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Vierzehntes Capitel.


Es stürmte noch eine Weile fort im Artefeld'schen Hause, bald in leichteren, bald in heftigeren Windstößen, aber dann kam leider statt des klaren Himmels eine so andauernde Periode trüben Wetters, blieb der Horizont so gleichmäßig grau bewölkt, herrschte eine so kühle Temperatur, daß der Blick in die allerdüsterste Zukunft dieser unerträglichen Gegenwart fast noch vorzuziehen gewesen wäre. Ein heftiger, wenn auch vorüberziehender Schreck wurde der armen Flora, eine bittere, bleibende Demüthigung ihrer Mutter noch zu Theil, als Erstere in ihres Vaters Schreibtisch wohlverwahrt das seit jener, seinem Tode vorangehenden Nacht vermißte Silberzeug vorfand. Obgleich die Erinnerung an ihren Vater ihr leider kein schattenloses Bild darbot, fiel es ihr doch nicht im entferntesten ein, aus diesem auffallenden Umstande einen Verdacht zu schöpfen, der ihres Vaters Andenken beleidigt hätte, aber sie zagte ahnungsvoll vor der Auslegung, die ihre Mutter dem Vorfall geben könnte.

Dennoch blieb ihr nichts Anderes übrig, als sie selbst mit dem Funde bekannt zu machen, obgleich seit dem gemeinschaftlich erlebten Unglück kaum ein Wort zwischen Beiden gewechselt worden war. Sie hatten sich überhaupt kaum gesehen, Frau Artefeld verließ das Krankenbett ihres Kindes nur, um kurze Conferenzen mit Herrn Jakobi zu halten. Das heftige Fieber, dessen Beute der Kleine in Folge des erlittenen Schreckens geworden war und das einen gefährlichen Charakter angenommen hatte, gab ihr den Vorwand, Jeden von ihm zu entfernen, der nicht unmittelbar mit der Pflege zu thun hatte, und sie war nicht zu bewegen gewesen, Flora's oder Elisabeth's Beistand dabei anzunehmen. Elisabeth wies sie mit einem: »Du verstehst es nicht,« zurück, zu Flora sagte sie bitter: »Mir sind die Dienste am sichersten, die ich durch Bezahlung erringen, mit dieser ablohnen kann.« Nur wenn sie nicht im Krankenzimmer war, flüchteten sich die Mädchen verstohlen hinein, nur durch die Bonne erhielten sie im Laufe des Tages Nachricht von dem Befinden des Patienten.

Elisabeth, jetzt nicht durch die Gegenwart der Mutter eingeschüchtert, machte ihrem Unwillen oft in lauten Worten Luft, Flora ertrug mit einer unvergleichlichen Demuth die täglich wiederholte Feindseligkeit; sie meinte im Stillen damit die Schuld des Vaters abzubüßen. Es gehörte aber auch selbst für sie eine nicht geringe Kraft des Entschlusses dazu, unter diesen Verhältnissen einer Angelegenheit gegen die Mutter zu erwähnen, die genau mit Begebenheiten in Verbindung stand, aus denen alle die jetzigen Zerwürfnisse entsprungen waren. Sie zögerte jedoch nicht zu thun, was ihr nöthig schien, und benutzte den ersten Augenblick, in dem sie ihrer Mutter habhaft werden konnte, ihr das Silberzeug zurückzustellen und ihr zu sagen, wo sich dasselbe vorgefunden.

Mit einem höhnischen Auflachen, das dem armen Mädchen durch die Seele schnitt, nahm diese die Nachricht auf.

»Ich denke mir,« wagte Flora schüchtern zu sagen, »daß der Vater vielleicht zufällig in Gebhard's Zimmer gekommen, als jener fort war, und das Silberzeug zur Sicherheit an sich genommen hat.«

»Gewiß,« bestätigte Frau Artefeld noch immer mit demselben Hohne.

