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Drittes Kapitel

Der Wunsch des Grafen, den jungen Dr. Raderer auf das Schloß einzuladen, erwies sich stärker als das bange Widerstreben der ahnungsvollen Gräfin und sie selbst mußte sich dann aber gleich in den ersten eigen nach der Ankunft des unwillkommenen Gastes eingestehen, daß es ganz törichte Befürchtungen gewesen waren und die Menschenkenntnis Gandolfs wieder einmal recht behielt. Der Jüngling, durch sein Ungemach keineswegs erbittert, weder unmutig noch hochmütig, von jener unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit, deren bloß ganz sicherer angeborener Stolz fähig ist, hatte schon bei seiner Ankunft ihr Mißtrauen dadurch besiegt, daß ihn die sämtlichen Hunde des Schlosses, in der ganzen Umgebung durch ihre gefährliche Wildheit verrufen, mit der sie jeden ungewohnten Gast beim Eintritt in den Park bedrohten, sogleich schnuppernd begrüßt und ruhig ans Tor geleitet hatten, ja, sich sogar willig von ihm streicheln und ihn mit ihnen spaßen ließen. Die Köchin, die sonst immer, sobald sie das wütende Geheul vernahm, eiligst den ängstlichen Gästen zu Hilfe kam, um die wilde Meute zu bändigen, hatte der Gräfin dann gesagt: »Nöt wahr, der Herr Doktor is ein Verwandter? Ich hab mir das gleich gedacht, weil die Hund so freundlich mit ihm waren, sogar der Lian, das Mistvieh, das immer jedem gleich die Hosen zerreißen will! Es is doch unglaublich, wie ein Hund doch gleich alles wittert! Wenn der Mensch eine so sichere Nasen hätt, blieb einem manches erspart!« Am anderen Tage schon kannte der neue Gast jeden der Hunde namentlich, und wenn er morgens im Garten erschien, eiferten sie heftig kläffend um die Gunst, ihn in den Ort begleiten zu dürfen. Er nahm jedesmal nur ein Drittel von ihnen mit, der Aufzug der ganzen gefährlichen Meute hätte zuviel Schrecken und Schaden erregt. Bei der Wahl war er unerbittlich gerecht; die Gräfin wunderte sich auch über sein Gedächtnis: er wußte stets genau, wer heute an der Reihe war. Sie wurde fast eifersüchtig auf ihn: ihr schienen die Tiere doch sozusagen bloß aus Pflichtgefühl zu gehorchen, ihm aber aus freudiger Liebe.

