf, »wenn ich dich recht verstehe, an so etwas wie den Radetzky-Marsch, nur natürlich für Maria Pram eigens instrumentiert.«

»Stimmt ungefähr! Der ist wirklich ein gutes Beispiel dafür, wie man Völkern, die sich sonst nicht verständigen konnten, ein Gefühl beibringt, das doch in ihnen eine sehr starke Wirklichkeit gewesen sein muß, deren sie sich aber erst bewußt wurden, wenn ihnen der Marsch in die Glieder fuhr. In uns allen geht offenbar weit mehr und vielleicht auch noch etwas wesentlich anderes vor als wir bemerken, es geht gewissermaßen hinter dem Rücken unseres bewußten Lebens vor. Es ist die Macht der Musik, uns das doch zuweilen merken zu lassen und nach meiner Erfahrung hat diese Macht auch der Roman, freilich nicht der naturalistische, der bloß sozusagen Stimmen kopiert, sondern der Roman vom Schlage des Don Quixote oder der Cousine Bette. Bei Balzac meint man immer, jeder seiner Gestalten schon einmal begegnet zu sein. Man fragt sich: wo hab ich denn den nur schon gesehen, woher kenn ich ihn denn? Er hat sich ihn offenbar vom Pariser Pflaster geholt und vermittelt unsere Bekanntschaft mit ihm. Wir gehen doch eigentlich alle blind und taub einander vorüber, wir achten aufeinander nicht, wir wissen voneinander nichts, bis dann immer wieder, einmal in hundert Jahren, jemand uns einander vorstellt. Männer kennen ihre Frauen, Eltern ihre Kinder nicht, jeder bleibt jedem ein Geheimnis, er bleibt es ja doch auch sich selbst. Und so geht es den Völkern, so geht es ganzen Zeiten, bis dann wieder einmal die Macht der Musik den Bann löst und das Geheimnis verrät, nicht indem sie's ausspricht, sondern sie läßt es uns hören! Ein Spiegelbild der Wirklichkeit genügt uns noch nicht; wir hätten auch nichts davon, was wir sehen, noch einmal zu sehen. Uns tut ein Spiegel not, der nicht bloß abspiegelt, sondern uns auch noch etwas vorspiegelt: nämlich den Sinn dieses ganzen Arrangements, das wir unser Leben nennen.«

»Mir fällt nur auf,« sagte der Graf, »daß ein nach allem was du sagst, eigentlich der ganzen Menschheit unentbehrliches Geschäft bloß von einem Spanier und einem Franzosen besorgt worden sein soll, von Cervantes und von Balzac. Was ist mit den anderen Nationen? Was ist vor allem mit uns? Haben die Deutschen keinen Roman von der hohen Bedeutung, die du dieser Kunstart beimessen willst?«

»Aber natürlich, und sogar einen vollendeten: die Wahlverwandtschaften!«

»Und?«, fragte der Graf, da Raderer plötzlich zögernd, ja, fast verlegen einhielt. »Sie scheinen mit deiner Formel doch nicht ganz zu stimmen?«

»Sie sind auch«, sagte Ruderer, »wesentlich anders als der Don Quixote und die Cousine Bette, sie sind vielleicht eigentlich gar keine Romane, sie sind mehr, nämlich sozusagen Chemie, Chemie menschlicher Beziehungen. Sie zeigen den Vorgang einer Zersetzung, einer Auflösung von etwas Organischem zu neuer Begegnung und neuer Verbindung des eben Getrennten und in diesen chemischen Prozeß mischt sich nun das Sittengesetz ein. Zwei Welten und ihre Mächte messen sich. Alles menschliche Dasein überhaupt wird hier als eine Messung von Kräften der Natur mit Kräften des Geistes dargestellt; und der Mensch, zwischen beiden zur Entscheidung, zur Wahl eingezwängt, zweifelt, ob er denn überhaupt noch die Freiheit der Wahl hat oder ob es nicht vielmehr die Kräfte sind, deren Grad naturnotwendig bestimmt, was über ihn entschieden wird. Haben wir überhaupt einen freien Willen oder ist nicht jeder unserer Entschlüsse vielleicht einfach ein unabänderliches Ergebnis der Messung unserer eigenen Kraft mit den von außen auf uns einwirkenden Kräften? Auch stärker als sie, so daß wir sie bezwingen können, werden wir doch durch den Kraftaufwand und also Kraftverlust, den uns unser Sieg über sie kostet, geschwächt oder doch jedenfalls gestört, wir sind nicht mehr dieselben, ein solches chemisches Abenteuer läßt uns verändert, ja zuweilen wie ausgewechselt zurück. Was wir Untreue nennen, wäre dann im Grunde nichts als ein chemischer Vorgang.«

