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Der Advocat Mr. Powels hatte bereits den Hut in der Hand, um sein Bureau zu verlassen und sich zum Frühstück zu begeben. Er war deshalb wenig erbaut von dem Besuche, der ihn daran hinderte. Ohne weitere Einleitung sprang der kleine Mann auf den Advocaten zu, faßte ihn bei beiden Armen und rief:
»Sie dürfen nicht gehen, Sir! Sie müssen hier bleiben! den ganzen Tag im Bureau bleiben! Auf das Courthaus gehen! Nach Cityhall gehen, kurz Alles thun, was zu thun nöthig ist, denn Charles Powel muß noch heute frei sein; er ist unschuldig!«
Der Advocat maß den kleinen, aufgeregten Mann mit einer Miene, als ob er ihn für verrückt hielte. Mr. Powis aber fuhr fort:
»Sie glauben nicht, Sie wollen Beweise ... Hier, da ist der Beweis. Dieser Brief ... ich habe nur drei Zeilen gelesen, aber er ist unschuldig, rein, wie das Licht der Sonne, und vollständig gerechtfertigt wird er noch heute den Kerker verlassen.«
»Nun, Mr. Powis,« brummte der Advocat, »es wird hoffentlich nicht so eilig sein. Ich werde, was Sie mir zu sagen haben, in der Bureaustunde um 4 Uhr zu Protokoll nehmen. Es ist jetzt keine Geschäftszeit in meinem Bureau. Ich ersuche Sie daher, später wiederzukommen.«
»Nichts da, Sir; ich lasse Sie nicht fort. Geschäftszeit muß es immer, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht für jeden Mann sein, wenn es gilt, einem Unglücklichen zu helfen. Um 4 Uhr wiederkommen? Können Sie es verantworten, einen Mann, der unschuldig ein Jahr im Kerker schmachtete, noch eine Minute länger seinem Unglücke zu überlassen, da es in Ihrer Macht steht, ihn zu befreien? Ich habe so unumstößliche Beweise seiner Unschuld, daß es nur von Ihnen abhängt, ihm sofort die Freiheit zu geben.«
»Aber Sir, es ist Essenszeit.«
»Essenszeit? – Ich wiege Ihnen Ihre Mahlzeit mit Gold auf. Nehmen Sie doppelte Sporteln, zehnfache, hundertfache, tausendfache – aber kommen Sie, zeigen Sie, daß Sie nicht blos ein Mann von Verstand sind, sondern daß Sie auch ein Herz für die Leiden Ihrer Mitmenschen haben. Sie müssen ohne Umstände mit mir aufs Courthaus gehen.«
Ob nun die Appellation des guten Mannes an sein Herz, oder die Erlaubniß, seine Sporteltaxe ad libitum zu erhöhen, ihn bestimmte, – genug, der Advocat stellte den Hut auf den Tisch, kreuzte die Hände auf dem Rücken und begann, indem er sich an sein Pult lehnte, das Verhör.
»Nun, so lassen Sie hören; was haben Sie für Beweise?«
»Sie erinnern sich der Geschichte von Powels Verhaftung genau?« fragte Mr. Powis.
»Nicht aber sehr genau. Indessen habe ich ja die Verhandlungen in den Acten und kann jeder Zeit nachsehen.«
»Ei was Akten! – Nachsehen! – das ist Zeitverlust. Ich werde es Ihnen in Kürze wiederholen, Sir: Mr. Powel erhielt einen Brief in blaßrothen Couvert. Der Brief war an mich adressirt und enthielt Geld, man weiß nicht, wieviel. Nun behauptet Mr. Powel, er habe, als er nur die Ueberschrift gelesen und gesehen, daß der Brief nicht für ihn bestimmt, denselben wieder zusammengefaltet und ihn sammt dem Inhalte an Mr. Atzerott, von welchem er den Brief erhielt, zurückgegeben zur Beförderung an meine Adresse.«
»Ganz recht,« sagte der Advocat. »Ich entsinne mich, Mr. Atzerott hat beschworen, den Brief von Mr. Powel nicht zurück empfangen haben, und in Folge dessen ist Mr. Powel der Unterschlagung schuldig erkannt und verurtheilt worden.
»So ist es; aber der Brief ist gefunden und zwar bei Mr. Atzerott gefunden worden. Es ist also bewiesen, daß dieser den Brief von Powel zurückerhalten hat, und Powel ist unschuldig.«
»Und woher wissen sie das?«
»Hier, hier!« rief der kleine Mann und zog den Brief in blaßrothem Couvert aus seinem Portefeuille, steckte ihn aber sofort wieder ein, indem er zugleich des Advocaten Arm nahm und ihn beinahe gewaltsam zur Thür hinauszog. »Zum Courthause, Sir! Sie müssen mit kommen, unverzüglich mitkommen.«
Es war indessen für den Augenblick unmöglich, Etwas für Mr. Powel zu thun; denn auch der Richter, welcher mit dergleichen Geschäften betraut war, befand sich um diese Tageszeit nie auf dem Bureau und Mr. Powis mußte sich schon darin fügen, den Advocaten zum Frühstück zu begleiten.
