Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Fünftes Kapitel.

Im Jagdschloß des Hochgebirgs war es still und einsam. Im großen Gemach, wo ringsum an den Wänden Hirschgeweihe ragten und über der Eingangsthür ein ausgestopfter Bärenkopf hereinstarrte, brannte im großen Kamin ein helles Feuer. Es war schon kalt hier in den Bergen. Vor dem Kamin saß der König und starrte in das lodernde Feuer. Wie das züngelt, wie das sich ineinander schlingt! Er stand mehrmals auf und setzte sich wieder.

Unter den Hirschgeweihen waren Tafeln angebracht, die den Tag und den glücklichen Jäger bezeichneten. Eine lange Ahnenreihe hatte diese Siegeszeichen gemehrt. Wenn plötzlich das Knallen der Büchsen, das Blasen der Hörner, das Bellen der Hunde durcheinander laut geworden wäre, alle die Stimmen, die bei Erlegung der Tiere erschollen waren, der Lärm hätte nicht sinnverwirrender sein können, als jetzt ein Wirrwarr von Gedanken um das Haupt schwirrte, das der König auf die Hand stützte.

Er stand auf, las bald da bald dort eine Inschrift. Er konnte sich gewaltiger Ahnen rühmen: sie waren voll gedrungener Kraft und hätten beim Weidwerk und beim Becher solch ein Abenteuer vergessen und verwunden, das dich jetzt ganz darniederwirft und dir deine Mannheit und Königswürde raubt.

Sind wir schwächlicher, kleinlicher und zaghafter geworden?

Der König setzte sich wieder und starrte in das Feuer. Er war voll Zorn gegen sich, und doch konnte er seiner nicht Herr werden.

Wir sind die alten, einfach derben, kühn über das Geschehene sich hinwegsetzenden Männer nicht mehr. Warum geben uns die Ahnen nur den Stolz auf ihre Kraft und nicht auch diese einfache Kraft dazu?

Was ist geschehen?

Die Untreue ist nicht mehr zu tilgen, so wenig die Tote ins Leben zurückzurufen ist.

Die Erinnerung an das ganze glückselig berauschte Leben erhob sich, wie wenn es sagen wollte: es darf nicht sein, es kann nicht sein.

Darf sie mit ihrem Leben so das meinige zerstören? Und sie hat es zerstört. Es weicht ein Tod nicht aus meinem Leben. Ich trage eine Leiche, einen Mord im Gemüt.

Er streckte die Hände plötzlich nach dem Feuer aus, sie waren kalt. Das Feuer brannte heiß und erwärmte ihm die Hände nicht, und das Herz fror ihm.

Hat Bronnen recht, da er in dem Gräßlichen nur eine Folgethat, meine That sehen will?

Er lachte plötzlich auf, denn durch die Gedanken zuckte ihm die Vorstellung, welch ein Chaos von Blut und Mord die ganze Welt wäre, wenn jeder derartige Fehltritt solche Folgethat herbeiführte. Wie viel Tausende ...

Aus einem schönen Morgen, aus einer heiter beglückten Zeit zog ihm ein Wort durch den Sinn, wie eine Melodie, die sich plötzlich in der Erinnerung singt; damals – es ist kaum mehr als ein Jahr – hatte die Königin unter der Hängeesche gesagt: »Wer ein Unrecht begeht, thut das allein für sich und thut es zum erstenmal auf der Welt.«

Ach, warum empfinden wir das Höchste so tief und ganz und unsre Handlungen sind doch so halb und schlimmer noch?

Vor dem in das Feuer starrenden Blick versank das Bild der Gattin, und die Freundin stieg auf, und mit ihr wühlte sich die Phantasie des Einsamen hinab und tauchte in den tiefen Grund des Sees.

Der König stand rasch auf, öffnete das Fenster, atmete voll die frische Bergluft und schaute hinaus in die dunkle Nacht.