»Vielleicht hat er auch nicht gewußt, was er that,« stammelte Flora, die jetzt leider genau wußte, warum sie in jener Nacht eine so entsetzliche Scheu vor dem Trunkenen gehabt, dem sie auf der Straße begegnet waren, warum sie die Stimme nicht hatte vergessen können, die das zur Freude auffordernde Lied gesungen und ihr so unsagliche Angst, so unendliche und schmerzvolle Befürchtungen erregt hatte.

»O, das wird er wohl gewußt haben!« bemerkte die Mutter bedeutungsvoll.

Flora sah sie ängstlich an. Plötzlich stürzte sie ihr zu Füßen.

»Ich weiß nicht, was der Vater Dir gethan hat,« sagte sie mit flehender Stimme, »aber er ist todt, kannst Du ihm nicht verzeihen? Wer ist denn fehlerlos, wer darf denn den Andern richten? Sind Irrthümer denn Verbrechen? Ach, Mutter, glaube doch nur nichts Schlechtes vom Vater!«

»Ich glaube was ich sehe,« sagte diese kalt, »mehr nicht.«

»O, glaube doch mehr, aber glaube es im Guten!« bat das Mädchen verzweiflungsvoll.

»Laß mich,« sagte Frau Artefeld, sich losmachend, »ich kann meine Meinung nicht ändern, kann nicht für weiß halten, was schwarz ist. Du kannst es nicht wissen, wie er sich an mir vergangen, wie er mich beleidigt, wie er all' die Opfer, die ich ihm gebracht habe, mit Undank gelohnt hat. Du thust mir auch leid, denn es ist sehr demüthigend, seinen Vater nicht achten zu können –«

»O,« unterbrach sie Flora, rasch aufstehend, »ich achte meinen Vater, von ganzem Herzen achte ich ihn!«

»Nun, da brichst Du Dir selber den Stab, wenn Du ihn achten kannst,« sagte Frau Artefeld hart.

»Du wirst ihn auch wieder achten, wirst ihm wenigstens verzeihen, wenn Dein Zorn vorüber ist,« wagte Flora schüchtern zu entgegnen.

»Nein, das werde ich nicht,« versicherte sie, »lieber würde ich nie wieder ein Wort sprechen, als das der Verzeihung für sein schmachvolles Benehmen. Solche Dinge, wie er sie gethan hat, sind nicht zu vergessen und zu vergeben, und ich will auch nichts mehr darüber hören. Ich verbiete Dir, auch nur seinen Namen je wieder vor mir zu nennen.«

»Dann werde ich Dein Haus verlassen müssen,« sagte Flora leise, aber bestimmt.

Frau Artefeld stutzte, dann aber entgegnete sie:

»Du hast recht, ich glaube, es wird das Beste für uns Beide sein. Ich werde Dich deshalb nicht verlassen, Du kannst auf eine Unterstützung rechnen, theile mir nur mit, wohin ich sie Dir zu senden habe.«

Flora schüttelte den Kopf.

»Du kannst mir nur Eins geben, was Werth für mich hätte, Verzeihung für meinen Vater, für das Unrecht, das er gethan, Zurücknahme der schmählichen Beschuldigungen, die Du mit Unrecht auf sein Haupt häufest.«

»Soll ich sie nennen?« fragte Frau Artefeld höhnend.

»O nein, um Gottes willen nein!« rief Flora rasch aus.

»Siehst Du, wie überzeugt Du von Deines Vaters Unschuld bist!« war Frau Artefeld grausam genug zu sagen.

Ein Thränenstrom war die einzige Antwort, und ohne eine weitere Entgegnung verließ Flora das Zimmer. Sie hatte ihren Entschluß gefaßt und eilte, das Nöthige zur Ausführung desselben zu thun, ehe sie Elisabeth mit demselben bekannt machen wollte, denn sie vermied Alles, was sie in ihrem Vorsatz hätte erschüttern können.

