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Die Mörderhand Robert Payne's hatte im Hause des Staatsministers vier Personen getroffen. Nur einer von diesen, der Krankenwärter, war an seiner Wunde sofort verstorben. Das Messer des Verruchten hatte sich selbst gegen den Todtkranken erhoben, und gerade diesem galt der Meuchelmord-Versuch. Wunderbar hatte das Geschick es gefügt, daß gerade dies auserkorne Opfer von allen, die des Mörders Hand traf, am ungefährlichsten verwundet wurde.
Die Messerstiche, welche Payne gegen den Hals des Greises führte, sie waren wirkungslos abgeglitten von dem Drahtnetz, welches man um seinen zerbrochenen Kinnladen gelegt hatte, und der letzte, gegen die Brust geführte Stoß hatte, da der Kranke auf der Seite lag, die Brust nur gestreift, von einer Rippe· war das Messer abgeglitten. Nach kaum einer Woche war der Staatssecretair außer aller Gefahr und konnte sich der Pflege seines Sohnes Frederick widmen, dessen Zustand allerdings die höchsten Bedenken erregte.
Der Schlag mit dem schweren Pistol hatte eine heftige Erschütterung seines Gehirns bewirkt, daß ein Fieber eintrat, welches seine Wiederherstellung sehr zweifelhaft erscheinen ließ.
Vom ersten Tage der Krankheit an, gleich am nächsten Tage nach dem Attentat, hatte aber an dem Bett des Verwundeten eine Pflegerin ihren Platz genommen, deren unermüdliche Aufopferung und Selbstverleugnung die stumme Bewunderung aller Hausgenossen erregte. Tag und Nacht wich Miß Esther Brown nicht von Fredericks Seite, sie schien des Schlafes nicht in bedürfen, und selbst Speise nahm sie kaum mehr, als zur Erhaltung ihres Lebens unumgänglich nöthig war. Sie schien es sich zur Aufgabe gestellt zu haben, das Leben des Patienten mit der Aufopferung ihres eigenen zu erkaufen.
Ein halber Monat war vergangen, da erhielt sie in ihrer Pflege Unterstützung durch den Vater des Kranken, derselbe konnte bereits sein Bett verlassen und war so gut wie völlig hergestellt. Mit Rührung ruhte oft das Auge des Greises auf der unermüdlichen Pflegerin seinen Sohnes, und mit stummer Dankbarkeit hielt er oft die Hand des schönen Mädchens in der seinigen. Esthers Name war ihm nicht fremd, mehr als einmal hatte er ihn mit Leidenschaft und Begeisterung von Fredericks Lippen aussprechen hören. Mehr als einmal hatte er ihren Heroismus preisen hören, und auch jetzt verließ das Bild der schönen Quadroone den Kranken keine Minute, immer wieder kehrte ihr Name in seine Fieberphantasien. Bald sah er sie von wilden Thieren zerrissen, und er rang mit den Bestien, ihnen die Beute streitig zu machen, bald schien sie vor ihm zu fliehen, und er streckte flehend die Arme aus und beschwor sie, zu ihm zurückzukehren, bald – und dann nahm selbst das Auge des Geistesabwesenden einen Glanz himmlischer Verklärung an – glaubte er sie in seinen Armen zu halten und schien den Versicherungen ihrer Liebe zu lauschen.
Drei Wochen waren verstrichen. Die Fieberphantasien des Kranken ließen nach, ein ruhiger Schlummer stellte sich ein.
Während eines solchen stand eines Tages der Arzt neben dem Krankenbette. Erwartungsvoll heftete Esther ihr Auge auf sein Antlitz. Der Arzt betrachtete den Schlafenden lange, dann sagte er:
»Er wird aus diesem Schlummer bei vollem Bewußtsein erwachen, und dann ist – alle Gefahr vorüber.«
Esther faltete ihre Hände, ihr Auge richtete sich gen Himmel und ihre Lippen flüsterten ein Dankgebet Dann warf sie sich an des Greises Brust und ließ den Thränen freien Lauf.
Mr. Seward legte sanft seinen Arm um sie, sein Mund berührte ihre Stirn; und leise sagte er:
»Es ist das dritte Mal, daß Sie mir den Sohn und sich – den Gatten errettet haben aus Todesgefahr, und Gott wird Sie segnen ...«
Esther ließ ihn nicht aussprechen. Sie machte sich aus seinen Armen los, und das Auge, das bisher Wonne und Glückseligkeit mit Thränen gefüllt hatten, blickte plötzlich ernst und fest.