Da draußen lebt die Welt in sich verhüllt, dort ist das Schloß mit dem reichen Leben, dort die Gattin, das Kind, und weit umher ein reiches Land, darüber du herrschest. Da sind Millionen Leben und alle rufen dich an in ihrer Not, und nun soll ein einziges dich hinabziehen?

Der König wendete sich um. Er wollte Bronnen rufen lassen.

Es ist nicht wohlgethan, sich der Einsamkeit und der bösen Gesellschaft von Dämonen hinzugeben.

Dennoch blieb er wieder stehen. Aus der Nacht herauf stieg ein Dämon mit tausend glänzenden klugen Augen; er hat ihn von Kindheit an gesehen, überall, und sein Name ist: Mißtrauen. – Wer weiß, ob dieser Ehrenmann mit den großen Worten, den Kleinmut und die weiche Stimmung, in der du unter dich selbst herabgesunken, nicht klug ausnützt, um seine Selbstsucht zu sättigen? Denn selbstsüchtig sind alle Menschen, zumal vor einem König. Er will dich beherrschen und durch dich das ganze Land. Wer weiß, ob es Wahrheit, daß er sie geliebt, ihr seine Liebe bekannt? Sie hätte dir das nicht verhehlt, hätte dir's nicht verhehlen dürfen! Er hat sich das Märchen schnell erfunden, um als Genosse zu erscheinen. Aber ich kenne keinen Genossen, ich will keinen. Wenn ich nicht allein für mich alles vollbringe, bin ich nicht König. Und bin ich nicht König, was bin ich dann? Nein, sehr edelmütiger und sehr weiser Ehrenmann –

Es widersprach etwas in seinem Herzen, wahrend er die von jeher gewohnte niedere Schätzung der Menschen auch auf Bronnen ausdehnen wollte; aber er mochte nicht darauf hören. Er lichtete sich straff auf in Kraft und Würde. Da traf ein Ton aus dem Bergwald sein Ohr. Das ist der Hirsch. Das ist sein erster Ruf, klagend und wild. Der Jäger im König erwachte; er griff nach der Seite, als müsse er die Waffe fassen. Aber schneller als der Hirsch durch den Wald rennt, zog der Gedanke dahin und ein andrer kam herbei und machte das Antlitz des verstörten Mannes lächeln. Der Hirsch da draußen ruft: die Natur kennt solche Untreue nicht, um derentwillen du dich jetzt abmarterst. Das Naturgesetz kennt die Untreue nicht, sie ist gewaltsame, willkürliche Menschensatzung. Das Naturgesetz kennt aber auch keinen König, kein Geschöpf, das über Geschöpfe gleicher Gattung herrscht. Nicht die Natur allein leitet das Menschenleben, in ihm waltet noch ein andres Gesetz. Mit jedem Tier wird alle Norm seines Lebens neu geboren, der Mensch aber ist ein Erbe, hat eine Geschichte. Und nun gar ein König ...

Lange stand der König still. Er spürte aufs neue ein Frösteln; er schloß das Fenster und setzte sich wieder vor den Kamin, darin nur noch glühende Kohlen lagen. Es war ihm peinvoll, allein zu sein, aber er zwang sich dazu.

Das Feuer im Kamin kämpfte unsicher mit sich selbst und manchmal zuckte ein scharfgezüngeltes Flämmchen auf. Der König hielt den silbernen Griff der Feuerzange noch in der Hand, als die Kohlen längst verglüht waren. Zum erstenmal in seinem Leben erkannte der König klar eine unausfüllbare leere Stelle in seinem Wesen. Das ist etwas, das immer hohl, immer ungesättigt und unbefriedigt bleibt. Was ist das? Jagen und Exerzieren, Scherzen und Befehlen, Lieben und Herrschen – immer ist etwas in ihm so leer, so nichtig. Was ist das? Diese ewige Unruhe, dieses Sehnen nach etwas andrem, das erst kommen, erst werden und voll befriedigen soll?

