Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Vierter Band
Berthold Auerbach

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Achtzehntes Kapitel.

Am Bache entlang war Walpurga den Berg hinabgeeilt. Sie sah bald das Städtchen und die Meierei, auf deren Dachspitze eine hellfarbige Fahne flatterte.

Walpurga setzte sich, Atem holend, eine kurze Rast auf einen Fels am Bach. Ein Kuckuck flog über ihr weg bergauf.

»Das ist ein böser Angang,« sagte sie vor sich hin.

Sie schritt voran nach der Meierei. Da sah sie durch das Eisengitter einen Knaben in hellem Gewand und mit einem Federhut auf den langen blonden Locken im Garten spielen. Das Herz im Leibe wollte ihr zerspringen, sie faßte krampfhaft nach einer Eisenstange des Gitters. Sie schritt nach der Eingangsthür des Gartens.

»Frau von Gerloff ... der Prinz ... mein Kind, mein Kind,« schrie sie, stürzte auf den Prinzen zu, kniete im Gras nieder und umhalste und küßte ihn.

Der Knabe schrie laut.

»O, das ist seine Stimme!« rief Walpurga.

Frau von Gerloff war erschrocken einen Augenblick wie angewurzelt festgestanden, jetzt kam sie herbei und wehrte Walpurga ab; auch Diener kamen hinzu. Der Prinz verbarg sich an Frau von Gerloff.

Walpurga kniete im Gras und konnte nicht aufstehen.

»Er kennt mich nicht mehr! Er kennt mich nicht mehr und ich bin seine Amme!« klagte sie verwirrten Blickes zu den Umstehenden. Die Stimme schien eine Wirkung auf das Kind zu üben. Es wendete sein Gesicht um, es war glühend rot, in seinen Wimpern hing noch eine Thräne, aber sein Antlitz lächelte.

»Grüß Gott,« sagte er –das war das Wort, das man ihm für den Landaufenthalt eingeübt hatte.

»Grüß Gott kann er sagen ... o, er kann ja reden! O lieber Gott, er kann reden! Jetzt sag einmal Walpurga, Kind! Kannst du Walpurga sagen?«

»Walpurga!« wiederholte der Knabe.

Die Königin kam herbei, in ihrem Geleit die Gräfin Brinkenstein und Paula.

Walpurga wollte auf sie zueilen, aber die Königin wehrte ab und befahl Frau von Gerloff, den Prinzen hinwegzuführen. Der Prinz wurde aus dem Garten geführt; aber er schaute doch noch einmal um nach Walpurga, und sie nickte ihm zu und vergaß, daß die Königin vor ihr stand, bis diese sagte:

»Du hast dich hier hereingedrängt und mußt doch wissen, daß wir dich nicht mehr sehen wollen und du weißt auch warum.«

»Ich will mich jetzt nicht verteidigen, ich will was andres,« drängte Walpurga.

»Was willst du?« fragte die Königin.

In hastigen Worten, oft absetzend, schwer atmend, sagte Walpurga:

»Frau Königin, man kann schlecht angesehen werden, man kann gar nicht gesehen sein in der Welt und doch brav sein. Sie und ich, wir sind jetzt gesund und können das ein andermal ausmachen. Frau Königin, ich hab' zwei Worte zu sagen, ganz allein. Frau Königin, um aller Barmherzigkeit willen –es wird Ihnen in Ihrer Sterbestunde gut thun, Frau Königin, Sie müssen auch sterben –Frau Königin, ich bitte um aller Barmherzigkeit willen, hören Sie mich an, allein, nur eine Minute! Schicken Sie die andern fort. Wir haben keine Zeit!«

Die Königin winkte der Gräfin Brinkenstein und Paula, daß sie sich zurückzögen. Sie stand allein mit Walpurga, und diese sagte –es gab ihr einen Herzstoß dabei:

»Irma lebt.«

»Was sagst du?«

»Vielleicht ist sie in diesem Augenblick schon tot, sie liegt im Sterben.«

»Ich verstehe dich nicht –bist du wahnsinnig?«

»Nein, Frau Königin. Setzen Sie sich ... hier auf die Bank ... Sie zittern ja am ganzen Leib. Ich hab's ungeschickt gemacht, aber ich hab' nicht anders gekonnt, aber was liegt jetzt an mir? Meinetwegen machen Sie mit mir, was Sie wollen –Irma lebt. Vielleicht nur noch diesen Tag, vielleicht den nicht mehr aus. Frau Königin, Sie müssen mit mir, Sie müssen zu ihr. Es ist das einzige, was sie noch auf der Welt haben kann ... Ein Wort ... Eine Hand ...«

Gräfin Brinkenstein und Paula kamen herbei, da sie sahen, wie die Königin sich leichenblaß zurücklegte. Als die Königin das Rauschen der Gewänder hörte, richtete sie sich auf:

»Walpurga, sag noch einmal, was du gesagt!«

Walpurga wiederholte, daß Irma noch lebe, und fügte hinzu, sie sei jetzt im vierten Jahr bei ihr verborgen, und Gunther sei bei ihr oben auf der Alm.

Auch die beiden Damen standen erstarrt, aber Walpurga wendete sich wieder zur Königin und rief:

»Um Gottes willen, versäumen Sie keine Minute mehr! Kommen Sie mit mir, zu ihr! Frau Königin, da drin wohnt die Stasi, die hat damals das Gebet für die Königin auf mich gewendet. Frau Königin, wenn Sie selber nicht vergeben, wie soll man noch für Sie beten? Frau Königin, denken Sie, wie es Ihnen damals in der heiligen Nacht im Herzen gewesen! Frau Königin, stehen Sie auf, werfen Sie alles hinter sich, und behalten Sie Ihr gutes Herz allein. Frau Königin ...«

»So laß Ihre Majestät in Ruhe!« fiel Gräfin Brinkenstein ein.

Aber Walpurga fuhr fort:

»Frau Königin, wenn Sie sterben, haben Sie keine Hofdamen bei sich und nichts –Lasen Sie einmal im Leben jetzt eine Stunde alles dahinter und kommen Sie mit mir allein und fragen Sie nach weiter gar nichts! Ehe die Nacht hereinbricht, ist sie tot! Sie können an dem Tag eine Gutthat thun, die in alle Ewigkeit bleibt.«

»Ich will zu ihr –ich muß!« sagte die Königin aufstehend, und ging der Meierei zu; ihr Schritt war rasch und ihre Wangen glühten.

»Majestät,« warf die Oberhofmeisterin ein, »der gnädigste Herr sind ausgeritten und kommen zur Tafel am Wasserfall. Wollen Eure Majestät nicht abwarten?«

»Nein!« erwiderte die Königin, ihr Ton war scharf, es schien, als ob diese Formfrage eine strenge Gedankenreihe verletzt und durchschnitten. »Ich bitte,« setzte sie hinzu, »mich auf meine Verantwortlichkeit handeln zu lassen.«

»Majestät, es gibt keinen Fahrweg nach der Alm,« setzte Gräfin Brinkenstein milder hinzu.

»Aber einen Reitweg bis zum letzten Stück, fast ganz bis an die Hütte,« erwiderte Walpurga, »und da ist ja der Mann von der Stasi, der ist ja Förster, der weiß alle Wege; ich will ihn rufen.«

Sie eilte in die Amtswohnung des Inspektors und brachte ihn mit heraus.

Der Inspektor bestätigte, daß man eine gute Strecke fahren könne, und von da aus könne man reiten.

Die Königin befahl, daß er sogleich mit den Reitpferden vorauseile; sie zog sich in ihre Gemächer zurück und bald darauf fuhr sie mit Paula, Sixtus und Walpurga den Bergen zu; auf dem Hintersitz saßen zwei Lakaien.

Die Braut des Mannes, der Irma geliebt, und die Gattin des Mannes, dessen Liebe Irma erwidert hatte, saßen nebeneinander, um an ihr Sterbebett zu eilen.

Erst im Fahren gewann man wieder freien Atem.

Walpurga erzählte. Von dem gleichmäßigen Leben Irmas war wenig zu berichten, um so mehr verweilte Walpurga bei der Mitteilung des Ohms, wie Irma mit demselben verhüllt nach der Residenz gewandert und bei der Sommerburg noch einmal die Königin und den Prinzen gesehen habe. Oft von Weinen unterbrochen berichtete sie dann, wie Irma die sterbende Mutter gepflegt, und wie die Mutter, die alles gewußt, Irma noch in der letzten Stunde gesegnet habe.