»Das sieht dem Herrn Geheimrat gleich,« sagte der Graf, »das wäre dem alten Schürzenjäger recht, seine Seitensprünge als Naturnotwendigkeiten zu legitimieren! Nein, so bequem wollen wir es uns doch nicht machen! Das sind faule Fische! Wenn wir untreu werden, hat sich nicht erst noch was in uns zu zersetzen, es gibt dann schon nicht mehr viel, was erst noch zu zersetzen wäre, denn damit wir überhaupt untreu werden können, auch nur in Gedanken, muß zuvor schon etwas in uns zersetzt sein: unser Ehrgefühl, unser Selbstgefühl, unser Lebensgefühl oder mit welchen Namen immer du bezeichnen willst, wodurch wir insgeheim regiert werden: den inneren Zusammenhang und Zusammenhalt von uns! Der muß schon irgendwie angestochen sein, damit wir überhaupt untreu werden können! Wem immer wir untreu werden, einer Person oder einer Sache, zuvor müssen wir erst uns selber untreu geworden sein, es ist immer zunächst ein Verrat an uns selbst!«

Der Graf war ernster geworden, als es sonst in seiner Gewohnheit lag; er wurde das selbst gewahr und um den Eindruck abzuschwächen, fuhr er lächelnd fort: »Wir sprechen doch bloß akademisch, nicht? Du bist noch so beneidenswert jung, da meint man sich in Nebendingen schon gelegentlich einmal einen Seitensprung erlauben können. Ich hab jahrelang hauptsächlich von Seitensprüngen gelebt, es fällt mir nicht ein, dir die deinen zu mißgönnen, du wirst schon mit der Zeit auch merken, daß es, was wir Nebendinge nennen, moralisch überhaupt nicht gibt! Springen wir zur Seite, so springen wir immer von uns weg, und dann wieder auf uns zurückzuspringen ist nicht so einfach, man verstaucht sich gar zu leicht den Fuß. Daher hinken so viele Menschen durch's Leben.«

»Also gut!«, sagte Raderer. »Da du gegen Romane bist, so können wir ja –«

»Aber wer sagt dir denn, daß ich gegen Romane bin? Fällt mir ja gar nicht ein! Im Gegenteil! Ich bin nur gegen überhebliche Romane, die gar keine richtigen Romane sind, aber sich aufspielen und uns Weltanschauungen servieren! Wenn ein Romandichter zu philosophieren anfängt, ist das immer nur ein Zeichen, daß ihm der Faden ausgeht! Ich bin gegen die Romane der Dichter, weil das überhaupt keine Romane sind, sondern Geschwätz! Aber zum Beispiel der Ewige Jude von Eugen Sue oder gar seine Geheimnisse von Paris, das sind wirkliche Romane, da kann man überhaupt nicht aufhören, bevor man weiß, wie's ausgeht, da liest man die ganze Nacht durch –, man kann das Licht nicht auslöschen, bevor man weiß, wie die Geschichte denn ausgeht! Ich kenn überhaupt nichts Schöneres als Romane, wirkliche Romane, Kolportageromane, wie die Herren Dichter sie verächtlich nennen, weil diese Herren Dichter meinen, daß es keine Kunst ist, wenn einem was einfällt, sondern daß die Kunst des Dichters sich erst dann in ihrer ganzen Herrlichkeit bewährt, wenn ihm nichts einfällt und er wie der liebe Gott aus nichts eine Welt schafft. Aber die Herren Dichter irren, sie schaffen ja nichts, sie machen bloß Worte. Je weniger ihnen einfällt, desto mehr machen sie Worte! Dieses Großtun mit Worten widert mich an, solche Romane, die nichts als sozusagen Rutschbahnen für Worte sind, kann ich nicht ausstehn! Worte machen kann ich selbst, dazu brauch ich erst keinen Dichter, dem Kerl soll was einfallen!«

»Da bist du doch ungerecht gegen die armen Dichter«, sagte Raderer lachend. »Sie haben doch nichts sonst als Worte! Das Wort ist nun einmal der dem Dichter zugewiesene Stoff, das Material, mit dem er hantieren, in dem und an dem er sich darstellen und sein Ebenbild schaffen soll. Mit demselben Recht wie dem Dichter die Worte, könntest du dem Maler die Farben verargen, dem Musiker die Töne, dem Bildhauer den Marmor oder den Gips! Es ist ja nicht wahr, daß der Dichter bloß Worte macht, er macht sie gar nicht, eher könnte man vielleicht noch sagen: sie machen ihn, denn er selber hat ja gar nichts als sie, sie sind die vom Schicksal ihm zur Verfügung gestellte Welt!

»Dann tut er mir leid!«, knurrte der Graf.

»Er kann einem auch leid tun!«, sagte Raderer. »Ihm ist das Wort gegeben, ein ungeheurer Reichtum, der sich aber schwer realisieren läßt, es gibt ja nur sehr wenige, die bereit sind, seinen Reichtum in Kleingeld umzuwechseln. Aber bist du nicht doch gegen das Wortspiel der Dichter eigentlich recht undankbar?«

Der alte Kammerdiener erschien, die Türe zum Saal mit seiner zitternden, in viel zu weiten weißen Handschuhen steckenden Hand öffnend.

»Der Oberst hat recht!«, sagte die Gräfin lachend. »Euer Wortspiel hat uns den Abend vertrieben und wir können uns nun einem edleren Spiel widmen: es ist serviert!«

Ihnen langsam folgend, sagte der Graf: »Vielleicht bleibt in dieser schönen Zeit von unserem ganzen Leben wirklich nichts übrig als ein Wortspiel, das zu deuten aber erst unsere Kindeskinder verstehen werden.«


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