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Durch die Flucht Irmas war das Leben des Lakaien Baum plötzlich leer. Er kam an die Stelle zurück, wo Irma seiner warten sollte und nun verschwunden war, er starrte ins Weite und sah nichts. Ein Hund, der der Spur seines Herrn folgen muß, ist besser dran, ihm zeigt der Naturtrieb die Fährte, der Mensch aber muß sich besinnen.
Ist das eine Flucht? Wohin? Warum? Was ist da die Pflicht des Untergebenen? Darf er diejenige verfolgen, die ihn zurückgejagt. Den Hund hat sie noch ehrlich und offen zurückgejagt, der Diener aber wird betrogen, dafür ist er ein Mensch.
»Schämen Sie sich, Gräfin! Einen armen Bedienten, der gehorchen muß, so zum Narren zu haben.« So sprach Baum vor sich hin. Er fühlte, daß er zum erstenmal die große Probe machen muß, ein denkender Diener zu sein. Vielleicht stand in den Briefen, die er mitgebracht, eine Bestellung auf heut abend. Man ist zur Jagd. Man trifft sich im Wald. Man kann doch nicht offen nach Wildenort kommen. Man ist doch erst so kurz in Trauer. Man will auch den Diener nicht wissen lassen. Aber warum nicht? Er ist ja so gern verschwiegen.
Vielleicht aber ist die Gräfin entflohen.
Warum? Wohin?
Man hat ihm so viel Zutrauen geschenkt – der Oberkämmerer hat ihm noch gesagt: Sie sollen immer um die Gräfin bleiben, immer – verstehen Sie? – und sollen sie zurückgeleiten an den Hof. Hatte man denn dort eine Ahnung, daß sie entfliehen will? Warum gab man ihm nur halbes Zutrauen?
»Ich bin unschuldig!« rief Baum in die Luft hinein. Aber was nützt unschuldig? Gescheit muß man sein.
Baum hatte gute Lehren von seinem Meister, dem ersten Kämmerer der Baronin Steigeneck. Ein guter Bedienter, hatte dieser ihm gesagt, muß immer zwei Dinge bei sich haben: ein scharfes Messer und eine richtig gehende Uhr. Wenn dir was passiert, das dich aus der Fassung bringt, nimm deine Uhr heraus, zähle zehn Sekunden ab, dann überlege, was du zu thun hast.
Das ist eine gute Lehre, sie hat nur wie viele andre gute Lehren das Schlimme, daß man inmitten der Verwirrung sich ihrer nicht erinnert.
Baum ritt zurück ins Schloß; vielleicht ist die Gräfin auf der andern Seite wieder heimgeritten, vielleicht weiß das Kammermädchen, wohin sie reiten wollte. Er kam zum Kammermädchen.
»Ist Ihre Herrin da?«
»Nein, sie ist ja mit Ihnen weggeritten.«
»Wissen Sie nicht, wohin sie wollte?«
»Sie ist von Ihnen fort? Ach Gott, nun führt sie's aus!«
»Was denn?«
»Ich habe schon dem Herrn Flügeladjutanten gesagt, ich fürchte, sie tötet sich. Ich glaube, sie hat Gift bei sich oder einen Dolch. Sie tötet sich!«
»Wenn sie sich mit Gift oder Dolch töten wollte, hätte sie das ja in ihrem Zimmer thun können,« erwiderte Baum.
»Ja, ja. Noch in der letzten Nacht hat sie aus dem Traum gerufen: tief in den See! Ach, du lieber Himmel, meine schöne gute Gräfin ist tot! O ich unglückseliges Geschöpf, was wird aus mir?«
Baum suchte die Klagende zu beruhigen und fragte, ob die Gräfin nicht irgendwo ein Schreiben hinterlassen.
Der Schreibtisch stand offen, es lagen zerstreute Papiere darauf; man fand den an die Königin überschriebenen Brief. Baum wollte ihn zu sich nehmen, aber die Kammerjungfer hielt ihn fest; sie duldete nicht, daß ein Fremder die Geheimnisse ihrer Herrin durchforschte.