Sie nahm Hut und Mantel und ging zu Dorothee König. Die Alte empfing sie mit offenen Armen, sie hatte sie seit dem Tode ihres Vaters noch nicht gesehen. Der Schreck über den Unglücksfall, den auftauchende Gerüchte allerdings mit einer vorangegangenen heftigen Scene in Verbindung brachten, die er mit seiner Frau gehabt haben sollte, hatte sie krank gemacht und ihr so die Möglichkeit genommen, der armen Flora ihr Beileid auszusprechen. So hatte sie ihr wenigstens sagen lassen, sich selbst vielleicht kaum eingestehend, daß ihr Kranksein sowohl, wie ihre Scheu, das Mädchen wiederzusehen, noch anderen Ursachen zuzuschreiben war. Das war jedoch Alles vergessen, als der Anblick der Trauernden sie zu nichts Anderem aufrief, als zu Aeußerungen innigster Theilnahme.

Flora unterbrach jedoch die Klagen der Alten.

»Du mußt mir jetzt mit Rath und That beistehen, liebe Dorothee,« sagte sie bittend, »ich habe immer so gedankenlos gelebt und nicht für den nächsten Tag gesorgt, und nun bin ich auf einmal auf mich selbst verwiesen und muß mich erst darin üben, auf eigene Hand zu leben. Ich kann bei der Mutter nicht bleiben, ich will sogar morgen schon fort, so weh mir's thut, Elisabeth zu verlassen, meinen kleinen Georg vielleicht nicht wiederzusehen, von all' den guten Leuten im Hause zu scheiden. Es geht aber nicht anders, und Du mußt nicht fragen warum. Ich will auch nicht hier am Orte bleiben, denn mehr als durchaus nöthig muß man den Leuten nicht zu reden geben, und es wäre gar so auffallend, lebte ich mit der Mutter an einem Orte und nicht in einem Hause. Sie werden sich schon wundern, daß ich sie verlassen kann.«

»Darüber wird sich Niemand wundern,« unterbrach Dorothee die Redende, »Du kannst es glauben, mein Kind, unter hundert Leuten, die Deine Mutter kennen, würden sich vielleicht nicht zwei freiwillig entschließen, in ihrem, Hause zu leben.«

Flora lächelte trübselig.

»Ich würde nicht gehen,« sagte sie, »aber ein Unglück, das man nicht gemeinschaftlich tragen kann, wirkt trennender noch als eine Freude, die man nicht theilen will. Ich weiß im Augenblick noch nicht,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »wo und wie ich künftig leben will, ich muß das erst bedenken. Nimmst Du mich einstweilen bei Dir auf?«

»O mein Kind, so lange Du willst! Du nimmst mir eine Last vom Herzen, wenn Du mich etwas für Dich thun läßt; wann willst Du kommen, heute? morgen?«

»Morgen, wenn Du erlaubst,« sagte Flora gerührt.

Sie trafen noch einige Verabredungen, dann ging Flora wieder, und Dorothee setzte sich hin, an Herrn Richter zu schreiben, dem sie fest versprochen hatte, ihn von jeder Wendung in Flora's Schicksal augenblicklich zu benachrichtigen.

 

Elisabeth verfiel in die tiefste Niedergeschlagenheit, als sie Flora's Entschluß hörte.

»Ich kann es Dir nicht verdenken,« sagte sie, »aber was soll aus mir werden? Wenn Georg sterben sollte; ist Niemand mehr im Hause, der ein freundliches oder frohes Gesicht hätte. Wie ist das zu ertragen? Dorn hat sich auch zurückgezogen, und doch wäre jetzt gerade ein Augenblick, in dem sich Liebe bewähren könnte, wenn er wirklich Liebe für mich fühlte. Ich will ihn aber auch vergessen und mich um keines Menschen Liebe weiter kümmern.«

Die ganze Nacht blieben die beiden Mädchen mit einander auf. Sie hatten noch so Vieles zu besprechen, so manche bisher verborgene Seite des Herzens zu enthüllen. Aus Flora's klarem Gemüth fiel mancher Lichtfunke hinein in Elisabeth's verschlossene Seele, ging aber einstweilen noch in Dunst und Nebel unter.

