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Hundertunddreißigstes Kapitel.
Der Mörder am Bett eines Sterbenden

In dem Hause des Staatssecretairs Seward herrschte bereits seit zwei Tagen tiefe Trauer.

William Seward hatte sich, wie wir bereits erzählten, in seiner Villa bei Alexandria aufgehalten, als ihm der Brief Conovers übergeben wurde.

In seinem Eifer, für das Interesse der Person des Präsidenten und des Staates zu wirkten, wartete er nicht eine Gelegenheit ab, um diesen Brief zu expediren, sondern setzte sich zu Pferde und ritt selbst nach Washington.

Wir kennen den Unfall, der ihm begegnete. Er hatte eine Kinnlade und einen Arm gebrochen; in einem fast hoffnungslosen Zustande wurde er nach Washington in sein Haus getragen, und als die Freudennachricht von der Capitulation Lee's eintraf, da lag er bewußtlos und vor Schmerzen ächzend auf seinem Lager.

Man hatte seinem Sohne Frederic sofort eine telegraphische Meldung von dem Unfalle, der seinen Vater betroffen, zugehen lassen, und der Major Frederic Seward war am Morgen des 14. April in Washington eingetroffen, um die letzten Augenblicke, die seinem Vater noch vergönnt sein möchten, in seiner Nähe zuzubringen.

Man hatte die besten Aerzte herbeigerufen; dieselben hatten den Arm in einen Gipsverband gelegt, den zerbrochenen Kinnbacken aber durch ein Drahtnetz verbunden, welches die Hälfte des Kopfes bis zum Halse hinab bedeckte.

Die Anlegung dieses Drahtnetzes verursachte dem Kranken unsägliche Schmerzen, und mehr als einmal rief Frederic aus:

»Ist es nicht möglich, ihm zu helfen mit einer weniger schmerzhaften Kur?«

Erst als die Aerzte wiederholt erklärten, daß ein sicheres Resultat nur erzielt werden könne durch eine solche Art von Verband, ergaben sich die Angehörigen darin.

Die Qualen, welche der Kranke während dieser Operation ausgestanden, hatten fast den letzten Rest seiner Kräfte erschöpft. Ohne sich zu regen, mit kaum merklichem Puls lag er in seinem Bette, die Augen geschlossen, ohne Theilnahme für seine Umgebung, ja, ohne einmal die Fähigkeit zu besitzen, sich umzuwenden.

Niemand wurde zu ihm gelassen.

Selbst die Boten Lincolns und der Minister, welche abgeschickt waren sich nach dem Befinden des Staatssecretairs zu erkundigen, und die Erlaubniß nachsuchten, zu ihm gelassen zu werden, wurden abgewiesen.

Der Zustand des greifen Diplomaten war äußerst bedenklich; einer der mächtigsten Pfeiler der Republik war morsch geworden und konnte über Nacht zusammenstürzen.

Nicht nur die Freunde Sewards, nicht nur diejenigen, welche wußten, was sein Riesengeist für die Republik war, welche seine umfassende Thätigkeit und seine diplomatische Gewandtheit kannten, zitterten vor seinem Tode; jeder einzelne Bürger hegte Besorgniß und aus allen Gegenden des Landes fragte man telegraphisch nach dem Befinden Sewards.

So kam der Abend des 14. April heran.

Da schien eine Besserung einzutreten.

Neben dem Lager des greifen Staatsmannes saß dessen blühender Sohn, jeden seiner Athemzüge belauschend und aus jedem, auch dem leisesten Anzeichen von wiederkehrendem Bewußtsein neue Hoffnung schöpfend.

Seit zweimal vierundzwanzig Stunden hatte man von dem Kranken kein Wort gehört, ja, man wußte nicht einmal, ob er seines Bewußtseins mächtig war; da trat leise ein Bedienter ein, geräuschlos die Portieren zurückschlagend. Auf den Zehen näherte er sich dem Major und sagte flüsternd:

»Mr. Nicolai kommt im Auftrage des Präsidenten, sich nach dem Befinden Ihres Vaters zu erkundigen. Se. Excellenz ist im Theater und wünscht noch heute Abend Antwort zu erhalten.«

»Es hat sich noch nichts in seinem Zustande geändert,« sagte Frederic eben so leise.

»Ferner läßt der Präsident anfragen,« fuhr der Bediente fort, »ob man dem Kranken die neusten Nachrichten vom Kriegsschauplatze mittheilen dürfe, die Capitulation Lee's und die Unterweisung der letzten Guerillabanden in Virginien?«

Frederic machte eine verneinende Geberde.

Plötzlich richtete der Kranke sich auf.

»Lee hat capitulirt?« fragte er mit kaum hörbarer Stimme.