Die Königin hielt das Tuch vor die Augen und reichte Walpurga still die Hand.

Je mehr Walpurga erzählte, um so reiner und verklärter erschien Irma. Die Königin wendete sich zu Paula und sagte:

»Das ist ein Leben im Tod –dazu gehört unfaßbare Heldenkraft.«

»Es gibt auch in unsern Tagen noch Heilige,« erwiderte Paula. »Alles, was vordem je schön, groß und echt war in der Welt, ist gewiß noch in der Welt, wenn auch zerstreut, verhüllt.«

Mitten aus allem gegenwärtigen tiefwühlenden Schmerz leuchtete ein heller Strahl im Auge der Königin auf. Sie sah auf Paula: Gunther ist nicht mehr bei dir, aber in Zukunft wird sein Bestes bei dir sein in seinem Kinde.

Noch einmal mußte Walpurga von jenem Morgen am See erzählen, dann schilderte sie auch die schönen Arbeiten Irmas, aber sie merkte bald, daß die Königin nicht mehr zuhörte und schwieg.

Still fuhr man dahin.

Der Fahrweg war zu Ende, man verließ den Wagen und stieg zu Pferde. –

Bald darauf, nachdem die Königin abgefahren war, kam der König mit Bronnen von der Jagd in die Meierei zurück. Sie waren voll frisch gestärkter Kraft, und der König fragte, ob seine Gemahlin sich schon nach dem Wasserfall begeben, denn sie hatte den Wunsch ausgesprochen, dort zu zeichnen.

Gräfin Brinkenstein war in einer Verlegenheit, die ihr, zum erstenmal im Leben, alle Fassung rauben wollte. Sie hatte gewiß auch alles gebührliche tiefe Mitleid mit Irma, aber –sie hatte verborgen gelebt, sie hätte nun auch verborgen sterben sollen. Wozu diese nochmaligen Aufregungen? Sie schüttelte den Kopf über diese exzentrischen kapriziösen Menschen, die nicht einmal gebührendermaßen tot sind, wenn man sie schon lang betrauert und vergessen hat.

Sie berichtete nun mit stockender Stimme dem Könige, wohin die Königin gefahren und was vorging; sie wagte kaum zu betonen, daß die Königin auf ihre eigene Verantwortung und gegen alle Hofordnung sich allein mit Paula und Hofrat Sixtus nach den Bergen begeben.

Der König stand still, schaute zur Erde und sprach lange kein Wort. Der Boden vor seinem Auge zitterte, alles schwankte wie in einem Erdbeben und die Schrecken der Verwüstung fuhren durch seine Seele.

Was er jahrelang im Innersten gelitten und gebüßt, stand wieder auf. Er hatte gearbeitet, gerungen und entsagt und niemand dankte ihm, am wenigsten sein eigen Herz, denn er war ein Schuldbeladener, der Gutes thun will und in tiefster Demut erkennen muß, daß ihm das doch noch gestattet ist.

Er preßte zitternd die geballte Faust auf die Stirn, seine Wangen brannten, während Fieberfrost die Glieder schüttelte: Dank dem gütigen Geschick, daß sie noch lebt! Die Todesschuld ist von der Seele genommen. Und auch sie soll erkennen, welch ein Strafgericht sich in mir vollzogen und was aus mir geworden. ...

In diesen wenigen Minuten hatte der König alle die stillen Qualen der vergangenen Jahre aufs neue durchgelebt. Wie aus der Unterwelt auftauchend blickte er jetzt um sich. Die Bäume, die Häuser, die Berge stehen noch fest, es ist kein Erdbeben hereingebrochen. Er sah Bronnen an und reichte ihm die eisigkalte Hand, während er kaum hörbar flüsterte:

»So ist Ihre Ahnung von damals auf dem Jagdschloß wahr geworden.«

Seine Stimme war heiser. Er befahl, daß man frische Pferde sattle und ein zweiter Wagen nachgeschickt werde.

Er ritt mit Bronnen der Königin nach.


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