Der Geburtstag der Gräfin kam. Der Graf hielt darauf, ihn immer feierlich zu begehen, so wenig das in ihrem Sinn war; sie wurde verlegen, wenn sie sich huldigen lassen sollte, doch er bestand darauf, er war ein Freund von Festlichkeiten, so sehr es ihm selber an Einfällen und an der Geduld dazu fehlte. Er zog also Raderer ins Geheimnis, der ein Piknik im Walde vorschlug, womit der Graf keine klare Vorstellung verband, aber froh war, die Sorge los zu sein, ohne sich erst selbst bemühen zu müssen. Er warnte nur den jungen Freund täglich: Vergiß nicht und blamier uns nicht! Die Gräfin ließ sich nicht merken, daß sie die Vorbereitungen gewahr ward. Selbst durchaus keine Freundin von Festen, schon aus Sparsamkeit nicht, ergab sie sich darein, um das Vergnügen des Gatten nicht zu stören, dem jede Gelegenheit willkommen war, einen blauen Montag zu machen, wie er das nannte. So ließ sie sich denn willig, als die Gratulation der Dienerschaft vorüber war, in aller Frühe mit den nächsten Hausfreunden am Wiesenhang auf neuen, heimlich von Raderer über Nacht bereiteten sanften Serpentinen empor geleiten, die bei jeder Wendung einen neuen überraschenden Ausblick gewährten, zunächst auf das Schloß, bald auch auf die Kirche und das dann bei jedem Schritte sich breiter entfaltende Städtchen und den Ring der in der Sonne glänzenden Villen und über sie hinab zu der grünen Dreisach mit der uralten hölzernen Brücke, die so seltsam mit von der Zeit gebräunten Brettern verschlagen war; drohend stand sie da, gleichsam die Gegenwart abwehrend, ihr den Eintritt verschließend. Drüben aber lag der Zauber der unendlichen weiten Ebene und der Graf sagte: »Hier sieht man wieder, daß die Welt doch nichts Schöneres zu bieten hat als den blauen Dunst der Ferne, den sich dann jeder nach seinem Belieben ausdeuten mag!« So kam die Gesellschaft, gemächlich, fast ohne es zu merken, ansteigend, bei jeder Wendung immer von neuem wieder entzückt einhaltend, langsam bis an den Waldesrand, um dann nach wenigen Schritten bewundernd aufzuschreien: ein artiges Häuschen lag so still und lieb im Dickicht da, daß man den eigenen Augen nicht traute. Davor aber stand auch schon der Tisch gedeckt, von Zwergen mit fürchterlich langen Hängebärten umringt und gleich erscholl aus diesen hellen Knabenstimmen ein artiges Lied auf den Geburtstag ihrer Feenkönigin. Das Entzücken der Gäste war noch nicht verstummt, als Raderer vortrat und zur Gräfin, die kaum ihre Rührung zu beherrschen vermochte, sprach: »Waldeinsamkeit, verehrte Herrin, lieben Sie, Eichendorff ist Ihr Liebling und lange noch bevor Sie mir das gelegentlich sagten, gleich bei meiner Ankunft, gleich auf den ersten Blick waren Sie mir sozusagen selber die Waldeinsamkeit in Gestalt! Doch ich wurde nur zu bald gewahr: ja, Wald ist doch auch rings, Wald genug, aber an der Einsamkeit fehlt's doch der armen, unablässig sorgenden, überall helfenden, unermüdlichen armen Gräfin durchaus! Es war der einzige Stilfehler, den ich bisher im Schloß bemerkte! Verzeihen Sie die Dreistigkeit, Ihnen das zu sagen, und nehmen Sie mir's, verehrte, liebe Gräfin, nicht übel, daß ich ihn zu korrigieren wagte! Gedenken Sie, bitte, künftig nicht immer bloß aller anderen, sondern gedenken Sie gelegentlich ab und zu doch auch bisweilen Ihrer selbst – ich kann Sie versichern, daß es gar keinen schöneren Gedanken gibt! Und da Sie doch schon einmal in allen Dingen so streng auf Ordnung halten, und im Schlosse schon jeder Raum seine feste Bestimmung hat, so müssen Sie mir verzeihen, daß ich Ihnen hier eine Zuflucht anbiete, hier auf der Alm zur Waldeinsamkeit – Kenn so hab ich das arme Bretterhäusl getauft!« Und bevor noch die Gräfin sich ihrer Bewegung erwehren und antworten konnte, trat schon der Pfarrer heran mit einem Segensspruch und gleich trugen die kleinen Kobolde das Mahl auf und Raderer, selbst ganz unsentimental und auch eingedenk, wie wenig Talent zu Feierlichkeit Graf Gandolf besaß, sorgte dafür, sogleich ein alltäglich heiteres, im Essen nicht störendes Gespräch in Fluß zu bringen. Man war rasch mitten im schönsten Stadtklatsch und da ging es natürlich vor allem gleich wieder gegen den Bürgermeister los, der sich in seiner Unverschämtheit nun wirklich erdreistet hatte, die Petition um Abberufung des neuen Pfarrers und um Bestellung eines würdigeren, so wie sein unvergeßlicher Vorgänger gewesen, im Namen der Ortsgemeinde an den Bischof von Linz zu leiten. Pfarrer Modl gestand, daß er dies zwar, da sein Vorgänger nun einmal tot und durch alle diese treue Gesinnung nicht mehr zu erwecken war, töricht fand, aber doch rührend als Beweis, wie sehr die Gemeinde noch immer an ihm hängt und ihm treu bleibt. Wem seine Pfarrkinder ein so treues Andenken bewahren, der ist beneidenswert! Der Graf und die Gräfin sahen einander an, sie mußten bei der Erinnerung unwillkürlich lächeln. Gandolf sagte gemütlich: »Sie haben ihn halt nicht gekannt, Hochwürden! Ich hatte das Vergnügen. Er war au fond gewiß eigentlich was man einen guten Kerl nennt, auch ganz klug oder richtiger: pfiffig, er verstand sich auf den Vorteil der Kirche und vergaß darüber seinen eigenen nicht. Im Landl geboren und immer im Landl geblieben, war er der richtige Mann für unsere Leute, grob über alle Maßen und im Jähzorn mitunter fast lebensgefährlich, besonders wenn er ein Glas über den Durst getrunken hatte, und er trank meistens mehrere über den Durst; er ging abends aus dem Wirtshaus nicht heim, bis er von der alten Wabi, seiner Haushälterin, abgeholt und fortgeschleppt wurde, unter so lauten Beschimpfungen, daß es weithin durch die schlafenden Gassen klang, wodurch er übrigens, das muß ich der Wahrheit gemäß bezeugen, keineswegs in der Achtung, ja, noch mehr: in der treuen Liebe seiner Pfarrkinder sank. Ja ich habe mich oft gefragt, ob er nicht gerade jenen Zügen seines Wesens, die nach großstädtischen Begriffen ihn nicht empfahlen, durch die er vielleicht anderwärts unmöglich geworden wäre, ob er nicht ihnen gerade das herzliche Vertrauen seiner Gemeinde verdankte. Das ist im Grunde eine sehr heikle Frage! Wir sind geneigt, anzunehmen, daß Autorität, um recht wirken zu können, sich keine Blößen geben darf. Aber je mehr ich die Menschen beobachte, desto zweifelhafter wird mir das. Es scheint fast umgekehrt: gerade die Blößen, die sich Autorität gibt, machen sie den Untertanen eher sympathisch, solange nur dadurch ihre Macht nicht fragwürdig wird. Soll er strafen oder schonen, muß er Menschen menschlich sehen, heißt es von Mahadöh, aber ich weiß nicht, ob das ausreicht! Nein, daß er sie menschlich sieht, das allein genügt noch lange nicht, sondern um ihr volles Vertrauen zu gewinnen, muß er auch ihnen immer wieder zuweilen Gelegenheit geben, ihn selbst zuweilen auch menschlich zu sehen, in seiner ganzen erbarmungswürdigen nackten Menschlichkeit! Seine Würde leidet darunter gar nicht, so seltsam das ist; sie rückt dadurch vielmehr den Leuten nur näher, es ist eine Art Trost für sie zu sehen, daß er denselben Anfechtungen unterliegt wie sie. Dem hochseligen Herrn Pfarrer Daz, Ihrem Vorgänger, hat es jedenfalls, das kann ich aus Erfahrung bezeugen, niemals auch nur im geringsten geschadet, eher umgekehrt! Sogar seine böse Haushälterin selbst, wenn sie vor Mitternacht im Wirtshaus erschien, um ihn heimzuführen, vergaß, wenn sie den Wankenden laut einen alten Bsuff und Saubartl schalt, niemals, derlei Liebkosungen sogleich die landesübliche gewohnte Formel hinzuzufügen: »seine heilige Weih ausgenommen!« Ich weiß nicht, ob sich die Leute dabei viel denken, aber für mich hat diese Formel einen überwältigenden Tiefsinn! Der Schimpf wird dadurch bloß auf die Person eingeschränkt, von ihrem Amt aber ab gelenkt, die Würde des Amtes bleibt nicht nur unversehrt, sondern sie wird überdies noch ausdrücklich, ja feierlich anerkannt! Und das eben entspricht ja durchaus der Denkart unseres Volkes, das schon von den ältesten Zeiten her zwar eine Rangordnung anerkennt, durch die jedoch für sein Gefühl der Eigenwert des Einzelnen durchaus nicht verringert wird. Meine Jäger anerkennen, daß ein Graf mehr ist als ein Jäger, was aber keinen von ihnen hindert, sich selbst für einen vortrefflichen Jäger und mich vielleicht für einen nicht sehr gelungenen, eher unzulänglichen Grafen zu halten. Und so will unser Volk auch im Priester gar nicht einen Mann von besonderen Tugenden, von persönlichen Verdiensten sehen, es verlangt sich gar nicht, daß der Priester persönlich besser sein soll, als der Laie! Was es an ihm ehrt, ist ja nicht seine Person, sondern eben bloß die ihm durch die Weihe erteilte Kraft, deren es bedarf: die Kraft, die heiligen Sakramente zu spenden, von Sünden loszusprechen und uns in Frieden sterben zu lassen. Daher allein vielleicht auch der Widerstand gegen Sie, verehrter lieber hochwürdiger Herr Pfarrer! Sie sind unseren Leuten hier einmal schon von vornherein verdächtig, weil Sie kein ›Hiesiger‹ sind, denn es ist ein Axiom unseres Volkes, daß, wer nicht von hier ist, nichts taugen kann. Dazu kommt noch, daß Sie Hochdeutsch oder jedenfalls nicht in unserer Mundart predigen; unsere Leute hoffen, wenn sie dereinst sterben, an der Himmelstüre vom heiligen Petrus unverfälscht mariapramisch begrüßt zu werden. Und dann kümmern Sie sich auch nicht bloß um Ihre Pfarrkinder, die doch sozusagen ein Monopol auf Ihren Beistand zu haben meinen, sondern Sie haben sich sogar mit wandernden Zigeunern eingelassen, mit verruchten Ungläubigen, die der Teufel holen soll, ja, Sie haben ein fieberndes Zigeunerkind ins Pfarrhaus genommen, gepflegt und geheilt, was hier als eine Art Gottesschändung empfunden werden mußte. Von Anfang an verdächtig, gaben Sie den Argwöhnischen damit noch einen allgemein plausiblen Grund zur Forderung eines anderen Pfarrers und so wurde diese Petition an den Bischof beschlossen. Daß ich diesen Blödsinn mißbillige, muß ich Ihnen hoffentlich nicht erst versichern, es ist selbstverständlich, daß Sie durchaus auf uns zählen dürfen. Ich möcht nur nicht, daß Sie ein falsches Bild von der Menschenart in unserem Landl gewinnen! Sie gehört zum Besten, was uns noch geblieben ist. Aber freilich sind's Querköpfe, deren starren Sinn, wer nicht unter ihnen ausgewachsen ist, vielleicht überhaupt nie ganz verstehen lernen kann.«