Inzwischen aber ereignete sich etwas Anderes, welches sehr geeignet war, das Interesse an dieser Entdeckung von Powels Unschuld plötzlich in den Hintergrund treten zu lassen, ja seine Freilassung für heute völlig unmöglich zu machen, da sich ganz New-York inclusive seiner Richter auf Castle Garden versammelt hatte.
Ein Kanonenschuß nämlich hatte das Einlaufen der Kearsage verkündet, und das Volk versammelte sich jubelnd, um den Besieger des Seeräubers zu sehen, den Helden des Tages, Mr. Eugene Powel, dessen Portrait bereits in hundertausend Exemplaren in New-York verbreitet war, und die Genugthuung zu haben, die gefangenen Seeräuber in den Kerker führen zu sehen. Glücklicher Weise verzögerte sich die Ausschiffung der Gefangenen nicht, und auch Mr. Eugene Powel, der Capitain der Kearsage that dem Publikum den Gefallen, möglichst bald ans Land zu gehen, sodaß also die Neugierde der Neuyorker Bevölkerung beim Wiederbeginn der Bureaustunde bereits befriedigt war.
So konnte man denn also auch den Richter auf dem Courthause getrost wieder aufsuchen.
Der Richter nahm die Nachricht, daß sich der Brief Mr. Powels gefunden, mit großer Freude auf und versicherte, daß demnächst nicht das geringste Bedenken im Wege stände, den Gefangenen frei zu lassen. Indessen durch das Auffinden des Briefes sei nur dargethan, daß Mr. Powel denselben an Atzerott zurückgegeben habe; indessen bleibe es immer doch zweifelhaft, ob er nicht vorher das Geld, das ja auf der Adresse nicht declarirt war, herausgenommen habe, und der Verdacht, daß das geschehen, werde so lange bestehen, als eben jener Mr. Crofton, auf den sich Powel berufen habe, nicht aufgefunden sei.
Mr. Powis sah sehr niedergeschlagen aus. Er kannte bereits den Charakter des Gefangenen sehr gut, um zu wissen, daß dieser wenig erfreut sein werde über eine Freilassung, die nicht mit einer völligen Herstellung seiner Ehre und mit einem unumstößlichen Beweise seiner Unschuld verknüpft sei.
Der Richter ließ vor allen Dingen den Gefangenen selbst citiren. Mit einer freundlichen Handbewegung lud er ihn zum Sitzen.
Powel, dessen Erstaunen über diese Citation in banges Hoffen überging, folgte dem Winke.
»Wären Sie nicht im Stande,« fragte ihn der Beamte, »vorkommenden Falls den unterschlagenen Brief wiederzuerkennen?«
Mr. Powel richtete sich bei diesen Worten wieder hoch auf. Eine Ahnung sagte ihm, daß der Brief gefunden sei.
»O gewiß!« rief er, »die Anrede, die ich gelesen, steht lebendig vor mir. Ich könnte die Schriftzüge nachmalen.«
»Nun, so sehen Sie diesen Brief an,« sagte der Richter und hielt ihm das Blatt, welches in dem blaßrothen Couvert steckte, hin.
»Ja, ja, das ist er, da steht es: »Mein lieber Mr. Powis!« das ist die Anrede, das ist der Brief! Gott im Himmel sei gepriesen, daß er sich gefunden hat. Dieses und nicht mehr hab' ich gelesen von dem Briefe. Mit einem heiligen Eide will ich es beschwören!«
So jubelte der Glückliche auf und schaute leuchtenden Auges auf die Herren in der Runde.
»So freue ich mich von Herzen, Mr. Powel, daß ein Theil der Anschuldigung gegen Sie durch diese Entdeckung entkräftigt ist,« sagte der Richter, »und spreche die Hoffnung aus, daß auch die übrigen Belastungsmomente im Laufe der Zeit werden entkräftet werden.«
Mr. Powel blickte den Richter fragend an.
»Ich meine,« fuhr dieser fort, »es wird Ihnen gelingen, darzuthun, daß das Gold, welches man bei Ihnen fand, nicht von dem Inhalte dieses Briefes herrührt, sondern daß Sie dasselbe wirklich von dem Mr. Crofton, auf welchen Sie sich berufen, und welcher immer noch nicht hat aufgefunden werden können, erhalten haben. Man wird Ihren Prozeß wieder aufnehmen, allein er wird nicht zu einem gänzlich glücklichen Ende geführt werden können, bevor Sie diesen Beweis geliefert haben.«
»Und den Beweis liefere ich mit meinem Eide!« rief hier eine Stimme von der Eingangsthür her.