 

Ein jedes Mädchen in Elisabeth's Alter steht wohl noch unfertig dem Leben gegenüber, aber sie war auch noch unklar über dies einzuschlagende Richtung. Sie hatte unter dem Drucke der Mutter so mechanisch fortgelebt, fast ohne ein anderes Ziel für die Zukunft als das: in ferner Zeit vielleicht einmal thun zu können, was sie wolle, daß sie kaum daran gedacht, ihre Seelenkräfte schon für die Gegenwart anzuspannen. Den ersten Strahl bewußteren Lebens warf Flora in ihre Seele. Mit aller Exaltation leidenschaftlicher, aber unterdrückter Gefühle gab sich Elisabeth der Freundschaft für die neue Schwester hin, in Liedern und Gedanken derselben huldigend, bis Dorn's Erscheinen den Strom der Empfindung in eine neue Bahn lenkte.

Elisabeth machte alle Extasen einer ersten, feurigen Jugendliebe durch; aus der früheren unklaren Sehnsucht nach Freiheit wurde ein Streben, ein Ringen und Schmachten nach Glück, wie nur ein Herz es empfinden kann, dem man künstlich alle Quellen innerer und äußerer Befriedigung verschlossen hatte. Und nun auf einmal drohte auch dies Ziel zu versinken. Dorn war seit jenem unvergeßlichen Abend, wo für einen kurzen Augenblick beides, Freiheit und Glück die goldenen Flügel vor ihr ausgebreitet hatten, wie verschollen. Sie hörte nichts von ihm, sie sah ihn nicht mehr; in dem Garten von Lisettens Vater schienen alle Blumen mit einem Male verblüht, keine duftige Gabe überraschte sie mehr und rief ihr einen Morgengruß der Liebe entgegen.

Wie sollte sie sich das erklären? Sie war gekränkt, erbittert, zum Tode betrübt, aber sie verschloß alle diese Gefühle in sich. Sie wollte gleichgültig sein oder doch scheinen.

In diesem Sinne wies sie auch Flora's Trostgründe zurück und schnitt jede weitere Erläuterung über diesen Punkt ab.

 

Am nächsten Tage verließ Flora das Haus.

»Wenn Du Deine Gefühle nicht über die aller anderen Menschen stelltest, würdest Du nicht gehen,« sagte Frau Artefeld, als sie Abschied nahm. »Vergiß wenigstens nicht, daß die Trennung von Dir ausgeht, ich hatte mich gerüstet, die fatalen Erinnerungen zu ertragen, die sich, ohne daß Du schuld daran bist, für mich an Deinen Anblick knüpfen müssen.«

»Liebe Mutter,« sagte Flora sanft, »ich wüßte, wie alle diese Erinnerungen zu bekämpfen, wie ich für immer in tiefer Dankbarkeit an Dich zu fesseln wäre: lege einen Kranz auf meines Vaters Grab!«

»Lebe wohl,« sagte Frau Artefeld statt aller Antwort, reichte ihr die Hand und verließ das Zimmer. –

 

So ganz recht hatte die alte Dorothee nicht gehabt, als sie meinte, Flora's Scheiden aus dem Hause der Stiefmutter würde keiner falschen Auslegung ausgesetzt sein. Allerdings waren unter hundert Leuten kaum zwei, die es nicht für eine sehr schwierige Aufgabe, ja für unerträglich gehalten hätten, in Abhängigkeit von einer so herrschsüchtigen Frau leben zu müssen, aber ebenso gab es kaum zwei, die nicht der Ansicht waren, es zu ertragen wäre Flora's Pflicht, eine Pflicht der Pietät für ihren Vater gewesen, und die das Mädchen dieses schnellen Scheidens wegen nicht für egoistisch und herzlos erklärt hätten, obgleich ihr ganzes Wesen diesem harten Urtheil widersprach.