Plötzlich, inmitten des Streites, zog Baum seine Uhr heraus. Jetzt hatte er sich der Abzählung der zehn Sekunden erinnert; er sah starr auf das Zifferblatt, und als er zehn gezählt hatte, nickte er, er hat Ruhe und Besonnenheit gefunden, – Gut, die Kammerjungfer soll den Brief überbringen, damit ist nichts gewonnen und nichts verloren, er selber aber will zeigen, daß er das höhere Zutrauen verdient. Seine Aufgabe ist, nun Nachforschungen anzustellen, vielleicht rettet er doch noch.
Während sich die Kammerjungfer abwendete und schnell den Brief zu sich steckte, sah er einen andern Brief, überschrieben: »Dem Freunde.« Schnell erkannte er, daß dieser viel mehr wert, und steckte ihn zu sich. Der Freund kann nur einer sein, er weiß, wer es ist. Die Kammerjungfer hatte das Knittern des Papiers gehört und verlangte die Schrift zurück. Baum verließ schnell das Zimmer und berief die Diener des Hauses. Die Kammerjungfer folgte ihm; er verwandelte sich nun schnell aus dem Angegriffenen in den Angreifer, er verlangte den Brief an die Königin, um ihn zu entsiegeln und daraus die Spur zu entnehmen, wohin die Gräfin entflohen, er machte die Dienerin verantwortlich für alle Folgen. Sie flüchtete vor ihm und er verfolgte den Plan nicht, denn er wußte nicht, ob er den Brief entsiegeln durfte, und jedenfalls hat er nun den wichtigeren an den König unbestritten. Er befahl dem Reitknecht, daß er noch ein Pferd sattle und mit ihm reite.
Das Abendrot glänzte bereits auf den Fenstern des Schlosses, als die beiden hinausritten. Aber wohin?
Der Wegknecht wurde ausgefragt – er hatte nichts von der Gräfin gesehen. Dort trieb der Schäfer heim – die beiden ritten auf ihn zu, der Schäfer nickte auf die Frage, ob er die Gräfin gesehen, aber man konnte ihn nicht hören vor dem lauten Blöken der Schafe; Baum stieg ab und vernahm, daß die Gräfin in gestrecktem Galopp den Weg nach dem Gamsbühel geritten sei.
»Die sitzt fest, die kann gut reiten,« lobte der Schäfer.
Nun war doch eine Spur da. Die beiden jagten den Weg dahin. Als sie bei der Bergmulde am ausgetrockneten Sumpf anlangten, hörten sie ein Pferd wiehern. Sie ritten darauf zu. Da stand das Reitpferd Irmas und graste ruhig, aber dicker Schaum lag auf Zaum und Gurt.
»Die Gräfin ist gestürzt, wer weiß, wo sie verschmachtend liegt,« sagte Baum. – Er wollte noch behutsam sein und dem Reitknecht nicht voreilig alles mitteilen.
Sie suchten nun rings umher und riefen; sie fanden nichts und erhielten keine Antwort. Baum entdeckte Doppelspuren des Pferdes, vor- und rückwärts. Sie nahmen das Pferd Irmas mit, stiegen aber nicht mehr auf, sie mußten genau darauf achten, wo die Spur der Pferdehufe hinführt. Nur dem scharfen Auge Baums gelang es, die Huftritte in dem Halbdunkel noch zu erkennen.
»Hätten wir nur den Hund bei uns, der kennt sie. Warum hast du nicht den Hund mitgenommen?« fragte er ärgerlich.
»Sie haben mir ja nichts gesagt.«
»Reite zurück und hol ihn! Nein, bleib, ich kann nicht allein sein.«
Sie kamen bis zum Gamsbühel.
»Geh abseits, in den Wald,« rief Baum.
