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Irma war auf einem Fußweg, der sich durch hohe Waldbäume hinzog. Fest und sicher förderte sie die Schritte. Bald ging der Fußweg in eine breite Waldstraße über.
In der Ferne zuckte Wetterleuchten am Himmel, es zerreißt die Nacht und da thut sich ein Himmel auf, der noch hinter der Nacht liegt.
Irma schaute kaum auf, sie dachte nichts mehr, nichts als den Weg zu finden. Es war still im Wald; nur manchmal krächzte etwas, wie das Aechzen eines Menschen, so klagend. Es kommt von einem Baume, der herzspältig ist. Aber das Krächzen geht immer mit ihr, immer ihr voraus. Sie sucht den Baum, der so im Herzen trank; sie findet ihn nicht; es geht immer weiter hinauf, immer tiefer hinein in den Wald. Da rennt sie den Berg hinab. Nun ist es still. Der Weg verlor sich, aber von ferne her leuchtete das Ziel, ein Blinken des mondbeglänzten Sees. Sie ging weiter und weiter pfadlos durch den Wald auf weichem Moos. Oftmals war Wimmern von Vogelstimmen in den Baumkronen, ein Marder oder ein Wiesel würgte die Sorglosen in ihren Nestern. – In der Welt ist ewiges Morden, Verzehren des einen durch den andern. Die Menschen verderben und morden einander, nur verzehren sie einander nicht – das allein unterscheidet sie von den Tieren. Und noch eins – ja, noch eins! Das ist's! Der Mensch allein kann sich selbst morden. Irma schwindelte bei dem Gedanken. Sie hielt sich an einem Baum, dann schritt sie weiter. Nur keine Weichlichkeit! Fest und entschlossen muß das Unabänderliche vollbracht werden. Weiter ging's durch den dichten Wald. Heiß glühten ihre Wangen, der Schweiß troff von ihrer Stirn, aber innerlich war's ihr, als ob sie friere.
Da rauschte es durch das Dickicht vor ihr, es war ein Hirsch, den sie aus seinem Lager aufgescheucht. Das Tier fürchtete sich vor ihr und sie fürchtete sich vor dem Tier, sie glaubte schon sein Geweih zu spüren, wie es sie aufspießt; sie flog mit behendem Sprunge den Bergrand hinab; fern noch knackte es im Gebüsch, dann war alles still. Hoch in den Wipfeln saust es; es rauschen Wasser, bald nah, bald fern, und jetzt hört sie das Brausen eines Waldbachs, der von Felsen niederstürzt; sie sieht den mondbeglänzten Schaum, sie weiß nicht mehr, wo sie ist, sie weiß nicht, geht sie nach dem See oder rückwärts. Wenn sie sich im Walde verirrt, wenn sie hier niedersinken muß und gefunden und zurückgebracht wird in das Leben, in das Elend? ... Sie rafft alle Kraft zusammen und schreitet weiter. Die Nacht wehte sie kühl an, aber von ihren Wangen fielen heiße Tropfen; sie griff sich an die Stirn – da ist ein heißer Quell, als ob es aus der getroffenen Stelle rinne. Sie sieht auf zu den Sternen, sie sieht bekannte Sternbilder, sie weiß ihren Standort, aber die großen Wegweiser in der Unendlichkeit führen nicht auf den Irrwegen im Waldesdickicht ein einsam verirrtes Menschenkind. Irma gedenkt der Nächte, wo der Leibarzt ihren Blick in die Weite gelenkt – wie ist ihr nun alles vernichtet, alles Große gefallen, selbst der Blick zu den Sternen ist ihr verschränkt. Sie sinnt darüber nach, ob sie die Briefe verbrannt, oder zurückgelassen; den an den König hat sie verbrannt, dessen glaubt sie sich zu erinnern; aber nicht auch den an die Königin? Sie sinnt hin und her, es wirrt sich ihr zusammen. Vielleicht werden beide Briefe gefunden. – Sei es!
Und dann zieht ihr das Lied Walpurgas durch die Seele.
Wenn die gute Bauernfrau am See wüßte, wie ihre Freundin jetzt einsam in dunkler Nacht durch den Wald rast, und mit welchen Gedanken – sie käme herbei und risse dich an sich und ließe dich nicht; wer weiß, ob sie nicht jetzt in der Ferne dein gedenkt, von dir träumt und dir durch die Nacht unfaßbar ihr Lied durch die Lüfte daher schickt? Wie wird die Arme trauern, wenn sie deinen Tod erfährt; vielleicht ist sie die einzige, die dich wahrhaft betrauert.
Alle Erinnerungsmelodien spielten durch ihre Seele. Nach Jahren erzählt ein Schiffer, wie der dort am Inselkloster, vom ertrunkenen Hoffräulein. Wie wird die Todesnachricht auf die Menschen wirken? Niemand von euch kann mir helfen, ich kann euch auch nicht helfen, und übermorgen spielt ihr wieder Karten und tanzt und singt. Keiner kann den andern in Gedanken behalten; wer nicht da ist, hat kein Recht, in Gedanken da zu sein. Unbarmherzig ist das Leben wie der Tod ...
Weiter ging's durch das Dickicht, an wilden Schluchten vorbei; die Steine, die sich unter ihren Tritten lösten, polterten in den Abgrund hinab, aus dem sie dumpf auftönten und ahnen ließen, wie tief sie gefallen waren. Die Felsen rücken näher zusammen, der Waldbach stürzt sich über sie herab, und jetzt auf einmal da sind die Felsenschrofen, da geht's nicht weiter – stürze dich hinab und zerschmettere! Wenn du aber tagelang halbtot und gelähmt liegen und verschmachten mußt? Nein!