»O, mein Vater!« rief Frederic, und Thränen entstürzten seinen Augen, »Gott sei gelobt, daß Dir das Bewußtsein zurückgekehrt ist, daß Du wieder ein Wort zu sprechen im Stande bist! Aber sprich nicht, Vater, sondern ruhe! Der Arzt hat Ruhe befohlen; durch nichts soll man Dich aufregen, jede Aufregung kann für Dich tödtlich sein!«

»Lee hat capitulirt!« murmelte Seward und ließ den Kopf wieder sinken, indem er das Antlitz nach der Wand zudrehte und die Augen von neuem schloß.

»Wie ist Dir, Vater? Hast Du noch viele Schmerzen?«

»Jetzt keine mehr, mein Sohn,« antwortete der Kranke; »seit die Republik genesen, fühle ich keinen Schmerz mehr. Jetzt kann meine Stelle leicht ersetzt, ich entbehrt werden. Sterbe ich, so sterbe ich ruhig!«

»Du wirst leben, Vater, zum Segen der Republik und zum Glück Deiner Familie! Doch jetzt kein Wort mehr! Das Sprechen greift Dich an; hast Du einen Wunsch, so deute ihn mir durch einen Wink an.«

Seward machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und lag wieder regungslos, wie zuvor.· Noch in derselben Minute setzte sich Frederic an den Schreibtisch und schrieb einige Zeilen auf ein Papier, welches er einem Diener einhändigte, und in dem Moment, als der Pistolenschuß im Ford-Theater fiel, da trug der Telegraph die Nachricht in alle Gegenden der Vereinigten Staaten, daß der Staatssecretair Seward sich besser befinde.

Es war zehn Uhr.

Frederic Seward gab den Dienern Befehl, Niemand mehr vorzulassen, denn jetzt, da sein Vater nicht schlafe, möchte auch das leiseste Geräusch, das an sein Ohr gelange, ihm nachtheilig sein.

Kaum war der Befehl gegeben, da ertönte die Klingel.

Ein farbiger Diener öffnete die Hausthür.

Es war ein Reiter, welcher sein Pferd angebunden hatte, und Einlaß begehrte.

»Wer sind Sie, Sir?« fragte der Farbige.

»Ich komme von Dr. Verdi,« sagte der Fremde, und deutete bei diesen Worten auf ein kleines zusammengefaltetes Papier, welches er in der Hand hielt.

Verdi war der Name des Familienarztes von Seward.

»Und was haben Sie da?« fragte der Diener.

»Ein Recept!«

»Geben Sie her; ich werde das Recept Mr. Frederic geben«

»Geht nicht, ich muß selbst zu ihm, denn ich habe dem Major noch mündliche Instructionen vom Arzte zu überbringen.«

»Es darf Niemand mehr eingelassen werden!«

»Mit Ausnahme meiner!«

»Gut, warten Sie! Ich werde es Mr. Frederic melden.«

»Ich habe nicht Zeit, zu warten! Das Leben des Staatssecretaires hängt davon ab, daß ich schleunigst zu ihm komme.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, Sir, daß Niemand in das Zimmer des Kranken eingelassen werden darf!«

»So werde ich mir selbst Einlaß verschaffen!« antwortete barsch der Mann, stieß den Diener zur Seite und stieg laut polternd die Treppe hinauf.

Frederic hörte schon von Weitem das Geräusch seiner Schritte und eilte hinaus, um zu sehen, wer der freche Eindringling sei.

Es war ein Mann von hoher, herkulischer Gestalt, mit dichtem braunem Haar, braunen funkelnden Augen, scharf markirten Zügen und bartlosem Gesicht.

»Was wünschen Sie, Sir?« fragte Frederic ziemlich barsch.

»Ich verlange zum Staatssecretair William Seward geführt zu werden.«

»Sie wissen, daß derselbe schwer krank ist!« antwortete Frederic im Tone ernsten Vorwurfes; »ich ersuche Sie, leiser zu sprechen und jedes Geräusch zu vermeiden. Zu ihm geführt zu werden ist unmöglich. Was führt Sie hierher?«

»Ich überbringe ein Recept von Dr. Verdi.«

»Geben Sie her!«

Statt der Antwort richtete der Fremde ein Pistol auf den Major; er drückte los – der Schuß versagte.

Schnell entschlossen ergriff er die Waffe am Laufe und versetzte mit dem Schlosse dem Major einen heftigen Schlag auf den Kopf, daß dieser besinnungslos niederfiel. Alsdann stürzte der Mörder nach dem anstoßenden Zimmer.

In demselben befanden sich außer dem Kranken zwei Krankenwärter. Dieselben sprangen ihm entgegen. Er versetzte Jedem von ihnen einen Messerstich in die Brust, so das sie verwundet niederstürzten.