Sein gutes Messer war jetzt am Platze; er holte Reisig, band es zu einer Fackel zusammen, zündete es an und leuchtete damit umher. Er fand die Spuren. Hier hatte das Pferd umgewendet, hier waren noch die Tritte von einem Damenfuß, mehrere Schritte rückwärts, dann verlor sich die Spur.
»Hier muß sie sein,« rief Baum, »hier ist sie in den Wald hinab. Ich kenne Weg und Steg. Du gehst links mit den beiden Pferden, ich gehe mit dem einen rechts. Du entfernst dich aber nicht weiter, als du meine Stimme hören kannst.«
Sie suchten und riefen durch den mächtigen Wald, sie fanden nichts. Endlich kamen sie wieder zusammen. Ein Hirsch schoß an ihnen vorbei. Wenn der hätte reden können, er hätte ihnen gesagt, wo Irma ihn aufgescheucht, es war wohl eine Stunde weit abseits.
»Wenn du sie findest, bekommst du einen guten Lohn,« sagte Baum zu dem Reitknecht. Er sprach zu einem andern, was er sich dachte, daß sein oberster Herr zu ihm sprechen würde.
Fast die ganze Nacht irrten sie mühsam durch den Wald, und endlich mußten sie sich niederlegen und den Tag abwarten; es war nirgends ein Weg mehr, um die Pferde zu führen.
Der Tag war schon lange erwacht, als die beiden Suchenden die Augen aufschlugen. Von ferne blinkte der See und auch hier herauf klang ein Ton von der Musik, und wo die beiden standen, warfen die Felsen das stärkste Echo von den Böllerschüssen zurück.
Baum nahm die Pistolen aus den Satteltaschen und feuerte sie nacheinander ab, dann lauschte er mit angehaltenem Atem; vielleicht ist Irma hier irgendwo, sie hört die Schüsse und gibt ein Zeichen. Man vernahm keinen Laut.
Die beiden fanden einen Holzweg, der abwärts nach dem See führte. Sie kamen ans Ufer. Da lag der spiegelglatte See, stundenweit sich hinstreckend; wer weiß, was er in seinem Grunde birgt. Dort in der Ferne schwimmt ein Kahn, Menschen und Tiere sind darin. Jetzt landet der Kahn. Baum und sein Gefährte wendeten sich nach der andern Seite, wo zerstreute Bauernhäuser und Fischerhütten lagen; Mann und Pferd waren abgemattet, sie mußten sich erfrischen. Baum fragte jeden Begegnenden, ob man nicht eine vornehme Frau in blauem Reitgewand mit einem Federhut gesehen habe. Nirgends eine Spur.
»Doch ja,« sagte endlich ein altes Männlein, das Weiden schnitt am See.
»Wo? Wann?«
»Da drüben im Wirtshaus. Es ist jetzt bald ein Jahr, da hat sie viele Wochen dort gewohnt.«
Baum fluchte auf das einfältige Bauernvolk.
Glücklicherweise traf er hier einen Landjäger. Er sagte ihm, was er sei und was er suche, schickte den Reitknecht mit dem Damensattel zurück nach Wildenort, legte seinen Sattel dem Pluto auf und ritt nun mit dem Landjäger am See entlang. Da sahen sie auf einem Felsen am Ufer eine Gestalt, die einen Federhut hochhielt. Sie ritten rasch darauf los. Baum erschrak so sehr, daß er die Steigbügel verlor; er erkannte seinen Bruder Thomas.
Wenn er die Gräfin beraubt und ermordet hat?
Der Landjäger erkannte den wilden Gesellen. Thomas starrte die beiden grinsend an, sein Haar war naß und seine Kleider troffen.
»Was machst du da?« rief der Landjäger. »Was hast du da für einen Hut?«
»Der wird dich nichts angehen!« antwortete Thomas, und seine Zähne klapperten.