»Dies alles«, sagte der junge Pfarrer, »bestätigt mir nur meinen ersten Eindruck, gleich als ich ankam und mich unter meinen Pfarrkindern umsah. Sie werden mich ja nicht verraten, in unserem Kreise darf ich's ohne Gefahr eingestehen, ich hatte, gerade herausgesagt, das Gefühl, hier gar nicht unter Christen zu sein, sondern im Heidenland. Hier zu Lande hat der Priester eigentlich nur ein Ansehen, weil man ihn für einen Zauberer hält, und nur solang man ihn dafür hält. Das Grundgefühl dieser Menschen ist, daß es nicht in ihrer Macht steht, selbst ihr Dasein zu sichern, Der Großvater war meistens noch ein Bauer. Der Bauer fühlt sich in Gottes Hand, der Ertrag seiner Arbeit ist stets ungewiß; Hagelschlag, Gewitter, Frost oder daß wieder einmal die grüne Dreisach anschwillt, austritt, den Verkehr über die Holzbrücke hemmt und den Ort von der Mitwelt abschließt: diese Gefahren zu bannen, sieht er für das Amt des Priesters an, dazu hält er sich ihn. Das ist heidnisch. Die Götter der Heiden sind im Grunde bös, sie neiden dem Menschen sein Glück, sie lauern nur darauf, ihn zu verderben. Sie haben alle bösen Instinkte des Menschen und beweisen dies dann auch noch dadurch, daß sie bestechlich sind. Sie lassen sich ihren Neid, ihren Haß und ihren Zorn sozusagen abkaufen durch Spenden, durch Gaben, durch Opfer und dieses Geschäft der Bestechung wird bei den Heiden von Priestern besorgt. Ich erschrak über die große Zahl von Katholiken hierzulande, deren Verhältnis zu Gott im Grunde nichts als Furcht, die uralte heidnische Furcht vor dem Neide, vor dem Zorne, vor der Rache der Götter ist, wenn auch mit einem christlichen Vokabular obenhin. Die kleinen Bosheiten gegen mich stören mich nicht, ich habe Geduld, aber daß ich mich hier sozusagen erst ganz umstellen muß, nämlich zur Mission unter Heiden, das wird mir nicht gerade leicht.«

Nach einer Pause sagte der Graf: »Mich wundert nur, Hochwürden, daß Sie meinen, dieses Heidentum, wie Sie's mit Recht nennen, sei charakteristisch für die Mariapramer. Ich muß sagen, die meisten Katholiken und vielleicht auch sehr gute, sind im Grunde, was Sie, lieber Herr Pfarrer, Heiden nennen. Ich muß gestehen, ich hab mich, als Sie das böse Wort aussprachen, unwillkürlich selber getroffen gefühlt. Ich fürchte, daß ich eigentlich bei näherer Betrachtung auch ein Heide bin.«

»Aber Gandolf,« fiel die Gräfin lächelnd ein, »wir wissen ja, daß du dir keine Gelegenheit entgehen lassen willst, paradox zu sein, doch wenn du dich jetzt gar auch noch auf den Heiden hinausspielen willst, da muß ich doch –«

Der Graf ließ sie nicht ausreden: »An dir, mein liebes Geburtstagskind, wird ja niemand zu zweifeln wagen, du bist eine geborene Christin und unser verehrter Herr Pfarrer wird es nicht mißverstehen, wenn ich sage: Du wärst eine, auch wenn es noch gar kein Christentum gäb! Ich aber, ich bin natürlich, wenn auch kein musterhafter, aber immerhin ein braver Durchschnittskatholik, schon weil es ja zu meinen Standespflichten gehört, schon als Ururenkel jenes freilich etwas sagenhaften Kreuzfahrers, der unser Gnadenbild aus dem heiligen Lande heimgebracht hat. Ob ich will oder nicht, ich muß Katholik sein, es bleibt mir gar keine Wahl und ich darf ja, wenn ich mein Leben überdenk, von mir sagen, daß ich, überhaupt, von Geburt und durch Erziehung, ein freilich zuweilen etwas lässiger Pflichtenmensch, nur sehr selten meine Pflichten gegen die Kirche versäumt hab. Zuweilen aber hat mir dann dies allein noch nicht genügt, zuweilen wurde mein Gebet auf einmal inniger, dringender und heftiger als sonst, nämlich immer dann, wenn ich in besonderen Sorgen war oder mir etwas sehr wünschte. Ich kann mir nicht verhehlen, daß also eigentlich auch ich, ganz wie der Herr Pfarrer das an den Mariapramern tadelt, doch im Grunde nur aus Furcht vor irgend etwas, das ich von mir abwenden möchte, oder aber auch aus Selbstsucht, um mich der Hilfe von oben zur Erfüllung eines dringenden Wunsches zu versichern, bete, richtig bete, nämlich mit dem ganzen Herzen und mit einer Hingebung, die meinen gewohnten Andachten leider meistens fehlt. Meine Gebete sind entweder Erfüllungen einer von Jugend auf gewohnten Pflicht oder aber, in besonderen Fällen, wenn es sich mir um Erfüllung eines heftigen Wunsches handelt, im Grunde doch eigentlich nichts als sozusagen Erpressungsversuche am lieben Gott. Hoffentlich gibt es auch Katholiken, die nicht bloß aus Furcht, um eine Gefahr abzuwenden, oder aus Selbstsucht, um einen Wunsch in Erfüllung zu bringen, beten, wirklich beten, nicht bloß mit den Lippen, sondern mit dem Herzen beten, aber ich gehöre leider nicht dazu, das muß ich schon offen gestehen.«

»Sie haben«, sagte der Pfarrer lächelnd, »eine Neigung, sich schlechter zu machen, als Sie, wie doch Ihr ganzes Leben beweist, in Wirklichkeit sind.«

»Ich habe,« sagte der Graf, fast etwas gereizt, »ich habe nur die Neigung, mir über mich nichts vorzumachen, sondern mich klar zu sehen.«

»Aber,« erwiderte der Pfarrer, »da das Gespräch schon einmal ernster geworden ist, als ein so festlicher Anlaß eigentlich erlaubt, darf ich, um es abzuschließen, noch fragen, ob Sie nicht, für welchen Wunsch immer Sie sich im Gebet Erfüllung erflehen, dann stets nach gutem katholischen Brauch hinzufügen: Doch nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!?«

»Selbstverständlich!«, antwortete der Graf. »Nach altem katholischen Brauch, wie Sie selber sagten, Hochwürden, das heißt also, weil man es mich von klein auf so gelehrt hat, weil es sich mir darum unwillkürlich auf die Lippen drängt, weil es eine bloße Formel geworden ist, mir so geläufig, daß ich sie nachspreche, ohne mir im geringsten bewußt zu werden, daß ich eigentlich das Gegenteil meine, daß ich mir doch auch mit ihr wieder bloß Gott freundlich und geneigt stimmen will, um ihn dadurch zu veranlassen, daß mein Wille geschieht! Erschrecken Sie nicht, lieber Herr Pfarrer, Sie sind noch jung und können darum noch kaum ahnen, welches Mistviech auch in den besten Menschen ungebändigt auf der Lauer liegt! Daß wir vor anderen heucheln, wäre ja noch gar kein so großes Unglück, mundus vult decipi und alle Sitte, ja der Verkehr mit Menschen beruht schließlich darauf. Daß wir vor Gott heucheln, wird er uns in seiner unendlichen Barmherzigkeit verzeihen, schon weil wir uns ja sonst vor ihm überhaupt nicht blicken lassen könnten! Aber daß wir auch noch vor uns selber heucheln, das ist unsere schlimmste Gefahr!«

»Der Sie sich aber mit einer Entschiedenheit erwehren, die vielleicht wieder zum anderen Extrem verleiten könnte!«

»Und ist es denn nicht unerhört,« fiel nun die Gräfin dem Pfarrer ins Wort, »daß ein Mann den Geburtstag seiner Frau nicht besser zu feiern weiß als durch Aufzählung seiner Untugenden und einen umständlichen Beweis, wie sehr sie sich in der Wahl ihres Lebensgefährten vergriffen hat? In diesem Sinne will ich mein Glas erheben, unsere verehrten Gäste bittend, auf meine schlechten Instinkte mit mir anzustoßen! Unser sündiger Schloßherr lebe hoch, mit allen seinen ungebändigten Mistviechern im Herzen, dreimal hoch!«