Er hatte eine glückliche Jugend verlebt; der freie Ton am Hofe des Vaters hatte ihn nicht berührt, er lebte in Idealen; er war auf Reisen gegangen und plötzlich in der Ferne rief ihn die Nachricht vom Tod des Vaters heim und auf den Thron, als er kaum in die ersten Mannesjahre getreten war. Er hatte die Gattin gefunden; es war kein Werben, alles ist ihm gegeben, ein Thron, ein Land, eine Gattin. Andre dürfen ihr Herz prüfen, dürfen wählen. – Hold und schön ist die Gattin; er liebte sie und sie liebte ihn unsäglich. Da trat Irma in seinen Kreis, und der Gatte, der Vater, der König wurde von brennender Liebe erfaßt. Und nun tot, ein jäher Selbstmord.

Wird es nun noch möglich sein, daß du dich einlebst in das Gegebene, in das Gesetz?

In das Gesetz! Du hast es widerwillig getragen, wie eine Fessel empfunden, aber ist nicht Hingebung an das Gesetz die einzig unzerstörbare, die höchste Kraft? Ja, es gibt ein ewiges Gesetz. Es ist das Gesetz, das dich der Gattin eint und deinem Volke. Hier allein ist ewiges Leben ...

Wie eine Erlösung, wie ein erstes freies Aufatmen des Genesenden erfaßte es den Einsamen; er konnte es noch nicht fassen, und doch war's ihm, als müßte er laut ausrufen: Ich bin frei! Frei und eins mit dem Gesetz!

Er stand rasch auf. Er wollte Bronnen rufen lassen. Aber er hielt an sich. Du hast allein gerungen, du mußt es selbst in dir tragen.

Er spürte es, als ob plötzlich jener leere Punkt, jene unausfüllbare Oede, jene drängende Ruhelosigkeit nach etwas andrem, hinüber über jeden gegenwärtigen Moment, sich in ihm voll erfüllte. Er legte die Hand auf das laut pochende Herz.

Er klingelte und ließ Bronnen sagen, er möge sich zur Ruhe begeben, schickte den Kammerlakaien fort, der ihn sonst immer entkleidete und begab sich allein zur Ruhe. –

Bronnen hatte von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde gewartet, daß der König ihn zu sich rufen ließe. Er sann hin und her. Wäre es möglich, daß der Tod Irmas mehr als eine bloß vorübergehende Wirkung übte, und der König endlich sich und das Gesetz des Lebens in Frieden fassen lernte? Welch ein Zeugnis seines Vertrauens will der König ihm noch geben? Was mag das sein?

Als nun Stunde auf Stunde verging und keine Botschaft vom König kam, konnte Bronnen einer Bitterkeit sich nicht erwehren. Wer weiß, ob der König gar noch seiner gedenkt? Er hatte eine Weile ein Klageduett mit ihm gesprochen, nun ist's vorbei, die Nummer ist abgespielt, wie auf einem Konzertprogramm, es kommt eine neue.

Ein Wort, das der alte Eberhard zu ihm gesprochen, stieg in der Seele Bronnens auf: Wenn ihr nicht da seid, nicht vor Augen steht – hatte der Alte gesagt – seid ihr für die höchsten Herrschaften doch weiter nichts als Bediente, die draußen im Vorsaal und auf der Treppe mit warmen Mänteln warten. Man spielt, man tanzt, man lacht und scherzt; wer wird daran denken, daß denen draußen die Kniee brechen und der Schlaf sie übermannt? Aber da sein müßt ihr, und ja nicht murren ...

Etwas von dem tiefen Ingrimm Eberhards kam über Bronnen. Er ist ein vergessener Diener im Vorsaal.

Als nun spät in der Nacht der König durch den Kammerdiener ihm sagen ließ, er möge sich zur Ruhe begeben, nickte er; in ihm aber sprach's: So hat er doch noch deiner gedacht. Ich danke. Freilich, eines Lastergenossen schämen sie sich weit weniger ...


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