Baum nahm eine Flasche mit Branntwein heraus und reichte sie dem von Frost Geschüttelten, Thomas trank mit mächtigem Zuge; dann erzählte er mit einer Mischung von Wut und Jammer, die Geliebte des Königs sei gestern nachts zu ihnen auf die Wurzhütte verirrt und habe seine Schwester verleitet, daß sie mit ihr sich in den See stürze; er sei zu spät gekommen, im Wasser habe er etwas schwimmen gesehen, er sei hineingesprungen, um sie zu retten, habe aber nichts gefunden als den Hut.
Der Landjäger wollte diese Erzählung nicht glauben und Thomas sofort verhaften. Baum sagte ihm leise ins Ohr, es sei wohl sicher, daß die Dame sich ertränkt habe und hier kein Mord vorliege. Er wollte doch seinen Bruder nicht verhaften lassen, es regte sich etwas wie Mitleid in ihm, und er sagte zu Thomas:
»Komm her, wir wollen einen Tausch machen. Da, ich geb' dir meine Flasche, es ist noch viel darin, gib du mir den Hut.«
»O nein, ich weiß, wem der Hut gehört; der ist viel wert, den bring' ich dem König!«
»Hat er seinen Schatz nicht mehr,
Hat er doch den Hut.
Und wenn die alt versoffen ist,
Da schmeckt eine neue gut. Juchhe!«
sang Thomas mit lallender Zunge, warf den Hut in die Höhe und fing ihn wieder auf.
Der Landjäger wollte Thomas ins Gesicht schlagen, aber Baum hielt ihn ab; er ging auf Thomas zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Thomas zuckte zusammen, er ward plötzlich ruhig und schaute Baum ängstlich an. Baum sprach sehr herablassend mit Thomas und dieser schaute ihn immer mit offenem Munde an, als müsse er sich auf etwas besinnen, was er nicht sagen konnte; diese Stimme, die Hand auf seiner Schulter machten einen ganz andern Menschen aus ihm; der wilde, mordsüchtige Bursche weinte.
»Willst du mir den Hut für ein Goldstück geben oder willst du dir ihn mit Gewalt nehmen lassen? Du siehst, wir sind zwei und sind Meister über dich,« schloß Baum.
Ohne ein Wort zu erwidern, reichte Thomas den Federhut hin, und als ihm Baum das Goldstück reichte, konnte Thomas die Hand nicht schließen, er schaute verwirrt bald auf das Goldstück, bald auf den Geber.
Baum redete ihm nachdrücklich zu und sagte, er solle, wenn er noch eine Mutter habe, ihr auch etwas von dem Gelde geben.
»Eine Mutter?« lallte Thomas und sah Baum gläsernen Blickes an. »Eine Mutter?« wiederholte er, es schien eine Erinnerung in ihm zu erwachen.
Der Landjäger bewunderte den Edelsinn des Hoflakaien; das ist doch gar ein feiner Mensch.
Nun berichtete Thomas von neuem, daß Irma gestern nacht bei ihnen in der Hütte gewesen, und die Mutter wisse noch mehr von ihr, mit der sei sie allein gewesen. Die beiden verlangten die Mutter zu sprechen. Thomas begleitete sie bergauf nach der Hütte.
Unterwegs erzählte der Landjäger dem Lakaien die Familienverhältnisse des Thomas und schloß: »Sehen Sie, der Mensch da ist ein Raufbold und vielfach bestrafter Wilderer; ich hab' ihm schon oft geraten, er soll nach Amerika auswandern, da kann er jagen genug. Und er hat einen Bruder in Amerika, einen Zwillingsbruder, das muß aber ein grundschlechter Mensch sein, wenn er nicht gestorben ist, er hat seiner Mutter und seinem Bruder noch nicht ein Wort geschrieben und nie so viel geschickt, was man in einem Auge leiden kann; aber freilich, so werden die Menschen in Amerika; aus meinem Ort sind viele drüben, sie sind alle nichts nutz, sie denken alle nur an sich.«
Baum lächelte dem Erzähler zu, er bedurfte seiner ganzen Haltung und redete kaum ein Wort; er mußte sich vorbereiten, wie er nun wiederum seiner Mutter begegne, und es war ärgerlich, daß sie jetzt in diese Sache verwickelt war; er brauchte jetzt seine Gedanken anderswohin.