Während die Gläser erklangen, begannen, auf ein Zeichen Raderers, die kleinen Kobolde ihre sämtlichen Künste zu zeigen, sie sangen, sie tanzten, sie führten ein kleines Festspiel in munteren Versen auf, das immer wieder neue Huldigungen für das Geburtstagskind fand. Dem jungen Pfarrer leuchteten die Augen vor Freude, so daß die Gräfin unwillkürlich vergangener Zeiten gedenkend, ihn lächelnd fragte: »Regt sich da nicht leise doch das alte Theaterblut in Ihnen, Hochwürden? Verzeihen Sie, es soll durchaus kein Vorwurf sein, mir fällt nur unwillkürlich der Abend im Burgtheater ein – lang ist's her, zählen wir lieber erst nicht nach, wie lang! – aber mir bleibt er unvergeßlich, der Abend der Premiere Ihrer ägyptischen Helena! Ein Burgtheaterdichter, das schien doch uns jungen Mädeln damals so was unerreichbar Hohes und Fernes! Und daß da jemand, noch dazu ein ganz junger Jemand aus unseren Kreisen, den man kennt, mit dem man getanzt hat, in den man sich verlieben kann, den vielleicht eine von uns heiraten wird, kurz, niemand andrer als der Toni Modl, der Sohn des Sektionschefs, daß der ein Stück schreibt wie ja jeder andere junge Mensch auch, aber eins, das dann wirklich aufgeführt wird, und noch dazu im Burgtheater, noch dazu mit der Bleibtreu, das war doch damals wirklich etwas Unerhörtes! In Ihnen fühlten wir uns alle selber gleichsam in den geistigen Adelstand erhoben und wir schworen darauf, in Ihnen, da Schlenther damals schon bedenklich wackelte, den nächsten Burgtheaterdirektor zu sehen! Darf ich, da man mich heute schon einmal so verwöhnt, darf ich da, ganz unter uns, fragen: ist Ihnen der Verzicht auf dies alles nicht doch sehr schwer geworden?«

Gandolf sagte, leise warnend: »Hedi, Hedi!«

Die Gräfin errötete leicht, aber der Pfarrer sagte lächelnd: »Die Frage ist ganz berechtigt, ich hab sie mir selbst auch schon oft gestellt, damals schon, und ich muß gestehen: auch heute noch zuweilen. Aber ich darf ruhigen Gewissens sagen: Nein! Jene Helena, frei nach dem Euripides, ist mir heute noch sehr wert. Ich war siebzehn, als ich sie schrieb und wer weiß, ob ich ohne sie den rechten Weg gefunden hätte. Jedenfalls nicht so schnell! Sie war der erste Schritt zu meiner Konversion, wie die Leute dann nannten, was ja doch eigentlich nichts als eine tiefe Selbstbesinnung, nichts als ein Erwachen war! Katholisch von Geburt, bin ich liberal erzogen worden. Mein Vater war der typische liberale Hofrat, typisch auch darin, daß er immer im Verdacht heimlicher klerikaler Neigungen und Verbindungen stand, dem allein er es auch verdankte, daß er schließlich sogar Unterrichtsminister wurde, dabei seinen Liberalismus durchaus nicht verleugnend, doch stets verdächtig, die Freundschaft seiner politischen Feinde zu suchen, aus Ehrgeiz, wie man ihn beschuldigte: mit Unrecht, nach meiner innersten Überzeugung! Meine Großeltern waren kleine Bauern, die, nach dem damals in dieser Schicht herrschenden Brauch, das Gütl für den jüngsten Sohn aufsparten, den Erstgeborenen zum geistlichen Stande bestimmten, den mittleren aber ins Gymnasium schickten, wo er sich als Koststudent in wohlhabenden Familien, als Einpauker unbegabter oder fauler Schulkollegen, gelegentlich auch, wenn er eine gute Handschrift hatte, als Kanzlist mühselig genug bis zur Universität und dort dann ebenso zum Doktor juris durchhungerte. Diese Doktoren hatten zwei Seelen in ihrer Bauernbrust: geborene Katholiken, katholisch erzogen, gerieten sie dann auf der Universität in den Bann des josephinischen Geistes. Was man bei uns in Österreich Bildung nennt, ist durchaus ein Geschöpf der Aufklärung. Ursprüngliche Menschen, vor allem also Bauernkinder, nehmen, wie alles was man sie lehrt, auch diesen Geist des achtzehnten Jahrhunderts ohne den leisesten Widerspruch willig an, gehorsam, aber ohne sich darum von ihm in ihren Empfindungen, im Gemüt, in ihrer inneren Lebensform auch nur im geringsten stören zu lassen; hinter der josephinischen Fassade bleibt ihr angeborener Bauernsinn unberührt. Sie denken liberal, sie sprechen antiklerikal, aber ihre katholischen Wurzeln bleiben unversehrt. Sie fühlen sich dabei ganz behaglich; ihre inneren Widersprüche stören einander nicht. So wuchs auch ich auf, die katholischen Pflichten erfüllend, nicht gerade sehr eifrig, aber genau, ohne daß sich der radikale Freigeist, zu dem ich mich stolz allmählich entwickelte, dadurch irgendwie stören oder auch nur hemmen ließ. »Der echte Ring vermutlich ging verloren«, heißt's im Nathan, das war die Meinung, zu der auch ich mich damals bekannte, und warum sollte der Ring, den ich bei meiner Geburt mitbekam, schlechter sein, als die Ringe der anderen Konfessionen? Hätte ich Jus studiert, wie mein Vater eigentlich wünschte, denn er war stolz und wollte mit mir hoch hinaus, so wäre ich vermutlich mein ganzes Leben ein richtiger Liberaler geblieben, wie das zu jener Zeit nun einmal zur Bildung gehörte: öffentlich Kirchenfeind, insgeheim lauer Katholik aus Tradition. Mein Glück war, daß ich Philolog wurde, klassischer Philolog, zunächst aus einer Leidenschaft für Homer, die mich schon aus dem Gymnasium ergriff. Mein Vater erwirkte mir die Gunst, im zweiten Semester schon an Ausgrabungen in Griechenland teilnehmen zu dürfen, ich hatte Finderglück und wurde, kaum zwanzigjährig, ohne selber recht zu wissen warum, schon fast eine Art Berühmtheit. Mein Finderglück bewährte sich aber noch ganz anders, indem es mich finden ließ, was ich gar nicht suchte: den Glauben. Eine Stelle im Timaios war's, die mich aufhorchen ließ, eine ganz unauffällige, fast banale Stelle, wo nebenher gesagt wird, daß jeder Mensch mit ein bißchen Verstand bei allem was er tut, Geringes oder Gewaltigstes, zunächst vor allem Gott anruft. Ich kannte die Stelle längst, sie schien mir eher nichtssagend, ich weiß heute noch nicht, warum sie mich damals plötzlich erschütterte. Ich glaubte plötzlich, ich betete plötzlich, aber es waren zunächst die Götter Griechenlands, an die ich glaubte, zu denen ich betete. Was dann mit mir geschah, kann ich nicht erzählen, nicht vielleicht aus Scham, sondern weil ich es einfach nicht weiß. Ich fühlte mich geführt, zum erstenmal in meinem Leben, und faßte Vertrauen zu dieser Führung. Vertrauen zu fassen, sich gesichert zu fühlen, damit beginnt alles höhere Leben. Für meinen Vater war es sehr arg, als ich ihm meinen Entschluß ankündigte, umzulernen, Theolog und Priester zu werden. Er war sehr tolerant, aber Aufsehen zu erregen fand er geschmacklos. Ich sollte Philolog bleiben, Dramen dichten, allenfalls Burgtheaterdirektor werden und niemand würde mich hindern, fromm zu sein, aber als ein richtiges Kind seiner Zeit fand er jeden verdächtig, der seinen Glauben zur Schau trägt, der ihn, wie er das zu nennen pflegte, ›affichiert‹. Er konnte nun einmal die ›Pfaffen‹ nicht ausstehen.«

