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Wir führen den Leser in das hübsche Wohnhaus des Rentier Patrick Powis in der Washington-Street zu New-York. Wir treten ein in das eine Treppe hoch belegene Gesellschaftszimmer und erfreuen uns an dem wohlthuenden Anblicke dieses friedlichen und glücklichen Familienzirkels.
Dort Mr. Powis mit dem freundlichen, wohlwollenden Gesichte, zu seiner Seite Mrs. Powis mit ihrem Vollmondsantlitz, den sanften Augen und den Vertrauen einflößenden Mienen. Auf des Ersteren Schooß sitzt der kleine William Powel, welcher sich von ihm erzählen lässt, wie sein Onkel ein berühmter Mann ist und ein Mann, welchen das ganze Land preis't und verehrt, und den man hinausgeschickt hat, um einen schrecklichen Seeräuber einzufangen. Und der Kleine ist unerschöpflich in Fragen: was man mit dem Seeräuber beginnen wird, falls ihn der Onkel Eugen gefangen einbringt, und welche Triumphe man diesem bereiten wird für seine Heldenthat. Seine kindliche Phantasie versetzt ihn in einen goldenen Wagen und sich natürlich an des Oheims Seite, womöglich auf den Kutscherbock, selbst mit einer Peitsche von purem Golde versehen, und vor dem Wagen Rosse mit einer Decoration, die dem Einholungszuge eines deutschen Fürsten alle mögliche Ehre machen würde.
Mrs. Powel, welche mit ihrem Töchterchen in einem Lehnstuhl in der Nähe sitzt, hört mit glückseligem Lächeln dem Geschwätz des Kindes zu. Sie vergißt einen Augenblick das Leid, unter welchem sie noch immer seufzt.
Mr. Powis blickt von Zeit zu Zeit von dem Knaben auf nach dessen Mutter hin und scheint in ihrem Auge lesen zu wollen, was in ihrer Seele vorgeht und die Herzensfreude über die Glückseligkeit der so hart geprüften Frau spiegelt sieh wieder in seinem freundlichen Gesichte.
Die Balkonthür ist offen. Auf den Straßen ist Alles still; denn die Washington Street ist keine Gegend des Verkehrs. Um so auffallender mußte es erscheinen, daß sich von Ferne plötzlich ein Geräusch, wie das Brausen eines Sturmes hören ließ. Mr. Powis erbleicht, läßt schnell den Knaben von seinem Schooß gleiten und wechselt einen Blick mit seiner Gattin, in deren Mienen sich sein Schrecken wiederspiegelt.
»Ha!« rief er. »Was hat das zu bedeuten? Sollten sich die Scenen des 9. Septembers wiederholen?«
Er eilte auf den Balkon und blickte auf die Straße hinab.
Wahrhaftig! Eine Menschenmenge versammelt sich da vor dem Depeschenbureau. Was mag das zu bedeuten haben?
Das Tosen kam näher und näher. Die Menschenmenge wälzte sich die Straße hinauf dem Hause Mr. Powis? zu, der noch immer auf dem Balkon stand und sich lebhaft die Scenen ins Gedächtniß zurückrief, welche sich damals bei der Pöbelemeute vor seinem Hause ereignet hatten. Allein der heutige Straßenauflauf hatte so wenig Aehnliches mit dem damaligen, daß seine Furcht sich minderte, je näher die tobende Menge seinem Hause kam.
An der Spitze der Menschenmenge liefen Knaben, bis hoch über ihre Köpfe bepackt mit Zeitungsblättern.
»Kaufen Sie, Gentlemen, das Extrablatt der New-Yorker Tribüne! das Extrablatt der New-Yorker Daily News! Kaufen Sie, Gentlemen, den Untergang der Alabama für fünf Cent! – Capitain Eugen Powel und die Kearsage darin abgebildet!«
So rief Einer.
»Gentlemen, der große Kampf zwischen der Kearsage und der Alabama, fünf Cent!« – »Gentlemen, Capitain Eugen Powel, der Held von Cherbourg, vier Cent! die Portraits des Capitain Eugen Powel und des ersten Lieutenants Richard Brocklyn, nach einer Photographie ausgeführt, in Lebensgröße, sauber colorirt, zehn Cent.«
So erscholl es von allen Seiten, und eine Menschenmenge folgte den Verkäufern dieser wissenswerthen Neuigkeiten, theils dieselben kaufend, theils Einen oder den Andern umstehend, welcher, im Besitz eines Exemplars, die große Neuigkeit vorlas.