Zum Glück erfuhr sie nichts von dem Tadel, den man ihrem Unglück hinzuzufügen nicht anstand, und selbst zu der alten Dorothee drang er nicht, da diese, sonst zur Anhörung jedes Geschwätzes bereit, doch jetzt eine seltsame Scheu vor all' den Unterhaltungen zu haben schien, die Licht über das Leben und Treiben ihrer Mitmenschen zu werfen geeignet waren. Flora's Anwesenheit in ihrem Hause diente ihr als Grund tiefster Zurückgezogenheit, und so vergingen die Tage in einer Stille und Ruhe, die dem Gemüth der Trauernden unendlich wohlthätig war, obgleich sie so langsam dahin zu schleichen schienen, daß die Woche, die sie von ihrer letzten Heimath trennte, ihr fast so lang wie ein Jahr vorkam.

Und dennoch enthielt sie nichts an Ereignissen. Elisabeth kam täglich, früh und spät. Es brauchte und vermißte sie ja im Hause Keiner. Auch dort beruhigten sich allmählich die Stürme. Georg's Krankheit fing an zu weichen. Das Fieber ließ nach, mit ihm die Gefahr, aber er war noch so schwach, daß er nicht nach Unterhaltung verlangte und somit Elisabeth's Gegenwart auch von ihm nicht in Anspruch genommen wurde. Von Dorn hatte sie in der ganzen Zeit nichts gehört und gesehen.

Da fand sie eines Tages wieder einmal einen Blumenstrauß an ihrem Fenster, aber als sie jubelnd auf denselben zueilte, ihn an's Herz, an die Lippen drückte, fiel ein Zettel ihr daraus entgegen, und das: »Lebe wohl für immer!« das auf demselben stand, verwandelte ihre Freude in die tiefste Bestürzung. Sie brachte den Strauß, den Zettel der Schwester.

»Er hat es nicht ehrlich gemeint,« sagte sie mit verbissenem Schmerz, »er verläßt mich im Unglück. Das ist das Ende meines Romans, Gott gebe dem Deinen einen bessern Schluß.«

 

Der Schluß war näher, als sie Beide es dachten. An einem der nächsten Tage trat auf einmal Herr Richter in Flora's Zimmer. Ihre erste Empfindung war Ueberraschung, die zweite eine eben so innige als sich leise äußernde Freude. Sie sprach sie mit keinem Worte aus, aber zum ersten Male seit dem Tode ihres Vaters nahm ihr Gesicht wieder den Ausdruck stiller Zufriedenheit an, der sonst die reizlosen Züge desselben so angenehm anzuschauen machte.

»Fräulein Florchen,« sagte Richter nach der ersten Begrüßung, »ich komme, mir Ihre Hülfe zu holen, ich kann nicht fertig werden ohne Sie. Meine ehemalige Wohnung, die, seit ich fortgehen mußte, vermiethet gewesen, habe ich wieder bezogen, aber es ist gar nicht dieselbe mehr: obgleich ich die Kinder wieder bei mir habe, fehlt doch überall etwas. Ich habe so viel zu thun, mein Geschäft wieder einzurichten, da kann ich mich um die Kinder so wenig bekümmern. Weiß Gott, ihr Geplapper erfreut mein Herz, und ich bin seelensfroh, daß ich's wieder hören kann, aber ich habe doch an ihnen noch kein Herz, das meine Sorgen und Freuden, noch keine Hände, die meine Arbeit theilen können. Ich bin verloren ohne Sie. Sie müssen mit mir kommen!«

Flora sah ihn forschend an.

»Woher wissen Sie denn, daß ich schon jetzt keine Heimath mehr habe?« fragte sie statt aller Antwort.

»Das habe ich ihm geschrieben,« fiel Dorothee ein, »sei nicht böse deshalb, Kind. Es ist nicht der schlimmste Brief, den ich geschrieben habe. Gott lasse aus diesem so viel Gutes entstehen, als aus einem andern Schlimmes entstand,« murmelte sie leise für sich weiter und ging dann fort, die Beiden allein zu lassen.