Der Graf sagte lächelnd: »Ich erinner mich Ihres Vaters noch sehr gut, er war in der Tat ein Prachtexemplar seines Typus, der richtige Liberale, der seinen angestammten Glauben ebensowenig verleugnen kann als bekennen will. Ich hab das eigentlich nie verstanden! Wenn ich an meinem Glauben irre würde, so kann ich mir vorstellen, daß ich vielleicht aus Bequemlichkeit ratsam fände, dies nicht an die große Glocke zu hängen, schon aus Klugheit und um Ruhe zu haben, aber ich verstehe nicht, wie mich das in Konflikte bringen könnte!«

»O das kann ich schon verstehen!«, erwiderte die Gräfin, lebhafter, als sonst in ihrer Art lag. »Ich kann sogar verstehen, daß gerade wer unseren Glauben sehr ernst nimmt, zuweilen einen leisen inneren Widerspruch kaum zu bändigen vermag, nicht etwa gegen den Glauben, auch nicht gegen die Kirche, wohl aber gegen gewisse Katholiken, auch solche, die sich nicht bloß selber für fromm halten, sondern auch allgemein dafür gelten, ja gegen jedes kleinste Versäumnis der äußeren Erfüllung ihrer Pflichten unerbittlich sind, aber dann durch ihr ganzes Leben beweisen, daß für ihr Gefühl mit diesem tadellosen äußeren Wandel nun auch alles andere getan ist. Ich muß gestehen, da den Schächer am Kreuz vorzuziehen!«

Der Graf sagte lächelnd: »Jetzt gib aber nur acht, Hedi! Denn noch einen Schritt und du bist mitten in der Gesellschaft jener vielleicht sehr braven, doch immerhin als Katholiken etwas bedenklichen Leute, die Sonntags die Messe schwänzen und dafür lieber eine Bergpartie machen, weil sie sich angeblich im Anblick von Gottes gewaltiger Natur dem Schöpfer viel näher fühlen als im Gedränge des Hochamts, wo man vor lauter Grüßen der Bekannten und über die kritische Prüfung ihrer Toiletten kaum zur inneren Sammlung und schon gar nicht zu stiller Andacht kommt.«

»Das hab ich nicht gesagt«, erwiderte die Gräfin. »Aber daß ich mirs zuweilen denke, kann ich nicht leugnen und ich hoff, daß es mir unser lieber Herr Pfarrer verzeihen wird.«

»Ich bin neugierig,« sagte der Graf, »wie sich Hochwürden aus der Schlinge ziehen werden! Denn das ist wunderschön gedacht und gemeint, mein Kind, aber so weit einem Laien darüber ein Urteil zusteht, ist es ganz unkatholisch. Also, Hochwürden, Mut! Belehren Sie die Ketzerin!«

Der Pfarrer antwortete lächelnd: »Sonntags die heilige Messe zu hören ist eine Pflicht, von deren Erfüllung den Katholiken nur Krankheit oder irgend ein außerordentlicher Fall dispensieren und die jedenfalls durch Privatandacht außerhalb der Kirche, auch durch eine Andacht voll innigster Frömmigkeit und reinster Liebeskraft durchaus nicht ersetzt werden kann. Es ist ein altes Mißverständnis, vor dem auch sehr gute Katholiken, ja, gerade diese, nicht immer bewahrt bleiben, als ob das Hochamt bloß dazu da sei, zur Andacht zu stimmen und als ob der Grad von Andacht, den der Beter erreicht, entscheidend sei. Nein! Entscheidend ist nicht, was der Beter dabei fühlt, entscheidend ist die Würde, der Glanz, die Vollendung der Feier! Das Meßopfer soll dargebracht werden und wer ihm beiwohnt, nimmt daran teil – mit welchen Gefühlen, das ist seine Privatangelegenheit. Andacht wird natürlich ein Verdienst des Andächtigen sein, doch dieses persönliche Verdienst ist gering, an der Fülle von Gnaden gemessen, die jeder Teilnehmer, auch der zerstreute, ja ich möchte, bloß um recht deutlich zu machen, was selbst von guten Katholiken selten völlig erfaßt wird, mit einer gewissen Übertreibung geradezu sagen, die sogar der Unwürdige für seine bloße Gegenwart bei der Feier empfängt. Ich habe das Gefühl, wir überschätzen alle, gerade wir ›Gebildeten‹, nicht das Volk, das sich noch eher ein Gefühl für den Sinn der heiligen Handlung bewahrt hat, aber vor allem wir ›Gebildeten‹ überschätzen die Bedeutung der subjektiven Teilnahme des Einzelnen am Gottesdienst. Das heilige Meßopfer ist objektiv von einer so gewaltigen Größe, daß der Affekt dabei kaum in Frage kommt, mit dem der einzelne Beter subjektiv daran teilnimmt. Indem es dargebracht wird, geschieht für den gläubigen Katholiken etwas so ungeheuer Großes, daß der einzelne Beter, wofern es ihm einmal völlig bewußt würde, vernichtet niedersinken müßte. Der Eifer, mit dem sich gerade die guten Katholiken um ihre Privatandacht in der heiligen Messe bemühen, läßt sie zuweilen fast vergessen, worum es in der heiligen Handlung eigentlich geht. Gerade die ›Gebildeten‹, nicht das Volk, überschätzen die Bedeutung des subjektiven Anteils, den der Einzelne bewußt an der heiligen Handlung nimmt. Sie verraten sich dadurch als heimliche Protestanten, unbewußt natürlich. Dem Protestanten kommt es immer vor allem auf sein eigenes Gefühl an, während für uns die heilige Handlung keineswegs bloß ein Gleichnis, bloß eine Hindeutung ist, sondern ein Symbol, ein Symbol im echten ursprünglichen Sinn des Wortes, etwas, das mit dem, woraus es hindeutet, selbst innerlich zusammenfällt, das nicht bloß eine Bedeutung hat, sondern diese Bedeutung selbst ist! Wenn Protestanten gelegentlich alte Weiber beim Rosenkranzbeten beobachten, entrüsten sie sich hochmütig und sagen: das ist doch echt katholischer Unfug!, diese Weiber leiern das einfach mechanisch herunter, an weiß Gott was denkend, oder wahrscheinlich überhaupt an gar nichts! Nehmen wir selbst an, der Protestant hätte recht, nehmen wir an, die guten alten Weiberln denken dabei gar nichts, fühlen dabei gar nichts, plappern bloß den Rosenkranz herab, es mag ja gelegentlich so sein! Der Protestant vergißt nur, daß schließlich immerhin ein Rosenkranz gebetet wird, und dieser Rosenkranz, das versteht der Protestant nicht, das scheidet ihn von uns, dieser Rosenkranz, mit welchen subjektiven Gefühlen immer, ja, sei's selbst völlig gefühllos dargebracht, ist für uns eine Realität, es wird damit objektiv etwas geschaffen, es entsteht dadurch eine Wirklichkeit und das ist für uns von solcher Bedeutung, daß wir kaum fragen, ob dieser Rosenkranz dann auch noch ein persönliches Verdienst derjenigen ist, die ihn abbeten. Leider sind nur sogar viele Katholiken, auch eifrige, über den rechten Sinn unserer Bräuche sehr wenig unterrichtet.«

»Das sag ich doch immer,« rief der Graf, »wir Katholiken wissen gar nicht mehr, was katholisch ist, auch die besten kaum, am wenigsten aber du, meine liebe Hedi! Und weil ich dir's doch am Gesicht abseh, daß du den Ausführungen des Herrn Pfarrers innerlich widerstrebst und sie, du verzeihst schon!, eigentlich gar nicht verstanden hast, werden Hochwürden mir vielleicht verzeihen, wenn ich mir einen etwas drastischen Vergleich erlaube! Darf ich?« Doch bevor der Pfarrer noch antworten konnte, sagte Gräfin Hedi: »Jetzt kommt der Strumpf! Ich hab schon die ganze Zeit auf ihn gewartet.«

»Schön ist das wirklich nicht von dir,« sagte Gandolf, »und überdies bleibt dir der Strumpf doch nicht erspart, irgend jemand wird sich mit Gottes Hilfe doch noch finden lassen, der die Geschichte vom Strumpf noch nicht kennt!«

»Ich kenn sie wirklich nicht,« sagte der Pfarrer.