»Ha!« rief Powis sich an Miss. Powel wendend »das ist eine gute Nachricht für Sie Ma'am! Von Ihrem Schwager ist dort die Rede. – Schicke hinunter Hatty, laß uns ein Exemplar der New-Yorker Tribüne und des New-Yorker-Daily-News und alle die Portraits heraufholen. Das ist ein Tag der Freude! Zwei Exemplare, Hatty! Zwei Exemplare von jedem Blatte und von jedem Bilde!« rief er seiner Gattin nach. »Wir müssen dem guten Charles ein Exemplar in seinen Kerker schicken, das wird ihm Erquickung sein.«
In dem Auge des Vortrefflichen glänzte eine Thräne, als er Mrs. Powel die Hand drückte und wiederholte: »Es wird eine Erquickung sein für Ihren Mann.«
»O Himmel! Er hat der erquickenden Minuten ja so wenige. Wie lange, wie lange wird es währen!« schluchzte Mrs. Powel.
»Weinen Sie nicht, Ma'm«, sagte er, »weinen Sie nicht.
Glauben Sie, der liebe Gott kann Sie nicht so hart züchtigen wollen, daß er Ihr Unglück noch lange währen läßt. Fängt nicht der Himmel Ihres Lebens an, sich allmählig aufzuheitern? Ist nicht bereits Ihre Schwägerin wie Ihr Schwager aus der Haft entlassen, ihre Unschuld anerkannt, und ist nicht jetzt der letztere ein von der ganzen Nation gepriesener und hochverehrter Mann?«
»Ach!« seufzte Mrs. Powel »wer weiß, ob nicht mein Mann schon frei wäre, wenn der Advokat sich seiner mit mehr Eifer angenommen hätte; aber was der gethan, ist nichts, als daß er für mich die Caution bestellt und meinen unglücklichen Mann vertröstet hat auf das Wiederausfinden Mr. Croftons, der ihm möglicher Weise als Entlastungszeuge dienen könne, außerdem hat er Nichts gethan, sondern meinen Mann und mich dem guten Glück überlassen«.
Mr. Powis tröstete die unglückliche Frau so gut, wie es sich thun ließ, und mit einer Herzlichkeit, die seinem weichen Gemüthe Ehre machte. Allein was sollte er ihr sagen zum Troste? Konnte er wirksamen Trost spenden? Konnte er etwas mehr, als die Hoffnung aussprechen, daß es bald anders werden werde?
Eben kehrte Mrs. Powis zurück mit den gewünschten Zeitungsblättern in der Hand. »Patrick,« sagte sie »es ist ein Mann da, welcher Dich zu sprechen wünscht.«
»Ein Fremder, Hatty? Wer könnte es sein?«
»Ein Mann, welcher sagt, dass er aus Boston komme und von Mr. Slowson geschickt werde,« antwortete Mrs. Powis. »Er nennt sich Mr. Cobb«.
»Gut, laß ihn eintreten«.
Mr. Cobb ist der uns bereits bekannte Hafen-Capitän zu Boston, welcher vor einem Jahre mit Mr. Morris gemeinschaftlich die mißglückte Jagd auf die Million Dollars unternahm.
»Ich habe die Ehre, Mr. Powis zu ·sprechen?«
»Der bin ich. Setzen Sie sich, Sir,« antwortete der Hausherr.
»Sie sind ein Freund der Familie Powel?«
»Ich habe die Bekanntschaft dieser Familie gemacht zu einer Zeit, da das Unglück über sie hereinbrach, und so viel in meinen Kräften gestanden hat, habe ich beigetragen, das Unglück, was mich rührte, und an welchem ich zum Theil schuld bin, zu mildern. Einen andern Anspruch auf die Freundschaft so edler Leute, wie die Familie Powel, habe ich nicht.«
»Gleichviel. Sie sind der, den ich suche. Es ist Ihnen bekannt, daß vor zwei Monaten die Kearsage in Boston die Anker lichtete?«
»Das ist mir bekannt, Sir.«
»Und zwar unter dem Commando des Capitains Eugene Powel. Derselbe ward begleitet von einem jungen Manne, Namens Richard Brocklyn, dem Sohne des Faktoreibesitzers Mr. Brocklyn zu Old-Church.«
»Diesen Mann kenne ich nicht«
»Glaub's wohl. Indessen kennt er eine Person, welche besonderes Vertrauen zu Ihnen hat. In dem Hause seines Vaters hielt sich eine junge Dame auf, Namens Esther Brown.«
»Ah! Esther! Was macht Miß Esther? Ist sie gesund, wohlauf? Ich bin ihretwegen sehr in Besorgnis gewesen wegen ihres tollkühnen Unternehmens, nach dein Süden zurückzugehen.«
»Sie war krank und ist hergestellt, so viel Mr. Brocklyn wußte. Sie hat demselben Papiere mitgegeben zur Bestellung an Sie. Er hat bei seinem Aufenthalte in New-York vergessen, diese Papiere an Sie abzugeben und übergab deshalb bei seinem Aufenthalte zu Boston dieselben dem Director der westindischen Handelscompagnie, Mr.·Slowson. Mr. Slowson übergab dieselben dem Advocaten des Mr. Powel. Dieser aber verweigerte die Annahme, da die Papiere speciell für Sie bestimmt sind, und der dieselben begleitende Brief direct an Sie gerichtet ist. Da Ihre Adresse uns unbekannt war, so mußte die Expedition der Papiere verschoben werden bis auf die Gelegenheit, welche mich persönlich nach New-York führt. Sie wissen, daß hier heute noch die Ankunft der Kearsage erwartet wird, und ich bin von der Compagnie hierhergeschickt, um mit dem Capitain etwaige Abrechnungen zu halten. – Die Papiere, von denen ich sprach, sind diese hier.«
Mr. Cobb überreichte dem Hausherrn mit diesen Worten ein versiegeltes Couvert und ein Schreiben von Esthers Hand. Mr. Powis dankte und versicherte, dass, was auch Miß Esther für ein Anliegen an ihn habe, er jeder Zeit bereit sei, ihr hülfreiche Hand zu leisten und sie zu unterstützen.