Sie hätte es nicht nöthig gehabt. Es wurden keine Liebesworte. gewechselt, bei denen die Anwesenheit eines Dritten störend ist, Flora war noch viel zu niedergedrückt oder vielmehr zu ernst, Richter zu zartfühlend dazu. Es ist ja auch etwas Anderes, ob ein Mädchen in die lachenden Illusionen hineingerissen wird, mit denen Liebe die Zukunft schmückt, oder ob ein Vater um ein Herz für seine Kinder bittet, ob er mit dem vollen Bewußtsein, daß diese Gabe mit Mühen und Sorgen so gut, wie mit Freude und Glück verbunden ist, sie dennoch fordert und sein unbegrenztes Vertrauen als Dank dafür einsetzt. Bei einer solchen Werbung muß die Selbstsuchtslosigkeit der Liebe in den Vordergrund treten. Es ist nicht Herz für Herz, die im Tausch klar gegen einander stehen, es sind getheilte Herzen, die aber gerade in ihren einzelnen Theilen so innig mit einander verbunden werden müssen, daß sie dennoch ein Ganzes bleiben. Es ist ein Band, dem Eifersucht so fern bleiben muß als Egoismus, ein Glück, das nicht feindselig kämpfen darf mit Erinnerungen, eine Pflicht, die nicht neue Verhältnisse zu schaffen, sondern sich in schon vorhandene zu fügen, sie zu erhalten und, wenn es nöthig ist, sie zu verbessern hat.

»Nicht wahr, Florchen?« fragte Richter, nachdem er ihr klar seine augenblickliche äußere Lage, die Ansprüche derselben an Arbeit und Einschränkung, sowie seine bestimmten Erwartungen sichern Erfolges auseinandergesetzt, »nicht wahr, Ihnen wird's nicht schwer werden, fremde Kinder zu lieben?«

»Ach,« sagte sie, »ich weiß gar nicht, wie man Kinder nicht lieb haben kann!«

»Und Sie werden auch nicht verlangen, daß ich mein erstes Frauchen vergesse?« fragte er zögernd, als fürchte er, und eigentlich mit Recht, es könne in dieser Frage eine Beleidigung für des Mädchens gesunde Auffassung liegen.

Sie gab ihm nur die Hand, sie antwortete gar nicht weiter.

Dann sprach Richter seine weiteren Wünsche und Absichten aus. Er machte ihr den Vorschlag, sich an einem der nächsten Tage ganz still mit ihr trauen zu lassen und ihm dann gleich in seine Heimath zu folgen. Er fragte sie, wozu der Aufschub nützen solle, der nur die unnatürliche Stellung, in der sie sich befände, verlängere, ohne weder für sie noch für irgend Jemand ersprießlich zu sein. Er meinte, sie würden allerdings das Andenken ihres Vaters beleidigen, wenn sie an seinem Grabe ein fröhliches Fest begehen wollten, ihre Hochzeit würde ja nur eine ernste kirchliche Feier und ihres Vaters Geist gewiß dabei sein, wenn sie bei seiner Ehre und seinem Andenken Gott gelobten, an seinen Hingang die Auferstehung eines schönen, tiefen Glücks zu knüpfen. Er sprach so warm, so einfach und herzlich, seine Worte mußten sie überzeugen, sie gab ihm Vollmacht, Alles nach seinem Ermessen anzuordnen, und erklärte sich bereit, ihm an jedem Tage, den er bestimmen würde, in seine Heimath zu folgen.

So fand denn, nach Erfüllung aller nöthigen Formalitäten, die Trauung schon in der nächsten Zeit in aller Stille, nur vor den nothwendigen Zeugen statt, und unmittelbar nach derselben trat das neue Paar die Reise an.