»Ich muß gehen,« sagte sie. »Er ist gerettet, bestellen Sie ihm meinen Gruß, er sieht mich nie wieder im Leben. Uebergeben Sie ihm dies Papier, es enthält die Thatsachen, die ihm aus meinem Leben unbekannt sind, und diese werden meine Handlungsweise rechtfertigen. Aber öffnen Sie das Manuskript nicht eher, als nach 24 Stunden, und übergeben Sie es Frederick nicht eher, als bis Sie sicher sind, daß eine Ueberraschung seiner Gesundheit nicht schadet. – Leben Sie wohl, Sir.«
Sie preßte die Hand des Greises an ihre Lippen, dann aber beugte sie sich über den Schlafenden. Fest und innig drückten sich ihre Lippen auf die seinigen, und so sehr sie auch nach Selbstbeherrschung rang, sie konnte es nicht hindern, daß eine große Thräne auf sein Kissen herabfiel.
Vergebens bat und beschwor sie der Greis, zu bleiben und seinem Sohn bei seinem Erwachen die Freude ihres Anblicks zu gewähren. Sie blieb unerbittlich. Sie verließ das Haus und Washington, um nie dahin zurückzukehren.
Als die 24 Stunden, welche sie sich ausbedungen, verstrichen waren, befand sie sich schon weit, weit im Innern des Landes, wo sie vor jeder Nachforschung gesichert war. Mr. William Seward öffnete das Manuscript, welches sie ihm übergeben hatte, und las, und als er geendet hatte, mußte selbst der Greis sich eine Thräne aus seinen Augen trocknen. Die Schrift enthielt die Erzählung dessen, was Esther für Miß Emmy Brown gethan. Daß sie, um sie von dem Contract frei zu machen, ihre Ehre an Berckley verkauft habe, von diesem aber schändlich betrogen sei. Sie schloß mit den Worten:
»Du siehst, geliebter Mann, daß ich Dir nimmer gehören darf – ich bin Deiner nicht werth, ich habe mich Deiner unwerth gemacht, um der Schwester Glück zu begründen. Laß das große, das fürchterliche Opfer nicht vergebens gebracht sein. Führe Emmy zum Altar, das allein kann mich mit meiner That aussöhnen. Das Leben ist mir verhaßt, und ich werfe diese Last von mir, wenn ich sehe, daß ich vergebens das Heiligste, das ein Mädchen besitzt, hingeopfert habe. Mich siehst Du nie wieder, es sei denn, daß ich erfahre, Du bist Emmy's Gatte und glücklich in ihrem Besitz. Nur Dein und Emmy's Glück wird mich mit dem Leben aussöhnen.«
Esther nahm den Weg über Virginien nach den nordwestlichen Staaten. Sie vermied die Hauptstraßen um nicht den Leuten zu begegnen, welche sie kannten, damit keine Möglichkeit geboten werde, ihre Spur aufzufinden. Deshalb passirte sie auch nicht die Schiffbrücke über den Potomac, sondern die weiter südlich belegene Fähre.
Tief in die Ecke des Wagens gedrückt, fuhr sie die einsame Chaussee durch die Wälder, welche das Ufer des Potomac bildeten, dahin. Es war bereits in später Dämmerstunde, als sie die Fähre erreichte. Da kamen zwei Reiter in scharfem Trade vorüber. Esther warf nur einen flüchtigen Blick auf dieselben, aber sie hatte einen von ihnen, trotz der Finsterniß, erkannt, und schob schnell die Vorhänge des Wagens zusammen; denn vermuthlich wollten auch Jene über die Fähre, und wie leicht hätte dabei nicht Einer einen Blick in den Wagen werfen und sie erkennen können.
Die Reiter nahmen indessen nicht ihren Weg über die Fähre, sondern weiter den Strom hinab. Lassen wir Esther ihre Reise fortsetzen und folgen den Reitern.
Sie ritten wohl eine Stunde südwärts immer das Ufer hinab. Es waren zwei Männer in Offiziers-Uniform. Sie hatten während des ganzen Weges kein Wort gesprochen. Plötzlich hielt der Eine von ihnen sein Pferd an. Der andere that dasselbe.
»Hier, Miß Mary,« sagte der Erstere, »ist die Stelle, an welcher man Booth's Leichnam versenkt hat. Auf Ihren Wunsch habe ich mir dieselbe von Mr. Conger zeigen lassen. Dort drüben steht die Eiche, ich kann mich nicht täuschen. Wenn man von hier aus gerade auf die Eiche zufährt bis in die Mitte des Flusses, so hat man genau die Stelle.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Schleiden,« antwortete Mary Powel, denn daß es diese war, wird der Leser bereits errathen haben. »Ich habe jetzt nur noch die eine Bitte, daß Sie bis zum Fährhause zurückreiten und mich dort erwarten, oder nach einer Stunde hierher zurückkehren.«
Sie reichte ihm ihre Hand. Schleiden ergriff dieselbe und blickte sie schmerzvoll fragend an, als erwarte er, dass sie ihm noch etwas zu sagen habe.