»No Gott sei Dank! Also hören Sie, Hochwürden! Es ist natürlich gar keine Geschichte, sondern ein Vergleich und zugleich gewissermaßen auch eine Preisfrage. Es handelt sich dabei nicht um den Rosenkranz, es handelt sich um nichts Kirchliches, es handelt sich einfach darum: ein Strumpf soll gestrickt werden. Er wird gestrickt, die Strickerin bringt ihn, man probiert ihn, er paßt, man ist zufrieden und alles ist in Ordnung. Oder wird jemand dann erst fragen, was sich die Strickerin beim Stricken gedacht, ob sie gern gestrickt und mit welchen Gefühlen, begeistert oder gleichgültig, sie gestrickt hat? Nein! Der Strumpf ist gewirkt, die Wirkerin kriegt ihren Lohn!«

»Daß Vergleiche hinken, ist ihr gutes Recht,« sagte der Pfarrer lächelnd, »aber der Ihre, Herr Graf, macht doch von diesem Rechte vielleicht einen etwas unmäßigen Gebrauch!«

»Vorsicht, Herr Pfarrer, der Vergleich mit der Strumpfwirkerin ist nämlich gar nicht von mir, sondern von einer Äbtissin, einer um ihrer ungewöhnlichen Frömmigkeit sehr angesehenen Äbtissin, meiner strengen Schwester Hildegard. Auch ich ging in meiner Jugend zuweilen sonntags lieber auf irgend einen Berg und schwänzte die Messe und als mich Hildegard, die schon damals, lange bevor sie noch Äbtissin wurde, darin durchaus keinen Spaß verstand, darüber einmal in ihrer keineswegs sanften Art – sie hat eher etwas von einem Dragoner – derb abkanzelte und ich mich auch darauf berief, daß man sich in der Einsamkeit des Hochgebirges dem lieben Gott doch eigentlich viel näher fühlt als bei einer langweiligen Predigt, da hat sie mir kategorisch erklärt: es ist eine Unverschämtheit von dir, wenn du dir einbildest, daß der liebe Gott etwas davon hat, dich in allerhand schönen Gefühlchen duseln zu sehen. Du sollst etwas für ihn tun, du sollst etwas wirken, sollst ihm etwas darbringen! Dein Dusel verschwindet und verdampft im nächsten Augenblick, aber das Werk, das du für ihn tust, das Werk bleibt, und das schreibt er dir dann gut! Hildegard war schon damals mit der Buchführung Gottes sehr vertraut. Und um mir nun, worauf es ankommt und worum allein es sich im Grunde handelt, ganz klar zu machen, hat sie jenen Vergleich mit dem Strumpfstricken gebraucht. »Ein richtig abgebeteter Rosenkranz ist wie ein ordentlich gestrickter Strumpf eine Wirklichkeit, ist etwas, das bleibt, etwas, das zählt, und das geringste gute Werk gilt im Himmel mehr als alles Schwelgen in den schönsten Gefühlchen, mit denen du nur deinem eigenen eitlen Herzen schmeicheln willst!« Und ich hab noch heut den drohenden Klang im Ohr, mit dem sie mich abkanzelte: »Ihr vergeßt's immer ganz, daß der liebe Gott ein großer Herr ist, der von uns Ehrfurcht, blinden Gehorsam und Dienstwilligkeit fordert, aber gar keine Lust hat, in einem fort von uns angebettelt oder gar noch mit dem Krimskrams unserer albernen Innerlichkeit gelangweilt und behelligt zu werden – überlaß das gefälligst den Protestanten!« Und nun aber muß man wissen, welchen drohenden Klang schon der bloße Name »Protestant« im Munde meiner ja jetzt, wie ich höre, fast schon im Geruche der Heiligkeit stehenden, aber wirklich nicht übermäßig angenehmen und nur mit Vorsicht zu genießenden lieben Hildegard hat! Sie können von Glück sagen, Hochwürden, daß sie nicht hier ist! Ich bin gar nicht sicher, ob sie nicht die Petition an den Bischof, die Petition um Ihre Abberufung, mit unterschrieben hätte!«

Die Gräfin fuhr auf: »Das hättst du ihr doch nicht erlaubt?«

»Sie hätt mich kaum gefragt,« sagte der Graf lächelnd. »Du kennst sie ja nicht, du hast sie bloß bei unserer Hochzeit gesehen, da war sie ja merkwürdig sanft, ich erkannte sie kaum wieder.«

»Sanft?«, sagte die Gräfin lächelnd. »Erinner dich doch!«

»Sie dürfen sich, lieber Herr Pfarrer, durch meine Schilderung und durch das Gesicht der Gräfin, das sich ja, wenn sie bloß den Namen der Äbtissin hört, schon drohend verfinstert, nicht verleiten lassen, meine Schwester in einem falschen Licht zu sehen. Angenehm ist sie ja wahrhaftig nicht, das kann kein Mensch behaupten, aber sie hat immerhin eine Reihe von Eigenschaften, die sehr selten sind. Sie darf von jedem das Höchste fordern, denn sie fordert es vor allem von sich selbst. Merkwürdig ist an ihr die mir, ich muß gestehen, völlig unbegreifliche Mischung von unausstehlicher Hoffart mit einer namenlosen Demut. Sie hält sich selbst für ein so verworfenes Geschöpf, daß es ein zweites Exemplar von solcher Sündhaftigkeit für ihr Gefühl in der ganzen Welt nicht geben kann, aber da sie nun einmal, gerade sie in ihrer Verworfenheit, durch Gottes Gnade zu so hohen Würden auserkoren wurde, sieht sie sich dadurch verpflichtet, aller Welt zu beweisen, welche Wunder Gottes unbegreifliche Macht auch am elendesten Stoff, wir Juristen würden sagen: mit ganz untauglichen Mitteln, bewirken kann. Sie verlangt die höchsten Ehren für sich, aber gar nicht für ihre Person, sondern für die Wunder der Macht Gottes, der sich gerade dieses niedrigste Geschöpf auf Erden ausgesucht hat, um zu zeigen, was seine Gnade vermag. Wenn man sie hört, hat überhaupt niemand auch nur das geringste persönliche Verdienst; was wir so nennen, ist alles Geschenk von oben. Wir sind grundböse. Es ist immer bloß die Gnade, die zuweilen unserer Natur Schweigen gebietet, und bloß in solchen Pausen, gewissermaßen in Ohnmachtsfällen unserer Natur, geschieht, was wir in unserem albernen Dünkel uns dann als unser eigenes gutes Werk anrechnen. Wir sind immer Sünder, wir werden nur durch die Gnade zuweilen überwältigt.«

Nach einer Pause sagte der Pfarrer lächelnd: »Das ist wunderschön empfunden, es gehört eine ganz außerordentlich seltene Verbindung von sehr hoher Kraft und innigster Demut dazu. Doch muß ich gestehen, nicht ganz sicher zu sein, ob es nicht eigentlich in manchen Punkten fast an Häresie streift.«

Da sagte Raderer, der anfangs kaum hinzuhören schien, unerwartet lebhaft: »Bewundernswert, beneidenswert, wer sich so, sich und sein ganzes Schicksal, einfach dem lieben Gott überantwortet! Er darf alles hoffen und hat nichts zu fürchten! Das war doch auch im Kriege so wunderschön: man tat seine Pflicht, Furcht hätt doch auch nichts geholfen, also war man tapfer, und tapfer zu sein ist doch an sich schon ein solches Glück, daß man es mit dem Tode zu bezahlen freudig bereit war. Der Glaube der Äbtissin Hildegard vereinfacht auch das ganze Leben so wunderschön! Die Menschheit zerfällt dann bloß in zwei Gruppen: die einen werden vom Teufel geholt und die anderen holt sich der liebe Gott. Wir haben bloß jeder tapfer den Weg der Bestimmung eines jeden zu gehen!