Elisabeth hatte der Trauung nicht beiwohnen dürfen. Frau Artefeld fand die Heirath höchst abgeschmackt, die eilige Vollstreckung derselben unpassend, ja, sie sah in Flora's Wahl eigentlich eine Feindseligkeit gegen sich, da Herr Richter von ihr in Ungnade entlassen worden war. Sie wollte Nichts thun, was eine Zustimmung ihrerseits ausdrücken könnte. Sie war eben so wenig zu bewegen, Flora noch einmal zu sehen, sie erlaubte auch nicht, daß diese von Georg Abschied nahm, des Kindes angegriffener Zustand diente ihr als Grund ihrer bestimmten Weigerung.

Auf diese Weise mischte sich in den tiefen Ernst, mit dem Flora ihren neuen Lebensabschnitt antrat, auch manch' kränkendes Gefühl. Es schwand, als sie, am Arm ihres Mannes aus der Kirche kommend, den alten Gebhard, Lisette, Elisabeth an dem sie dort erwartenden Reisewagen stehen sah.

»Denkst Du, ich würde Dich reisen lassen, ohne Dich noch einmal zu sehen?« flüsterte ihr Elisabeth zu. »In die Kirche zu kommen wagte ich nicht, da die Mutter es verboten hatte; sie hätte es zu leicht erfahren können, aber diesen Augenblick wird sie mich nicht vermissen.«

Es war aber auch wirklich nur ein flüchtiges Sehen, weiter nichts, der Kutscher trieb zur Eile, sollte der Anschluß an die Post in der nächsten kleinen Stadt nicht verfehlt werden, zudem fing, trotz der frühen Stunde, die Straße schon an lebhaft zu werden.

»Steig ein, Frauchen, steig ein,« drängte Richter.

Flora riß sich mit raschem Entschluß aus Elisabeth's umschlingenden Armen. Lisette küßte ihr die Hände, Gebhard holte ganz verschämt einen prachtvollen Blumenstrauß hervor und reichte ihn ihr in den Wagen nach.

»Sorge für meine arme Elisabeth,« bat Flora die alte Dorothee »Verlasse sie nicht!«

Die Alte nickte nur, dann rollte der Wagen fort; noch einmal bogen sich Flora und Richter hinaus, ehe er um die Ecke bog.

»Ich Glückspilz von einem Männchen!« sagte Richter dann aus vollem Herzen, »Gott, hilf mir nur, daß ich das Danken nie vergesse.« –

 

Flora war nur erst wenige Monate verheirathet, als ein Brief Elisabeth's ihr die Nachricht von der Verlobung derselben mit Moritz Eisenhart brachte.

»Ich bin natürlich nicht gefragt worden,« schrieb Elisabeth unter Anderm, »die Mutter hat mich verlobt, und damit war es gut. Es ist mir aber auch ganz gleich, und ich heirathe Moritz Eisenhart eben so gern oder ungern wie jeden Andern. Glücklich bin ich in meinem ganzen Leben nur einmal gewesen; was sage ich, glücklich? Das Wort ist viel zu arm, die himmelschwebende Seligkeit auszudrücken, die ich damals empfand und die doch auch nur weggeworfen war. Ich habe bei meiner bevorstehenden Heirath nur den einen Gedanken, und das ist der, daß sie mich aus dem Hause entfernt. Moritz ist, glaube ich, ein gutmüthiger Mensch, und wenn sich seine jetzige Verliebtheit, durch die er sich mir sehr lästig macht, abgekühlt haben wird, so denke ich, werden wir vielleicht ganz angenehm mit einander leben können. Sie sagen Alle, ich würde eine reiche Frau werden, und der Reichthum macht ja glücklich, wie ich es bei uns im Hause gesehen habe.