Man hatte nicht bemerkt, daß während der Verhandlung einer der Gerichtsdiener einem Manne die Thür geöffnet hatte, der stürmisch Einlaß begehrt und behauptet hatte, er sei bei dieser Verhandlung ein Hauptzeuge Alles wandte sich nach dem Sprecher um. Niemand außer dem Gefangen kannte denselben, dieser aber sprang empor:
»Crofton! Crofton! – Freund, Bruder! – Du kommst, wie ein Engel vom Himmel!« und in den Armen lagen sich die Freunde. Schluchzen erstickte ihre Stimme; wieder und wieder schüttelten sie sich die Hände, und alle Anwesenden theilten ihre Rührung.
Der Richter unterbrach zuerst das Schweigen, das bei dieser Scene eingetreten war.
»Sie sind der Chef des Handlungshauses J. Crofton in Baltimore?«
»Ja, Sir.«
»Sie sind am dritten Juli vorigen Jahres durch New-York gereist?«
»Ja, Sir.«
»Sie können beschwören, Ihrem Freunde, Mr. Powel, an dem Tage auf dem Bahnhofe eine Anzahl Goldstücke ausgehändigt zu haben?«
»Fünfhundert Dollars in Gold, Sir,« erwiederte Mr. Crofton. »Ich will es beschwören. Er sprach mir von seiner traurigen Lage, und ich nahm, was ich bei der Hand hatte und gab es ihm mit dem Versprechen, bald mehr für ihn zu thun. Ich hatte die Absicht, ihm eine Stellung auf einer meiner Faktoreien zu geben. Indessen hatte ich das Unglück, dem Caper in die Hände zu fallen und dort in Gefangenschaft zu bleiben, bis ich heute von der Kearsage befreit hier ankomme. Mein erster Gang und meine erste Frage galt meinem Freunde Charles Powel. Ich höre, daß er, der Unterschlagung verdächtigt, gefangen sitzt. Ich eile hierher und Gott sei gepriesen, ich komme zur guten Stunde.«
Als Mr. Crofton geendigt, stand der Richter auf und schritt auf Powel zu, der im Uebermaaß seiner Freude sich nicht aufrecht zu halten vermochte und sich auf die Lehne des Stuhles stützte. Der Beamte drückte ihm herzlich die Hand; ebenso sein Secretair und der Advocat, und flüchtig wurde ihm nun mitgetheilt, wie Mr. Powis die erste Ursache der Entdeckung seiner Unschuld gewesen sei.
Powel, kaum eines Wortes fähig, versuchte ihm in danken, doch vermochte er es nicht. Mit Thränen der Freude in den Augen erwiderte er den Händedruck der Männer, während sein Geist – wer will es ihm verargen – daheim bei den Seinen war.
Plötzlich wurde die frohe, glückliche Stimmung der Männer durch einen lauten, ja furchtbaren Aufschrei des kleinen Rentiers unterbrochen. Derselbe hatte den Brief, nachdem ihn der Richter aus der Hand gelegt, als sein unbestreitbares Eigenthum an sich genommen, und einen Blick hineingeworfen.
Wie wir schon erwähnten, hatte er von dem Briefe nur den Anfang gelesen und in seiner Freude über die Entdeckung nicht daran gedacht, ihn zu Ende zu lesen. Erst jetzt hatte er das Schreiben gänzlich durchflogen. Je weiter er aber las, je größer wurde sein Erstaunen, je fieberhafter seine Aufregung, und mit einem lauten, durchdringenden Aufschrei, der die Anwesenden förmlich zusammenfahren machte, rief er:
»Ein Wort, meine Herren! Etwas Wunderbares hat sich kundgegeben. Wenn das nicht des Himmels Fügung ist, um die Unschuld jenes Mannes dort aufs Klarste herzustellen, so giebt es überhaupt keinen Gott da oben, der die Geschicke der Menschen lenkt. Ja, Gentlemen, hier ist der lauterste Beweis, daß Mr. Powel die Wahrheit, zu allen Zeiten die vollste Wahrheit gesprochen. Wie er gesagt, so verhält es sich. Keine Zeile des Briefes selbst hat er gelesen, denn hätte er das gethan, so wäre er im vollsten Rechte gewesen, den Inhalt desselben, drei Banknoten von je tausend Dollars, zu behalten, denn das Geld gehörte ihm.«
Die Anwesenden, anfänglich etwas ärgerlich über die immerwährenden, oft unzeitigen Unterbrechungen des kleinen Mannes, wurden nun in der That aufs Höchste erstaunt, und der Richter, der seine ganze Würde fahren ließ, bat eben so neugierig, wie die Uebrigen, um Aufklärung.