Der Landjäger suchte den Weg kurzweilig zu machen und wußte viele Verbrechergeschichten zu erzählen, er war ja thätig darin; nur haben diese Geschichten das Unangenehme, daß man selbst sauber sein muß, wenn man sie hört. Baum winkte ihm immer gnädig zu; er darf ja mit keiner Miene verraten, daß der verlorene Mensch, der da vorausschreitet, ihn etwas angeht. Der Landjäger erzählte, wie ihn einmal ein Mörder, den er hatte einfangen helfen, in den Finger gebissen hatte, und er zeigte die Narbe.
Endlich befreite sich Baum von diesen entsetzlichen Dingen. Er fragte den Landjäger, bei welchem Regiment er gestanden; er fragte das so gnädig, als ob er in der nächsten Minute einen Orden aus der Tasche ziehen und den Landjäger dekorieren wolle. Nun gibt es nichts Besseres, als vom ehemaligen Soldatenleben erzählen. Der Landjäger berichtete Geschichten und lachte, auch Baum lachte mit, er mußte mitlachen; der vorausgehende Thomas schaute sich grinsend um, schritt aber weiter.
Man kam bei der Hütte an. Es war niemand da, die alte Zenza war verschwunden.
»Die sucht gewiß auch die Esther,« sagte Thomas.
»Was ist's denn mit der schwarzen Esther?« fragte der Landjäger.
»Schwarze Esther« – wiederholte Thomas. – »Ha, ha! Jetzt wird sie aber der See weiß waschen. Wenn mir einer ein gutes Trinkgeld gibt, spring ich auch noch in den See.«
Er warf sich auf den Laubsack und betrachtete still seine Hände, mit denen er noch in der Nacht im Wald Esther mißhandelt hatte; dann legte er den Kopf zurück und verfiel in dumpfen Schlaf. Es war nicht möglich, ein Wort aus ihm herauszubringen. Baum und der Landjäger ritten davon, sie wollten nochmals an den See, um weitere Spuren zu finden und überall Auftrag zu geben. Sie kamen aus dem Wald auf die Landstraße, wo sie dem Fuhrwerk mit der Blahe begegneten.
Im ruhigen Schritt ritten sie wieder am See entlang. Eine große rotbraune Kuh ging vor den beiden Reitern dahin, fraß manchmal und schaute über den See; plötzlich, als sie an eine Hecke kam, stutzte sie, wendete sich rasch und rannte so schnell zurück, daß sie das Pferd Baums auflief.
»Die Kuh ist an etwas gescheut, da liegt etwas,« sagte Baum und stieg rasch ab. Seine gefärbten Haare stiegen ihm zu Berge, da er darauf gefaßt war, in der nächsten Sekunde die Leiche Irmas zu sehen. Und richtig, er fand etwas. Hier standen die zerrissenen Schuhe Irmas, er kannte sie, hier war eine Blutspur, das Gras war niedergedrückt, hier hatte ein Mensch gelegen und sich gewälzt.
Die Hand Baums zitterte doch, als er die Schuhe aufnahm, und sie zitterte stärker, als er ein Pflänzchen abpflückte – es war ein einfacher Blattkelch, sogenannter Frauenmantel, das beste Bergfutter – und in diesem Blattkelch waren Blutstropfen, sie waren fast noch naß.
Wenn sie sich ertränkt hätte – woher das Blut? Woher die Schuhe? Und die Schuhe so entfernt von dem Orte, wo Thomas den Hut gefunden hatte? Und hier sind viele Fußstapfen von großen Schuhen? Wenn Irma doch ermordet wäre? Wenn sein Bruder ...
Sie ist tot – das ist die Hauptsache, tröstete sich Baum, und ich hab' die Zeichen. Was braucht man da noch einen Menschen ins Unglück zu bringen?