Als sich Mr. Cobb entfernt hatte, öffnete Powis das Schreiben und las:
»Sie empfangen beigehend zwei Briefe, welche Mr. Atzerott verlor, als er mich bei der Pöbelemeute in New-York fortführte, und welche ich unbemerkt aufzuheben Gelegenheit hatte. Einer dieser Briefe, der im Rosacouvert, trägt Ihre Adresse. Ich habe aus Rücksicht für Sie Anstand genommen, ihn zu öffnen, wohl aber habe ich den zweiten geöffnet, welcher durch die drei Buchstaben der Adresse K. G. C. sich kennzeichnet als ein Schreiben von dem Orden der Ritter des goldenen Zirkels oder als ein Schreiben an dieselben. Unglücklicher Weise ist derselbe in einer Chiffernschrift verfaßt, welche ich nicht lesen kann. Vielleicht ist dies Document geeignet, dem Advocaten des Mr. Powel einige Aufschlüsse zu geben, falls nämlich Einer den Schlüssel zu dieser Schrift kennt.«
»Ich gab Ihnen damals die Briefe nicht, weil ein Versprechen mich band, daß ich innerhalb drei Monate von meinen Erlebnissen in New-York Nichts erzählte. Und zu diesen Erlebnissen gehörte auch das Auffinden der beiden Briefe.«
Den Schluß von Esther's Schreiben bildeten Fragen nach dem Befinden der Familie, Freundschafts- und Dankbarkeitsversicherungen und schließlich die Nachricht, daß sie selbst von einer schweren Krankheit genesen sei.
Mr. Powis, der sich stets in den Hintergrund stellte, wenn es galt, Andern zu helfen, legte den Brief im Rosaconvert, welcher seine eigene Adresse trug, vorläufig bei Seite und griff begierig nach dem andern Schreiben, welches wie Esther vermuthete, dem Advocaten des Mr. Powel als Beweisstück für die Unschuld eines der Angeklagten aus der Familie dienen könnte. Allein kopfschüttelnd legte er den Brief, der nur wenige Worte enthielt, bei Seite, und ziemlich mißmuthig nahm er nun den an ihn adressirten Brief, öffnete, sah nach dem Datum, fand, daß der Brief bereite ein Jahr alt und von Richmond datirt sei. Kaum hatte er zwei Zeilen gelesen, als seine Hände zu zittern begannen, sein Antlitz sich mit der Röthe der Aufregung überzog. Er sprang auf, eilte näher an das Fenster, gleichsam, als ob er sich bei dem helleren Lichte überzeugen wollte, daß sein Auge ihn nicht getäuscht. Dann hielt er mit der Linken den Brief hoch in die Luft, eilte auf Mrs. Powel zu, ergriff mit der Rechten ihre Hand und rief, indem vor Bewegung seine Stimme zitterte, und seine Augen sich mit Thränen der Freude füllten:
»Mrs. Powel, Gott segne diesen Tag; Ihr Mann ist unschuldig, ist frei, muß noch heute frei sein!« – Hier ist der Brief im blaßrothen Couvert.
Ohne ein Wort weiterer Aufklärung ergriff er seinen Hut und eilte zur Thür hinaus.
»Wohin?« rief ihm seine Gattin nach »Patrick, Du weißt, es ist Essenszeit.«
»Laß mich, laß mich! Ich muß zum Advocaten, auf der Stelle. – Er darf keine Minute länger ein Verurtheilter sein! Auf Wiedersehen, Hatty, und komme ich wieder, dann bringe ich einen Gast mit! Adieu! Adieu, Kinder, ich gehe zu Eurem Vater!«