»Und sind dann«, sagte der Pfarrer gelassen, »mitten im schönsten Jansenismus.«

»War nicht,« rief Dr. Raderer, »war nicht auch Pascal Jansenist?«

»Und die Willensfreiheit?« sagte der Pfarrer ernst. »Widerstrebt es nicht durchaus unserer Empfindung, und keineswegs bloß der christlichen, uns vorzustellen, das Gott einfach dem einen die Gnade versagt, dem anderen gewährt, gleichgültig, ob einer würdig oder unwürdig ist? Ich muß schon sagen, daß das für mein Gefühl nicht bloß unchristlich ist, es ist unhuman!«

»Ja, wer sagt Ihnen denn, Hochwürden,« fuhr Raderer unaufhaltsam fort, »wer sagt Ihnen denn, daß Gott human ist? Er würde sich damit auch nur erniedrigen!«

Der Pfarrer sagte gelassen: »Er hat sich doch auch erniedrigt, er ist Mensch geworden.«

»Damit wird«, fuhr Raderer unnachgiebig fort, »mein Zweifel nicht beseitigt, ob Gott gerecht ist, gerecht in dem Sinne, den das Wort gerecht für uns Menschen hat!«

Der Graf sagte vermittelnd: »Unser Freund drückt sich auch für mein Gefühl ungeziemend aus. Ich kann mir aber schon denken, was er eigentlich meint. Unter uns dürfen wir uns ja, wenn wir auch noch so fest an die göttliche Gerechtigkeit glauben, immerhin eingestehen, nicht bloß, daß ihre Mühlen langsam mahlen, für unser menschliches Gefühl oft unerträglich langsam, sondern daß die Gerechtigkeit Gottes mit unseren Begriffen von Gerechtigkeit überhaupt nicht stimmte Daß Gerechtigkeit ein schlechtes Geschäft auf Erden ist, ging noch hin, aber unbegreiflich bleibt die für unser Gefühl doch durchaus ungerechte Verteilung der Gaben. Die schönsten Dichtungen, ergreifend und erhebend, ja beseligend und fast schon einen Vorgeschmack des Himmels gewährend, gelingen Dichtern, die sich bei näherem Verkehr persönlich als äußerst schofle Subjekte entpuppen, und wenn uns ein Meisterwerk durch den Adel an Gesinnung und die Reinheit des Gemüts, die daraus sprechen, eine persönliche Begegnung mit seinem Schöpfer wünschen läßt, sehen wir uns fast immer kläglich enttäuscht. Ich habe mir angewöhnt, Begegnungen mit großen Künstlern in weitem Bogen aus dem Wege zu gehen. Wer hätte nicht schon die schlimmsten Erfahrungen gerade mit Künstlern gemacht, deren Werk unser reinstes Entzücken und unsere höchste Bewunderung erregt? Und da fühlt man sich doch wirklich zuweilen versucht, zu fragen, ob denn das gerecht ist, daß der liebe Gott gerade die schäbigsten Menschen oft mit den reinsten Gaben überschüttet, die nach unseren irdischen Begriffen würdigsten aber leer ausgehen läßt! Es fällt mir nicht ein, darum an der Gerechtigkeit Gottes zu zweifeln, ich schließe daraus nur, daß sie offenbar ganz anders mißt, als nach den gewohnten Maßen unserer irdischen Gerechtigkeit.«

»Und so ist es dir glücklich gelungen,« sagte die Gräfin lachend, »uns allen, wie wir da so fröhlich beisammen sitzen, nur die Wahl zu lassen, daß wir entweder ganz unbegabt oder aber eine niederträchtige Gesellschaft sind. Ich hoffe, zu den Dummen zu gehören!«

»No selbstverständlich,« sagte der Graf, »das möcht ich mir auch ausgebeten haben, denn gleich und gleich gesellt sich gern!«

»Aber vergiß nicht,« rief die Gräfin, »es heißt auch: les extrêmes se touchent!«

»Ja, natürlich wird jetzt jeder der verehrten Gesellschaft zu den Dummen gehören wollen!«

»Ich weiß nicht,« sagte Raderer nachdenklich, »ich glaub doch, wenn ich wählen darf, lieber zu den Unmoralischen zu gehören. Es tut mir ja sehr leid!«

Der Pfarrer ließ das allgemeine Lachen verklingen, bevor er nachdenklich begann: »Unser Herr Graf kennt ja die Menschen länger und er kennt sie wohl auch weit besser als ich. Er wird mir aber verzeihen, wenn ich ihm dennoch widersprechen muß. Gewiß mißt der liebe Gott anders als wir Menschen in unserer Armseligkeit, er mißt mit Maßen, die wir nicht kennen, ja die wir uns gar nicht vorzustellen vermögen, aber ich meine, daß es darum doch nicht angeht, einfach die Guten ein für allemal als unbegabt, das aber, was wir Talent nennen, als ein Vorrecht schlechter Menschen zu betrachten. Wir dürfen doch nicht vergessen, daß Leid, Mißgeschick, Mangel, also auch Mangel an Begabung, wenigstens mit menschlichen Augen gesehen, daß dies alles oft genug bloß eine Prüfung ist, aus der, wer sie besteht, nur desto höhere Kraft schöpft, und daß umgekehrt ungewöhnliche Begabung vielleicht die stärkste Probe ist, auf die ein Mensch überhaupt gestellt werden kann. Der Vater eines begabten Kindes muß eigentlich fortwährend in Todesangst sein: denn je mehr jemand mitbekommt, desto weniger läßt ihn die Furcht ruhen, ob er denn seine Pflicht gegen sein Talent erfüllt und mit seinem Pfunde recht zu wuchern weiß. Wenn uns ungewöhnliche Begabungen, sei's der Wissenschaft, sei's der Kunst, sei's der Tat, zuweilen persönlich dürftig, ja vielleicht widerwärtig scheinen, so dürfen wir doch nicht vergessen, welche gewaltigen, ja fast unerträglichen Forderungen ihr Talent an sie stellt, und wenn wir sie zuweilen unter dieser furchtbaren Last zusammenbrechen und in dieser Erschöpfung dann sich lächerlich oder auch unziemlich, ja vielleicht abscheulich betragen sehen, sollten wir Mitleid haben und im stillen dem lieben Gott danken, daß er uns vor solchen Versuchungen gnädig bewahrt hat. Wer darf denn von sich sagen, daß er seine Pflicht tut? Ich selbst habe ja jetzt Gelegenheit, mich einmal ernstlich zu prüfen. Bloß der gute Wille genügt ja keineswegs. Ich hab Stunden, in denen ich fast geneigt bin, dem gewiß nicht sehr erfreulichen Bürgermeister mit seinem Gesuch an den Bischof um meine Abberufung und Bestellung eines besseren oder jedenfalls für diese Gemeinde tauglicheren Priesters selbst zuzustimmen und dem Bürgermeister, so wenig erfreulich er übrigens ist, in meinem Falle Recht zu geben.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt,« sagte der Graf ärgerlich, »aber glauben Sie nur nicht, daß, wenn Sie plötzlich kleinmütig werden, und sich selbst im Stiche lassen, deshalb auch ich desertieren werde! Da kennen Sie mich schlecht!«