Er legte das Pflänzchen mit dem Blut zu dem Brief, der »Dem Freunde« überschrieben war.
Er ging mit dem Landjäger in das Wirtshaus an der Anlände, wo heute früh die Auswandernden eingekehrt waren.
Hier fragte der Landjäger wiederum nach der vornehmen Dame im blauen Reitkleid.
In den Mienen der Wirtin zuckte es. War das vielleicht die Wahnsinnige, die heut bei den Auswanderern gewesen? Sie waren so hin und her gelaufen, hatten Kleiderbündel getragen und die Fremde hatte so wunderlich dreingeschaut.
»Du weißt etwas!« sagte der Landjäger, der Wirtin ins Angesicht starrend. »Sag's!«
»Ich weiß nichts!« sagte die Wirtin. »Hab' ich denn ein Wort gesagt? Was willst du von mir?«
Die ganze Furcht des Landvolkes, vor Gericht stehen zu müssen, um Zeugnis abzulegen, ward in der Wirtin lebendig, und sie hielt sich streng zurück, irgend ein Wort laut werden zu lassen.
Baum merkte, daß er nicht wohlgethan, den Landjäger mitzunehmen, seine Anwesenheit schreckte die Menschen, wenn sie auch etwas mitzuteilen hatten; er schickte ihn daher fort, um selbständig weitere Nachforschungen zu halten.
Baum kämmte und bürstete vor einem Spiegel seine gefärbten Haare, die heute gar widerspenstig waren. Zum erstenmal in seinem Leben war er tief bescheiden; er ist noch nicht recht der Mann dazu, um solch eine Sache auszukundschaften, und er hat auch schon zu lange verzögert, andre werden ihm den Vorteil wegnehmen, der aus dem Tode Irmas zu ziehen ist; er muß zurück ins Schloß, dort sind Leute genug, die das besser zu Ende führen können.
Er suchte die Wirtin, die ihm doch etwas zu wissen schien, allein auszuforschen; aber die Wirtin war auch gegen ihn zurückhaltend, sie kannte ja seine Kameradschaft mit dem Landjäger, und es nützte ihm nichts, daß er, auf die Wappenknöpfe deutend, sich als königlichen Lakaien bekundete.
Plötzlich erinnerte er sich, daß hier am See ja Walpurga wohnte; es war kaum ein Jahr her, seit er hier mit Hofrat Sixtus gereist. Irma war immer die Freundin Walpurgas gewesen, vielleicht hält sie sich bei ihr verborgen – solche überspannte Menschen sind zu allem fähig.
Vor dem Wirtshaus lag noch der große Kahn. Baum ging mit seinem Pferd an Bord und befahl, daß man sofort abfahre! er gab aber doch zu, daß ein Wildheuer, der mit einem großen Handkarren voll Heu ankam, das er auf den gefährlichsten Spitzen eingesammelt, im Kahn mit überfahre. Man stieß ab. Baum legte sich auf das Wildheu, er fühlte sich in allen Gliedern wie zerschlagen.
Nun fragte er die Schiffer aus, ob sie nichts von einem Ertrunkenen bemerkt hätten. Er erfuhr, daß man am Morgen einen Menschenkopf mit langen Haaren aus dem Wasser hatte auftauchen sehen, es sei wahrscheinlich ein Frauenzimmer gewesen.
Baum richtete sich plötzlich auf und schaute wirr über den blitzenden Spiegel des Sees hin.
»Wenn der Herr warten will,« sagte der ältere Schiffer zu Baum, »nach drei Tagen speit der See die Leiche aus.«
Baum wollte nichts mehr hören; er tastete nur nach dem Papier in seiner Tasche mit der blutbefleckten Pflanze, streckte sich noch gemächlicher auf dem Heu und schlief ein; er erwachte erst wieder, als der große Kahn ans Land stieß.