Mary verstand diesen Blick.
»Mr. Schleiden,« sagte sie, »mehr als für diesen Dienst, danke ich Ihnen für die Güte, mit welcher sie mir, anstatt mich mit Verachtung zurückzustoßen, Ihre Hand bieten. Ich habe eine Schuld auf dem Gewissen, die ich gegen das Vaterland beging, und darf nimmermehr die Gattin eines Ehrenmanns wie Sie werden, als bis diese Schuld gesühnt ist. Sie sind zartfühlend genug gewesen, mich nicht um den Grund zu fragen, weßhalb ich die Stelle aufsuche, wo der Leichnam des Präsidentenmörders begraben liegt, auch dafür danke ich Ihnen. Jetzt leben Sie wohl.«
Mit diesen Worten suchte sie dem Major ihre Hand zu entziehen. Der aber hielt sie fest.
»Ich trug Ihnen meine Hand an, Miß, obgleich ich weiß, daß Sie trotz aller Verachtung gegen die That ihre Neigung für den – für Booth, noch nicht ganz niedergekämpft haben. Ich kenne aber Ihr reines Herz gut genug, um zu wissen, daß das, was Sie gefehlt, tausendmal durch die Reue gesühnt ist; Sie versprachen mir hier Ihre Antwort ...«
»Sie werden meine Antwort auf Ihren für mich viel zu ehrenvollen Antrag in einer Stunde haben, Mr. Schleiden, dessen seien Sie versichert.«
Zögernd wandte der Major sein Pferd und ritt den Weg zurück. Schon in wenigen Minuten barg ihn die Dunkelheit der Nacht.
Mary, welche, wie wir andeuteten, sich in der Uniform eines Offiziers befand, stieg ab und band das Pferd an einen Baum. Am Ufer lag ein kleiner Kahn. Sie band denselben los, stieg ein und ruderte in der Richtung der gegenüberstehenden Eiche, bis in die Mitte des Stromes. Dort zog sie das Ruder hinein.
Die Nacht war dunkel und still, nur ein scharfer Südwest rauschte in dem Laube der riesigen Bäume am Ufer. Doch düstrer als die Nacht war es in Mary's Seele, und stürmischer als der Südwest tobte die Reue in ihrer Brust.
»Die Schuld muß gesühnt werden,« murmelte sie. »Ein todeswürdiges Verbrechen kann nur der Tod sühnen. – Teufel – Mörder! – Ich kann Dich dennoch nicht hassen. Das Leben warf uns auf seine weit verschiedenen Bahnen. Der Tod soll uns vereinen!« – – – – – – – – – – – –
Mr. Schleiden wartete eine Stunde im Fährhause, bestieg, als Mary immer noch nicht zurückkehrte, sein Pferd und ritt an die Stelle zurück, wo er sie verlassen hatte.
Da stand noch das Pferd angebunden. Mary war verschwunden. Eine Ahnung tauchte plötzlich in ihm auf. Sein Auge suchte die Dunkelheit zu durchdringen und heftete sich auf die breite schwarze Wasserfläche des Stromes.
Da jagte der Wind die Wolkenschicht, welche vor der Mondscheibe gestanden, vorüber, das blasse Licht brach sich durch die Wipfel der Bäume und spiegelte sich aus der wellengekräuselten Oberfläche des Wassers. –
Ha! dort schwimmt ein Boot, mitten auf dem Strome – es ist leer!
»George Borton!« rief er angstvoll »Mary! Geliebte!«
Keine Antwort.
»In rasender Eile jagt er bis zur Fähre, setzt alle Fischer und Fährleute in Bewegung. Mit Fackeln und Laternen begiebt er sich zurück. Auf dem stillen Wasser des Stromes wird es lebendig, alles regt sich, angespornt durch Schleidens Zurufe und durch die Verheißung aller möglichen Belohnungen. –· –
Schon am nächsten Tage stand in den New-Yorker Zeitungen die Nachricht:
»Wieder haben wir den Tod eines verdienten Mannes zu beklagen. George Borton, welcher sich im Kriege so Vielfache Verdienste erworben, derselbe, welcher bei der Ergreifung des Rebellenpräsidenten so wesentlich betheiligt war und dafür zum Major ernannt worden ist, hat gestern Abend das Unglück gehabt, im Potomac in der Nähe der Fähre zu ertrinken.«
Niemand auf der Welt wußte den wahren Zusammenhang, außer dem Major Schleiden, und dieser hat das Geheimniß tief in seinem Herzen bewahrt.