»Das ist ein Mißverständnis, Herr Graf!« sagte der Pfarrer lächelnd. »Ich will nicht, wie Herr Graf das nennen, desertieren, ich halte schon stand, ich fürchte die Stürme gegen mich nicht! Aber sie waren mir ein Anlaß, einmal mein Gewissen zu erforschen und mich zu fragen, ob ich denn selber frei von aller Schuld bin. Die Leute hier waren mit meinem Vorgänger zufrieden, dem ich mich, nach allem, was ich über ihn höre, vielleicht einigermaßen überlegen fühlen darf, in vielem, bloß gerade, scheint's, in den Dingen nicht, die den Menschen, wie sie nun einmal hierzulande sind, nottun. Meinem Vorgänger widersprach niemand, er ließ es gar nicht erst dazu kommen, er sagte schon im voraus: Halt's Maul! Mein Fehler ist, daß ich nicht die Kraft aufbringe, Halt's Maul zu sagen. Ich hör jeden an, ich nehm seine Sorgen ernst, ich nehm sie fast tragisch, unwillkürlich wider mein besseres Wissen, da doch durch das Werk der Erlösung alle Tragik, jedenfalls im antiken Sinne, für alle Zeit erloschen ist.«

Der Pfarrer schwieg sinnend. Nach einer Weile sagte der Graf: »Ich fürchte, Hochwürden, Sie machen es sich zu schwer, sich und uns! Sie sind ein lebendiger Vorwurf für uns alle, durch Ihren Eifer, durch Ihre Strenge gegen sich selbst, durch Ihren tadellosen Wandel. Das geht in einer großen Stadt, in der der Einzelne verschwindet. Hier aber, wo jeder jedem dreimal im Tage begegnet, wird es einem unausstehlich – Sie verzeihen schon, Hochwürden, Sie wissen, wie sehr ich Sie zu schätzen weiß, aber eben durch Ihre Tugenden gerade sind Sie doch ein lebendiger Vorwurf für uns alle und Sie dürfen es den Menschen nicht übelnehmen, wenn es sie verdrießt, bei jedem Gang durch den Ort immer wieder diesem lebendigen Vorwurf zu begegnen. Das ist unangenehm! Und man kann's den Leuten nicht einmal verdenken, wenn sie sich darüber ärgern. Für Sie, verehrter Freund, mag das freilich schwer genug zu tragen sein und unsere Bewunderung für Sie wiegt freilich das Opfer nicht auf, das Sie Tag für Tag zu leiden haben.«

Nach einer Pause sagte der Pfarrer: »Opfer zu scheuen liegt eigentlich nicht in meiner Art, das glaube ich guten Gewissens sagen zu können. Ich mute mir zu, mich, wenn's darauf ankommt, in ganz guter Haltung steinigen zu lassen. Das ist nicht ruhmredig, denn dazu gehört wahrhaftig nicht viel, es geht schnell genug vorüber. Dagegen muß ich zu meiner Beschämung gestehen, daß ich nicht ganz sicher bin, ob ich die Kraft habe, standhaft an Nadelstichen zu verbluten. Worüber kann ich mich denn eigentlich beklagen? Was tut man mir denn? Man sekiert mich! Sekieren, das ist ein herziges liebes echt österreichisches Wort für ein auch echt österreichisches Verfahren, das niemand tragisch nimmt; es ist auch alles eher als tragisch! Und wenn Sie, verehrter Herr Graf, nach Jahren einmal sich meiner erinnern und mein elendes Schicksal beklagen und es fragt Sie dann jemand, was mir denn eigentlich so Schreckliches widerfahren ist, und Sie müssen ihm antworten: Ja, mein Gott, der arme Mensch ist halt von seinen Pfarrkindern schön langsam zu Tode sekiert worden, so wird der Zuhörer sich unwillkürlich eines leisen Lächelns nicht erwehren können, in das Sie selbst, verehrter Herr Graf, schließlich auch einstimmen werden, was ich Ihnen nicht einmal verargen kann«.

Nach einer Pause sagte der Graf: »Wissen Sie, Hochwürden, wie man das hierzulande nennt, womit Sie sich quälen? Nehmen Sie's mir nicht übel, aber Sie spinnen! Und das ist ein Laster, das, wenn es die Wurzeln anfrißt, Sie müssen schon verzeihen, wenn ich in Ihre Kompetenz übergreife, das dann einer Todsünde verflixt ähnlich sehen kann! Das heißt, ich versteh ja davon nichts, ich nehm das auch gleich alles zurück und bin zu jeder feierlichen Abbitte bereit, aber sagen Sie doch selbst, lieber verehrter Herr Pfarrer, muß einem da nicht die Geduld reißen, wenn jemand, den man schätzt, ja den man bewundert, den man zu großen Dingen berufen hält, wenn der bloß aus lauter Anständigkeit, aus einer falschen oder jedenfalls deplazierten Anständigkeit verrückt wird und, statt dreinzufahren und dreinzuschlagen, seinen Feinden wehrlos in den Fang rennt? Sich wehren, seine Rechte behaupten und von den Forderungen, die man hat, sich nichts abhandeln lassen, ist jeder seinem Stande schuldig, und wer sich das Kleinste von seinen Rechten nehmen läßt, versündigt sich an der Gerechtigkeit!«

»Gandolf«, sagte die Gräfin, leise bittend, die Hand auf dem Arm des Grafen, der unwillig knurrte, keineswegs bereit, seine Strafpredigt einzustellen, wäre nicht wieder der freudige Chor jener hellen Knabenstimmen erklungen, unsichtbar sich nähernd. Raderer hatte sich, als es zu dämmern begann, unauffällig entfernt und führte nun seine Zwerge wieder an den Tisch, wo sie jedem der Gäste mit artiger Verbeugung ein feingerahmtes kleines Bildnis der Gräfin, in zarten Farben wie von der Hand eines Primitiven und mit zierlichen Versen auf den Gedenktag, unter gut eingedrillten Knixen überreichten. Zugleich ging ein Rauschen und Knattern an und auf einmal stand die Alm zur Waldeinsamkeit in der wechselnden Farbenpracht des sprühenden Feuerwerks, das der allkundige Raderer knatternd abbrannte. »Sie sind wirklich ein Zauberer«, sagte die Gräfin mit einem dankbaren Blick. »Sie können alles und alles glückt Ihnen!«

»Ich will Ihnen«, sagte Raderer, »erklären, woher das kommt, daß ich mich auf manche Kunst verstehe. Sie müssen aber versprechen, es niemandem zu verraten! Wenn ich allerhand kann, so kommt das bloß daher, daß ich nie etwas gelernt hab. Ganz im Ernst. Was man lernen nennt, dadurch verlernen die Kinder bloß, sich auf die Kraft der eigenen Erfindung zu besinnen. Sie machen einfach nach, was ihnen der Lehrer vormacht, und der Erfolg ist, daß sie schließlich selber gar nichts können. Aber jetzt will ich meine kleine Truppe möglichst rasch heimbringen, hoffentlich noch trocken, und ich möcht auch den verehrten Herrschaften Eile raten!«

»Unsinn«, sagte der Graf. »Möglich, daß, wenn der Wind umschlägt, morgen ein Landregen kommt.«

Raderer war mit seiner Truppe schon im Eilmarsch fort, als sich die Gesellschaft langsam erhob. Der Graf sagte, der Gräfin den Arm bietend: »Es ist das Pech ungewöhnlich begabter Leute, denn Raderer hat ja wirklich eine ungewöhnliche Begabung, sozusagen eine Begabung für alles, aber das Unglück ist, daß derlei vielbegabte Menschen nun glauben, alles zu verstehen! Möglich, daß die schönen Tage nun bald gezählt sind, aber für die nächsten zwei Wochen garantier ich noch!« Da fielen schon die ersten schweren Tropfen klatschend nieder. Eilends heimgekehrt, bis auf die Haut durchnäßt, brummte der Graf: »In einer Zeit, wo die ganze Menschheit verrückt ist, kann man sich nicht wundern, wenn schließlich auch auf das Wetter kein Verlaß mehr ist!«


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