Sie sucht sich einen Weg. Da schlägt ihr ein Baumzweig ins Gesicht, gerade dahin, wo des Vaters todeskalter Finger sie berührt.
»Nein, diese Stirn soll das Tageslicht nicht mehr schauen,« ruft sie und sucht einen Weg am Felsenhang und hält sich fest mit eingeklammerten Händen. Jetzt erschallt helles Jodeln einer Frauenstimme durch den Wald. – Irma atmet auf, es ist eine Menschenstimme, eine Frauenstimme, vielleicht ein Mädchen, ein holdes frisches Kind, das dem Geliebten ein Zeichen gibt durch die Nacht. Die Jodeltöne wiederholen sich fort und fort und werden immer dringender, und Irma sitzt in Angst und Zittern am Felsenhang; sie antwortet, sie schreit grell auf. Sie erschrickt vor ihrer eignen Stimme, aber sie schreit wieder und wieder. Nun kommt es antwortend heran, die Stimme nähert sich, Hunde springen voraus, sie sind schon bei Irma, sie bellen, zum Zeichen, daß sie die Beute gefunden; die Frauenstimme kommt näher und näher.
»Wo bist du?« fragt es.
»Da,« antwortet Irma.
»Wo?«
»Hier.«
»Da oben?«
»Ja.«
»Wie bist du da hinauf gekommen?«
»Ich weiß nicht.«
»Halt dich ruhig, rück nicht von der Stelle! Ich komme.«
»Ja.«
Es dauerte lange, da tauchte endlich etwas unter Irma auf.
»So, da bist du?« sagte die Gestalt. Sie warf Irma einen Strick zu und befahl ihr, sich solchen um den Leib zu binden, das andre Ende an einen Felsen oder einen Baum zu heften und dann ruhig herabzugleiten.
Irma that, wie ihr befohlen. Sie schwebte zwischen Himmel und Erde, in diesem kurzen Augenblicke durchschauerte sie Unfaßbares. Sie kam glücklich bei der Frauengestalt an. Diese packte sie sofort mächtig an der Hand und führte sie. Irma folgte willenlos. Sie riß sich blutig, bis sie auf einen schmalen Felsweg kamen. Drunten brauste der Bach, aber die mächtige Frauengestalt hielt Irma fest an der Hand, diese Hand packte wie eine eiserne Zange.
»Wo du gewesen bist, da kommt ja nicht einmal ein Gemsjäger hin. So, jetzt sind wir oben, dort ist unsre Hütte,« sagte endlich die dunkle Gestalt. »Es ist ein Wunder, daß du nicht gestürzt bist und hast so ein langes Kleid dazu.«
»Wer bist du?« fragte Irma.
»Sag mir zuerst, wer du bist und wie du daher kommst.«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Meinetwegen. Mich heißen sie die schwarze Esther.«
»Wen bringst du?« rief eine grausig erscheinende Frau in der Hüttenthür; hinter ihr brannte das Herdfeuer.
»Ich weiß nicht. Ein Weibsbild.«
Irma ging mit der schwarzen Esther nach der Hütte. Die Alte bekreuzte sich und rief: »Alle guten Geister loben Gott den Herrn – das ist die Seejungfrau!«
»Ich bin kein Geist,« sagte Irma, »ich bin ein müdes Menschenkind. Lasset mich eine Weile ruhen und dann gebt mir Eure Tochter mit, daß sie mir den Weg nach dem See zeige. Jetzt nur einen Tropfen Wasser!«
»Nein, das wäre dein Tod, du darfst jetzt kein Wasser trinken; ich koch' da eine warme Suppe, ich bringe dir gleich.«
Sie führte Irma hinein in die Kammer, und als sie ihre Hand sah und daran einen Diamantring, grinste sie vergnüglich:
»Ei, das schöne Ringlein, das ist wohl vom Herzallerliebsten?«
»Nehmt, nehmt den Ring! Behaltet ihn!« sagte Irma und hielt ihr die Hand hin.
Die Alte streifte den Ring mit großer Geschicklichkeit von dem Finger.
»Herr Gott!« rief die Alte plötzlich. »Dich hab' ich schon einmal gesehen – ja, ja, Sie sind's ... haben Sie nicht einmal ein goldenes Herzchen getragen und es einem Kinde geschickt? Haben Sie nicht einmal einer alten Frau im Schloß zu essen geben lassen und ihren Sohn frei gemacht und ihr noch Geld dazu geschenkt? Herr Gott, ja Sie sind die –«
»Nenne meinen Namen nicht! Laß mich nur eine Minute ruhen, frage nichts und sage nichts mehr!«
»Nein, wie Sie befehlen, gewiß nicht; ich will jetzt nur schnell die Suppe fertig machen.«
Sie ging hinaus und ließ Irma allein.
Irma lag auf dem Bett, das nichts als ein Blättersack war; das knisterte so wunderlich, wenn sie den Kopf wendete und die Blätter sprachen: ja, damals, als wir noch grünten, da war's anders ... Durch das Fenster blinzelte der Mond herein. Die ganze Welt ging mit Irma herum, sie war wie auf hoher See, aber bald war sie entschlummert.
Sie wachte auf, sie hörte eine laute Männerstimme.