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Wer sein Leben zerstört, zerstört nicht sein eigenes Leben allein.
Dem Kinde, das den Vater gekränkt, wächst die Hand zum Grabe heraus.
Auf deiner Stirn steht ein unauslöschliches Mal, ein Kainszeichen von der Hand des Vaters.
Du kannst dein Antlitz nicht selbst mehr schauen und von keinem fremden Auge mehr schauen lassen.
Kannst du vor dir fliehen? Ueberall hin folgst du dir selbst.
Du bist verworfen, verloren, versunken in dir ...
So sprach es eintönig und immer wieder aufs neue in der Seele Irmas.
Sie lag im dunklen Gemach, kein Sonnenstrahl durfte eindringen, kein Licht durfte gebracht werden; sie war allein mit sich und der Nacht. Ihre Gedanken riefen sie wie Stimmen, zur Rechten, zur Linken, von oben, von unten, überall – und oft war's ihr, als schwebte die Hand des Vaters mit ausgestrecktem Finger glühend durch die Dunkelheit.
Sie hörte draußen die Stimme Brunos, die Stimme des Leibarztes; Bruno wollte sie mancherlei fragen, Gunther wollte nach der Stadt zurückkehren. Irma antwortete, daß sie niemand sehen könne; sie trug Gunther tausend Grüße auf für alle, die sie liebten.
Gunther gab dem Hausarzt und der Kammerjungfer den Auftrag, sorgfältig über Irma zu wachen; er schickte einen Boten an Emmy in das Kloster.
Irma blieb in Dunkelheit und Einsamkeit.
Der Versucher trat zu ihr und sprach:
Was härmst du dein junges Leben ab? Die ganze Welt liegt vor dir mit ihrem Glanz und ihrer Schönheit. Wo ist eine Spur auf deiner Stirn? Die Hand ist starr und vermodert. Raff dich auf! Die Welt ist dein! Warum verschmachten? Warum kasteien? Jedes lebt für sich, jedes lebt sich aus. Dein Vater hat sein Leben vollbracht, vollbringe du das deine! Was ist Sünde? – – – Der Tod hat kein Recht an das Leben, das Leben allein hat recht ...
Hin und her zerrte es an ihr und plötzlich sah sie in der Dunkelheit jenes Gesicht aus dem Evangelium, da Satan und der Engel sich streiten um die Leiche Mosis.
Ich bin keine Leiche! rief sie plötzlich. Und Engel gibt's nicht und Teufel gibt's nicht! Alles ist Lüge! Von Geschlecht zu Geschlecht singen und sagen sie uns wie Kindern in der Dunkelheit allerlei Märchen vor.
Der Tag ist da. Ich reiße den Vorhang auf und die ganze lichte Welt ist mein. Haben nicht Tausende gefehlt gleich mir und leben glücklich?
Sie stürzte nach dem Fenster. Es war ihr, als läge sie lebendig begraben in der Erde, ihre Phantasie wühlte sie hinein dort in jenes Grab ...
Licht, Licht muß ich haben!
Sie hob den Vorhang. Ein breiter Strahl drang herein. Sie prallte zurück. Der Vorhang fiel nieder. Sie lag wieder im Dunkeln.
Da hörte sie eine Stimme, die ihr tief zu Herzen ging. Oberst Bronnen war aus der Residenz gekommen, um Eberhard die letzte Ehre zu erweisen; er bat Irma – seine kräftige Stimme war halb verschleiert – ihm die Gunst zu gewähren, mit ihr um den Toten zu klagen.
Alles Blut preßte sich im Herzen Irmas zusammen; sie öffnete die Thür, sie reichte dem Freund im Dunkel die Hand; er preßte sie und sie hörte ihn, den starken Mann, laut weinen. Wie im Sturm zogen ihr die Gedanken durch die Seele: Da steht ein Mann, der dich erlösen könnte, und du könntest ihm dienen und unterthan sein wie eine Magd – aber wie dürftest du? ...
»Ich danke Ihnen« – sprach sie endlich. »Mögen Sie ewig das Glück empfinden, daß Sie dem Erlösten und mir Gutes gewesen sind ...«
Die Stimme stockte, sie konnte nicht weitersprechen.
Bronnen ging. Im Dunkel verließ er sie.
Irma war wieder allein.
Die letzte Handhabe, die sie noch im Leben hätte fassen können, war gebrochen. Hätte sie geahnt, welche Zeilen von einem zerrissenen und auf der Straße gefundenen Briefe Bronnen in der Tasche trug, sie hätte laut aufgeschrien.
Ein einziger Gedanke war wach in ihr. Was soll mir's, noch so viel tausendmal die Sonne aufgehen sehen und jeder Sonnenstrahl, jedes Auge macht die Schrift leuchten, und Worte sind mir ewige Schrecken. Vater – Tochter – wer nimmt mir diese Worte heraus aus der Sprache, daß ich sie nie wieder höre, nie wieder lese?
Wie eine unergründliche Leere war's in ihrem Denken. Da ist der eine und einzige Gedanke immer wieder, nie auszudenken und doch schon von allen Seiten ausgedacht, und Sinnen und Brüten dreht sich mit zermalmender Gewalt, unermüdlich und abgemattet zugleich, im tausendmal abgemessenen Kreise um und um.
Es trat jene Dumpfheit der Seele ein, die völlige Gedankenlosigkeit ist. Nichts denken, nichts wollen, nichts thun. Das Chaos ist über den Einzelmenschen gekommen, und drüber schwebt Unfaßbares. Laß es herankommen, halte still wie ein Opfertier, gegen dessen Stirn das Beil des Opferpriesters geschwungen ist. Das Schicksal muß vollenden; du kannst nichts thun, nur stillhalten, nicht zucken.
Stunden um Stunden lag Irma.
Draußen ging der Pendelschlag der großen Standuhr, und der Ton sprach immer: Vater – Tochter, Tochter – Vater! Stundenlang hörte sie nichts als den Pendelschlag, und immer die Worte: Vater – Tochter, Tochter – Vater! Sie wollte rufen, daß man die Uhr zur Ruhe stelle, aber sie unterließ es. Sie wollte sich zwingen, im Pendelschlag nicht diese Worte zu vernehmen. Es gelang ihr nicht. Vater – Tochter, Tochter – Vater! klang der Pendelschlag fort und fort.
Was einst freies Spiel ihrer Laune gewesen, das spielte nun mit ihr. Was hast du von der Welt gesehen? Einen kleinen Ausschnitt. Du mußt eine Reise um die ganze Erde machen, das soll deine Wallfahrt sein, da wirst du dich verlieren. Du mußt den ganzen Planeten kennen lernen, auf dem diese Geschöpfe herumkriechen, die sich Menschen nennen und sich mit Graben und Pflanzen, mit Predigen und Singen, mit Meißeln und Malen den Jammer betäuben, daß sie sterben müssen. Betäubung ist alles ...
Vor ihrem Geiste bauten sich Bilder auf, wie sie in ungemessene Fernen zieht, der treue Diener schlägt das Zelt in der Wüste auf, und wenn ein wilder Stamm kommt ...
Im Halbschlaf hörte sie den Tamtam und sah sich hinwegtragen, mit Pfauenfedern geschmückt, und um sie her tanzten dunkle wilde Gestalten.
Was ihre Phantasie einst keck sich vorgespiegelt und was jetzt von selbst aus ihr auftauchte, das umtollte sie und schlang den sinnverwirrenden Reigen ....