Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Vierter Band
Berthold Auerbach

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Neunzehntes Kapitel.

Bergan ritt die Königin und neben ihr schritt Walpurga. Das Sonnenlicht fiel schon schräg durch die Wipfel auf den Weg, den gestern in der Nacht Gunther, vom Ohm geleitet, gezogen war; von den Wässerlein, die gestern über den Weg liefen, waren nur noch dünne Spuren da.

Die Königin sprach kein Wort, sie sah Walpurga oft groß an, durch ihre Seele zog eine lange Reihe von Erinnerungen und Erweckungen. Da geht die Frau neben dir, die damals auf deinen Wunsch aus der Heimat gerufen wurde –damals, als du mit dem König und Gunther unter der Hängeesche gesessen, warst du mild und verzeihend gegen Gefallene –und Gunther sagte: »Du bist es wert, daß Tausende für dich jetzt beten.« Warst du es damals? Bist du es jetzt wert? Damals warst du noch nicht verletzt, hattest noch keine Unbill erfahren und es war leicht, verzeihend zu erscheinen –und nun, da du gekränkt worden, bist du in Bitterkeit, in Haß und Tugendstolz versunken und hast dir darin gefallen. Er änderte sein Leben, hat alles Kleinliche, Nichtige, Eitle abgethan und seine ganze Seele in treuer Arbeit seinem Volke gewidmet. Und du? Du wurdest immer herbei und starrer, weil du gar so tugendsam. Bist du es denn? Was ist eine Tugend, die nur sich selbst lebt? Und sie, die so schwer fehlte, hat sie nicht noch schwerer gebüßt? Groß und hoch über dir steht sie, die Sünderin. Für mich ist sie gestorben; und was habe ich aus diesem Tod gemacht? Ich habe meinen Gatten allein gelassen in seiner schweren Arbeit, verlassen in seiner höchsten Not. Ich habe nur für mich gelebt, denn meinem Kinde leben, war auch nur für mich leben –Du hast Mildthätigkeit geübt an Armen und Hilflosen. Aber deine Pflicht? Deine nächste Pflicht? Du konntest dich nicht selbst überwinden ... Und du hast es gewagt, von dir zu sagen, du seiest des Höchsten fähig, und: ärgert dich dein Auge, so reiße es aus? Gunther hatte recht: niemand kann dich erlösen, als du selbst, denn niemand kann dir so die Wahrheit sagen, als du selbst.

Was hast du gethan in den langen Jahren, in denen sie sich durchrang zur Vollendung und er sich festigte im schönen Thun für sein Volk? Ich bin die Sünderin ––Du mußt noch leben, Irma, du mußt, damit ich dir sagen kann: ich bin unerlöst, wenn du stirbst, ohne daß du mir verziehen, du mir! ...

In solchen Gedanken ritt die Königin den Berg hinan und immer freier wurde es ihr im Gemüt. Es löst sich der Bann, es hebt sich ein Druck, der doch immer und auf allem war.

»Ist's noch weit?« fragte sie Walpurga.

Wieder überfiel sie eine Angst –wenn Irma nicht mehr lebt, wenn sie nicht mehr vor ihr sie und sich selbst befreien kann –? –Ihr Herz zitterte –sie legte die Hand darauf, als müsse es still stehen, wenn das Herz da oben still gestanden. Immer tiefer, immer inniger und drängender stieg eine Verklärung Irmas in ihrer Seele auf und sie selbst war sich so klein.

»Jetzt sind wir bald am Ziel,« sagte Walpurga.

Eine Stimme von oben rief:

»Walpurga!«

Die Stimme tönte vielfach wieder von den Felsenbergen.

»Das ist mein Mann,« sagte Walpurga zur Königin, und ebenfalls laut rief sie:

»Hansei!«

Seine Stimme antwortete von oben.

Hansei kam näher, und als er die vornehmen Frauen und Männer zu Pferde sah und die Livreebedienten, zog er den Hut ab und wischte sich mit der Hand über die Augen, ob er denn auch richtig sehe.

»Wie steht's?« fragte ihn Walpurga.

»Sie lebt noch, aber nicht mehr lang. Ich bin schon eine Stunde von oben fort, wer weiß, was derweil geschehen ist. Der Doktor ist aber bei ihr.«

»Von hier an kann man nicht mehr reiten,« sagte der Inspektor.

Die Königin und Paula stiegen ab, Sixtus und die Diener folgten. Man ging die letzte Anhöhe hinan.

»Das dort, die in dem großen, weiß seidenen Tuch, das ist die Königin,« sagte Walpurga mit bedeutsamer Miene zu Hansei.

»Ist mir eins. Unsre Irmgard ist mehr als alle Menschen. Was Königin!« erwiderte er. »Wenn ein Mensch stirbt, sind alle drum herum ganz gleich; wir müssen alle sterben und da ist's eins, was wir noch die paar Jahre sind.«

Die Königin schaute nur kurz um nach Hansei. Sie eilte hastigen Schrittes vorwärts, winkte Paula, zurückzubleiben und eilte allein fort –sie war ohne Gefolge, aber zu ihrer Rechten und Linken, vor und hinter ihr gingen die Geister der Angst und die der Erlösung –sie mußte durch sie hindurchschreiten. Die Angst rief: Irma ist tot, du kommst zu spät! –und das fesselte ihr den Fuß und wollte ihr den Atem rauben. Die Erlösung rief: schwinge dich auf –was zögerst du? Du bist frei, du bringst den Frieden und gewinnst den Frieden!