»Hören Sie, was der Brief sagt,« erwiderte voll stolzer Freude der kleine, alte Herr, indem er sich stolz hoch aufrichtete und mit triumpirenden Blicken Einen nach dem Andern anschaute, »hören Sie, der Schreiber dieses Briefes ist Niemand anders, als Miß Mary Powel, die Schwester des Verurtheilten, welche, wie wir aus dem letzten Prozesse wissen, in der Armee unter dem Namen George Borton, als Freiwillige diente. Sie schickte ihm diese Summe, ihre Ersparnisse, weil sie wußte, daß er in Noth sei. – Da der Brief eingeschmuggelt werden mußte, so war sie nicht sicher, ob ihn nicht die Agenten des Südens unterschlagen würden, wenn auf der Adresse der Name dieses Mannes stand, der als ein so begeisterter Anhänger der Unionspartei bekannt war. Sie zog es deshalb vor, den Brief an mich zu adressiren, da sie voraussetzte, daß man mir, einem Anhänger der demokratischen Partei den Brief sicherlich nicht unterschlagen, sondern Alles aufbieten würde, um denselben an mich gelangen zu lassen. Und wie sie schmeichelhaft hinzusetzt, kennt sie meine Rechtlichkeit und ist überzeugt, daß ich ihrem Bruder das in dem Briefe befindliche Geld unverkürzt zukommen lassen werde. –
»Das meine Herren ist der Inhalt des Briefes. Da steht es vor Ihnen, da können Sie es lesen, daß ich die Wahrheit gesprochen.«
Mr. Powel hatte mit steigendem Erstaunen diesen höchst merkwürdigen Bericht mit angehört. Er konnte das Gehörte kaum fassen, für möglich halten, und doch war es so.
Mr. Powis ließ ihm aber keine Zeit zum weiteren Erstaunen. Er eilte auf ihn zu, umarmte ihn ein über das andere Mal, während die übrigen Herren sichtlich und tief ergriffen sich abermals an ihn drängten, um ihn zu beglückwünschen, ihm als Zeichen der herzlichsten Theilnahme die Hand zu drücken.
»Da dieser eine Brief solche Wunder gethan,« nahm jetzt der Advocat das Wort, »so wäre es möglich, daß uns auch der zweite Brief, welchen Mr. Powis in Händen hat, noch wünschenswerthe Aufschlüsse giebt.«
Mr. Powis überreichte den in Chiffern geschriebenen und mit der Aufschrift K. G. C. versehenen Brief dem Richter. Es war aber Niemand unter den Anwesenden, der den Brief zu entziffern vermochte. Nur Mr. Crofton sagte, indem er die Schrift nachdenkend betrachtete:
»Hm! Es wäre nicht unmöglich, daß ich Jemand beschaffte, der den Brief zu entziffern im Stande ist, Mein Freund, der Lieutenant Richard Brocklyn, dessen Vater mit dem Süden vielfach correspondirt, hat mir von einer Chiffernschrift gesprochen, deren sich jene Herren sehr häufig bedienen, und zu welcher er den Schlüssel kennt. Mein Freund Brocklyn ist, wie Sie wissen, jetzt in New-York, und es kann nicht schwer sein, ihn zu erfragen.
Der Richter nahm den Brief zu den Akten und versprach sofort die nöthigen Maßregeln zur Entzifferung des Briefes zu treffen. –
Mr. Powis hatte auf diese weiteren Verhandlungen kaum geachtet. Er war selig und versuchte durch immer erneute Versicherungen seiner Freundschaft und seiner Glückseligkeit seiner Freude Ausdruck zu geben. Jetzt aber hielt es ihn nicht mehr und Mr. Powels Aeußerung:
»Jetzt laßt mich nach Hause zu den Meinen«, die er fast unter Thränen hervorstammelte, war ihm aus der Seele gesprochen.
Er hatte längst die Gefühle des Befreiten errathen und sprang jetzt hinzu, reichte ihm einen Hut; wessen Kopfbedeckung er in der Eile ergriffen, ob die des Richters oder des Advocaten oder Mr. Croftons, das wußte er nicht. Es war ihm auch vollständig gleich: und nachdem er selbst Hut und Stock genommen, griff er dem Unglücklichen unter den Arm und empfahl sich kurzweg den Herrn insgesammt, Powel mit zur Thüre hinausziehend. In der Thür aber wandte er sich noch einmal um, ergriff mit dem andern Arm den Mr. Croftons, indem er ihm zurief:
»Oh! Sie dürfen bei der Freude des Wiedersehens nicht fehlen!«