Es war eigentlich nicht mehr nötig, Walpurga aufzusuchen; dennoch ging er, er wollte zeigen, daß er alle Mittel und Wege versucht. Er kam nach der Gstadelhütte und klopfte an die Thür; niemand antwortete. Er schaute durch das Fenster; zwei große Katzenaugen starrten ihn an, die Katze saß auf dem Sims, sie allein war da verblieben; die Stube war wie ausgeraubt, nirgends ein Tisch, ein Stuhl. Als wenn er verzaubert wäre oder träume, ging er wieder durch den Garten zurück.
Die Elster auf dem sich entblätternden Kirschbaum schnatterte, kein Mensch war zu schauen. Endlich ging ein Mann vorüber, Baum erkannte ihn, es war der Schneider Schneck.
»He Mann,« rief er, »wo ist der Hansei und die Walpurga?«
»Die sind über die Berge, sind ausgewandert und haben einen großen Hof gekauft, man heißt ihn den Freihof, weit drin an der Landesgrenze.«
Der Schneider Schneck war sehr gesprächig und wollte wissen, ob der Herr noch etwas bringe vom König und von der Königin. Aber Baum war wortkarg; er stieg zu Pferde und ritt davon, geradeswegs nach der Sommerburg.
Es war ein langer mühsamer Ritt; er griff oft nach dem Hut und den Schuhen der Gräfin, um sich zu überzeugen, daß er diese Kleinodien noch bei sich habe.
Inmitten aller Erschütterung und Eile hatte er noch Fassung und Ruhe genug, sich auszudenken, wie er mit diesem Ereignis ein Schwungbrett betreten habe, auf dem er sich höher schwingen werde. Er war fortan der Vertraute des Königs, er allein konnte sagen, was und wie alles geschehen ist. Er betrachtete seine Hand, die der König ihm dankend drücken wird, ja er meinte, der König habe ihm schon die Hand gedrückt. Es kann ihm nicht fehlen, der Oberkämmerer ist altersschwach, er tritt in dessen Stelle. Freilich wär's am besten, wenn er sagen könnte, Irma sei gewaltsam ermordet worden – der Landjäger hat wie ein Spürhund da eine Fährte gefunden – aber nein, das geht nicht, er ist doch dein Bruder – wenn's ihm auch besser wäre, daß man ihn hinter Schloß und Riegel füttert, bis er stirbt. Nein, so hart will Baum nicht sein. Er faßte den guten Vorsatz, wenn er Oberkämmerer geworden, dann will er Gutes thun, ja, an seiner Mutter und seinem Bruder, die Schwester ist tot und das ist doch traurig; ganz gewiß will er es thun, wenn er noch weiter kommt und ihm der König ein groß Stück Geld und eine schöne Lebensrente gibt. Baum war so keck, Gott zu sagen, er müsse ihm dazu verhelfen, er wolle ja Gutes thun.
Und wie er so durch die Nacht dahinritt und manchmal einnickte – denn es war die zweite Nacht, die er in solcher Unruhe zubrachte – schwirrte ihm alles durcheinander.
An der letzten Station ließ er sein Pferd zurück und nahm Extrapost.
Es war früh am Tage, als Baum vor dem Sommerschloß ankam. Nur mühselig wurde er erweckt, und es dauerte lange, bis er sicher auf dem Boden stand und sich besann, wo er war und was er bei sich hatte.
Große Hofwagen wurden angespannt, aus dem Reitstall wurden die schönsten Reitpferde vorgeführt. Baum hörte kaum den Willkomm seiner Kameraden und der Bereiter.
Er ging hinein ins Schloß, die Treppe hinauf; die Kniee wollten ihm brechen, so abgemattet war er. Er trat in das Vorzimmer des Königs. Der alte Oberkämmerer schnupfte schnell die Prise, die er zwischen den Fingern hielt, und reichte Baum die Hand. Baum sank auf einen Stuhl und sprach seinen Wunsch aus, sofort bei Seiner Majestät gemeldet zu werden.
»Kann noch nicht, muß warten,« antwortete der Oberkämmerer.
Baum hielt sich nur gewaltsam wach und auf dem Stuhl aufrecht.