So stritten die Gewalten in ihr und um sie her, und sie wehrte mit den Händen ab.

Die Angst gewann die Uebermacht, und wie ein Hilfeschrei aus der Tiefe rang sich von den Lippen der Königin der Ruf los:

»Irma! Irma!« und Irma! Irma! tönte es wieder und wieder von den Bergen. Die weite Welt ringsum rief den Namen Irma ...

Drin in der Kammer hatte Irma gelegen, Gunther saß vor ihr. Sie atmete schwer. Sie wendete kaum den Kopf und öffnete nur manchmal leicht die Augen.

Gunther hatte die Aufzeichnungen Eberhards mit hinaufgenommen, und er fand eine Stunde, in der er der Tochter die Worte des Vaters: »Für den Tag und die Stunde, da sich mein Denken verdunkeln will, sei mir dies zur Erleuchtung« –vorlesen konnte.

Als er die Worte las: –»im Verlorenen und scheinbar Versunkenen ist doch noch Gott« hatte sich Irma aufgerichtet; sie lehnte sich aber wieder zurück, und winkte, daß er weiterlese. Er las:

»und bricht mein Auge –ich habe das Ewige gesehen –mein Blick ist ewig. Frei über alle Verzerrung und Selbstverwüstung hinüber rauscht wieder der ewige Geist.«

Gunther schwieg und legte die Blätter auf das Bett Irmas. Sie hielt die Hand darauf. Nach geraumer Weile erhob sie die Hand, deutete auf die Stirn und sagte, die Augen schließend:

»Und doch hat er mich gezüchtigt.«

»Was er dir auch gethan,« entgegnete Gunther, »hat nicht er gethan, nicht sein freier reiner Wille; ein Krampf, ein Rückfall in die Endlichkeit hat es in ihm vollzogen. Im Geiste deines Vaters und so wahr als ich wünsche, daß in meiner Sterbestunde die Wahrheit in mir lebe, entsühne ich dich. Du hast dich entsühnt. Verzeihe ihm, wie er dir dennoch verziehen. Er würde dich jetzt segnen, wie ich dich segne. Sei in Liebe sein gedenk, wie er in innerster Wahrheit in Liebe zu dir war.«

Irma faßte die Hand Gunthers, die er ihr auf die Stirn gelegt, und küßte sie. Dann sprach sie mehrmals, ohne sich umzuwenden, vor sich hin: »Bleib bei mir.«

Stundenlang saß nun Gunther an Irmas Bett. Man hörte nichts als den ängstlichen Atem, der immer schwerer wurde.

Als jetzt draußen die Stimmen der Berge ihren Namen liefen, richtete Irma sich auf und schaute rechts und links.

»Hörst du es auch?« fragte sie. »Mein Name... von Stimmen, Stimmen überall, Stimmen –«

Die Thüre öffnete sich, die Königin trat ein.

»O, endlich bist du da!« hauchte Irma tief aufatmend. Sie richtete sich mit der letzten Kraft auf und kniete im Bett; ihr langes Haar floß an ihr nieder, ihr Auge glänzte wundersam, sie faltete die Hände, dann breitete sie die Arme aus und rief in herzzerreißendem Tone:

»Verzeih, verzeih!«

»Verzeih du mir, Irma, meine Schwester, Irma!« schluchzte die Königin und faßte sie in ihre Arme und küßte sie.

Ein Lächeln trat auf das Angesicht Irmas, dann stieß sie einen lauten Schmerzensschrei aus, sank zurück und war tot.

Die Königin kniete an ihrem Bett, Walpurga, die im Hintergrunde gestanden hatte, trat vor und drückte Irma die Augen zu.

Still war's, nur tiefes Schluchzen der Königin und Walpurgas war vernehmbar.

Da nahten sich draußen Schritte.

»Wo? wo ist sie?« rief die Stimme des Königs.

Gunther öffnete die Thür und winkte dem Herbeikommenden mit beiden Händen beschwichtigend zu.

»Tot?« rief der König.

Gunther nickte. Er winkte Walpurga und sie verließ mit ihm die Kammer.

Der König warf sich stumm an der Leiche auf die Kniee.

Die Königin erhob sich, legte ihre Hand auf das Haupt ihres Mannes und sagte:

»Kurt, verzeihe mir, wie ich verziehen habe.«

Der König faßte die dargereichte Hand, und Hand in Hand starrten die beiden noch lange in das Antlitz der Toten, darauf ein lächelnd milder Ausdruck ruhte. Sie schienen sich von dem Anblick nicht trennen zu können. Endlich nahm die Königin ihr weißes Tuch ab und breitete es über die Tote.

Sie verließen die Hütte.

In purpurner Pracht stand die untergehende Sonne am Himmel und ringsum war alles still, lautlos.

Gunther trat zur Königin und übergab ihr das in die Binde eingewickelte Tagebuch mit den Worten: »Dies ist das Vermächtnis Irmas an Sie.«

Die Königin ging auf Walpurga zu, reichte ihr still die Hand und küßte das Kind, das Walpurga auf dem Arm trug.

Der König reichte Hansei die Hand und sagte: »Ich danke dir. Ich sehe dich noch.«

Das Pechmännlein trat zum König und der Königin und sagte:

»Vergelt's Gott, daß Ihr da herauf gekommen seid. Sie hat's verdient.«

Der König und die Königin gingen allein dem Walde zu. Das Gefolge hielt sich zurück.


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