Nun sprang er auf das Bett zu, holte mit einem breiten Messer aus und führte drei kräftige Stiche in den Hals und in das Genick des Kranken. Ein Stöhnen war Alles, wodurch der Kranke eine Empfindung verrieth; nicht einmal durch eine Bewegung vermochte sich der Greis dem Anfall des Meuchelmörders zu widersetzen.

Inzwischen hatte sich Frederic wieder erholt, war aufgesprungen und eilte in das Krankenzimmer. Er packte den Mörder an der Gurgel und schleuderte ihn vom Bette zurück.

Ein Stich, auf die Brust seines Angreifers geführt, befreite den Mörder von demselben.

Noch einmal sprang er auf das Bett des Kranken zu, noch einmal hob er die Rechte zum Stoß empor während die Linke das Bettuch zurückschob; diesmal war der Stich aus die Brust gezielt; er traf.

Noch einmal hob sich das Messer; jetzt aber stürzten zwei Nigger hinein, und der Mörder zog es vor, eiligst die Flucht zu ergreifen.

Mit einem einzigen Satze war er die Treppe hinunter: Keiner, mit Ausnahme der beiden Schwarzen war im Stande, ihm zu folgen, und auch diese erreichten die Hausthür erst, als Payne – kein Anderer war der verruchte Meuchelmörder – bereits auf seinem Pferde saß.

In hellem Gallopp sprengte er die Straße hinab, und als der Hülfeschrei der Diener Leute herbeirief, da war Payne längst in Sicherheit.

Den Mörder des Präsidenten kannten Viele. Auf denselben Brettern, die seine Meuchelmörderhand mit dem Blute des edelsten Menschen befleckt, hatte man ihn als Darsteller von Helden und edlen Jünglingen gesehen. John Wilkes Booth war eine bekannte Persönlichkeit, und sein Name war bereits in dieser Nacht in Aller Munde.

Den Namen Paynes kannte Niemand. Indessen, man hatte ihn so genau gesehen, daß man ihn bis auf das Kleinste beschreiben konnte.

Wer malt das Entsetzen, das sich in dieser Nacht der Gemüther aller Bürger von Washington bemächtigte?

Kaum war die Sonne aufgegangen, da stand auf dem Union-Place ein Volkshaufe versammelt, welcher aus dem Munde eines eben so geschätzten als beredten Mitbürgers die grauenhafte Kunde des verruchten Doppelmordes vernahm.

»Wer sind die Mörder?« so endete Sandford Conover, der Redner auf dem Union-Place, seinen Bericht. »Ist es ein halbverrückter Commödiant? Ist es ein südlicher Ritter, der eben erst sein Ehrenwort gegeben hat, in Frieden zu leben und den Gesetzen unterthan sein in wollen? – Nichts da! Der Mörder Lincolns und Sewards ist das Junkerthum des Südens, und sein Troß im Norden. Der Geist der ehrlosesten und verruchtesten Adelsrebellion, der Geist des ehrlosen Troßbubenthums der Junker, die Partei der Copperheads ist es, welche die Blutthat vollbracht hat. Legt Euren Finger auf die feigen Anstifter und Leiter der Greuel vom September in New-York, auf jene Canaillen, welche für alle Nichtswürdigkeiten, die der Adel des Südens beging, ein Wort der Entschuldigung fanden, welche selbst die Massacres zu Lawrence und Fort Pillow als gerechtfertigte Kriegshandlungen bezeichneten, legt Euren Finger auf jene sogenannten Unparteiischen, welche sagen:

»»Schont den Süden und laßt Jefferson David leben,««

legt Euren Finger auf den Rebellenpräsidenten und seinen Troß, – und sehr habt die Mörder Lincolns und Sewards bezeichnet. Gegen diese Mörder ruft Lincolns stummer Leichnam die Rache des Volkes an, gegen sie, Mitbürger, richte sich Eure Rache!«

Die Rede wirkte wie ein zündender Funke.

O! Bob Harrold hatte ganz recht vermuthet, daß jeder dieser Leute sich nach Ausführung der That in einen Verfolger verwandeln würde, welcher der Spur der Mörder folgen würde, wie die Bluthunde der Fährte eines entlaufenen Niggers!

Als Bob Harrold das sagte, ahnte er wahrscheinlich nicht, daß er der erste sein würde, welchen man ergriffe.

Eine Stunde nach der That erreichte die Nachricht Kirckwood-Hôtel.

Wie ein Blitz schoß dem Kellner der Gedanke durch den Kopf.

»Der Mann, auf dessen Karte Eugene Powel stand, und dessen Benehmen so auffällig war, ist der Mörder.«

Der Telegraph übernahm das Signalement Harrolds und trug es schnell auf alle Stationen bis New-York.

Der Zug, in welchem der Mitverschworene das Asyl seiner Rettung zu erreichen hoffte, langte erst auf der dritten Station an, als dieser bereits erkannt, gefesselt und nach Washington zurückgebracht wurde.


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