Hier bei uns muß den goldenen Ketten etwas fehlen, sie fesseln Niemand. Richard zerriß sie, Du auch, ich gehe, so wie man sie mir abnimmt, gleichviel wohin, es bleibt nur Georg übrig, sie ganz allein zu tragen. Der arme kleine Schelm! Noch bin ich zwar nicht sicher, ob ihm nicht Engel die Fesseln lösen werden. Er erholt sich gar zu langsam. Der Fuß ist zwar geheilt, aber der Kleine ist noch so nervenschwach, daß er nur erst stundenweise am Tage aufzubleiben vermag. Sein sonst so frisches Gesichtchen sieht aus wie eine welke Blumenknospe. Gott gebe, daß der Himmel sie nicht auf Deines Vaters Grab weht zur Sühne für den ihm versagten Kranz. Das Kind ist übrigens so sanft und geduldig wie ein Lamm, und es glückt der Mutter nicht, es unfreundlich zu machen und den Reichthum an Liebe, der in dem kleinen Herzen ist, für sich allein auszubeuten. Sie wird allein mit ihm bleiben müssen, um ihn auch allein zu besitzen. Viele andere Gesichter bekommt er schon jetzt nicht zu sehen. Kinder seines Alters kommen nicht gern, wie Du weißt, denn die sind meist furchtsam, und wer es nicht ist, muß es unter dem unheimlichen, strengen Blick gewisser Augen werden. So bleibt Victor, obgleich er fast noch einmal so alt als Georg, doch sein bester Gefährte.

Jetzt, wo er noch zu schwach ist, an Spielen Gefallen zu finden, muß Victor's Violine die Unterhaltung machen. Georg findet so viel Freude daran, und weißt Du, ich muß manchmal gehen und mir die Augen trocknen, denn die Violine erzählt so rührende und fröhliche Kindergeschichten, daß mir das Herz brechen möchte, daß ich nie ein Kind gewesen bin und auch nie eins werden kann, denn Kinder, wirkliche Kinder sind glücklich. –

Was sagst Du dazu, daß die alte Dorothee mich begleiten wird? Es war schon früher davon die Rede, daß Victor ganz zu Herrn Wagner in Pension kommen sollte, weil Knaben doch immer besser von Männern erzogen werden und es um diese Künstlernatur ewig schade wäre, würde sie von einer alten Jungfer verpfuscht. Herr Wagner dringt ernstlich darauf, Dorothee behauptet, der Pension wegen, die die Mutter bezahlen will, ich glaube aber, dem alten Manne gilt der Zauberton aus Victor's Geige mehr als der Klang des Goldes. Genug aber, Dorothee, die sich sonst immer gesträubt, den Knaben fortzugeben, macht jetzt selbst den Vorschlag und bot mir dann an, mich zu begleiten als erste Dienerin, als Gehülfin in der Wirthschaft, kurz als irgend etwas. Es muß ihr Unangenehmes widerfahren sein, sie sagt nicht was, aber sie sagte, der Boden brenne ihr unter den Füßen, sie möchte fort. So geht's mir ja auch, mir brennt auch der Boden unter den Füßen, und ich will fort, sei's auch an Moritz Eisenhart's Hand.

Moritz hat nichts dagegen, daß Dorothee mitgeht, und die Mutter sagt, in seine Haushaltung wolle sie sich nicht mischen, da könne er sich einrichten wie er wolle. Moritz ist aber ein sehr praktischer und sparsamer Mensch, und Dorothee behält ihre Pension und nimmt nichts. Da setzte er mir denn auseinander, daß sie ihm nicht mehr als den Unterhalt kosten und eine andere Dienerin ersparen würde. O, wir führen kostbare Gespräche über unser künftiges billiges Leben, wir glückliches Brautpaar!

›Am Himmel die Sterne sind untergegangen,
Im Herzen gestorben das heiße Verlangen
Nach ihrem goldnen, lachenden Schein!
Dahin jede Seligkeit, jedes Entzücken;
Nun schau' ich mit leeren, nüchternen Blicken
In ärmliches Küchenfeuer hinein!‹«

Auf diesen letzten Klageruf antwortete Flora:

»Schilt mir das Küchenfeuer nicht. Es bedeutet irdische Wohlfahrt, wie das Sternenlicht himmlische. Irdische Wohlfahrt jeder Art aber, die wir verbreiten können, ist eine Flamme, die leuchtet und wärmt zugleich. Und wenn das Licht auch vom Herde ausgeht, es macht doch das Haus hell, und in einem hellen Hause muß man Jedem ein Plätzchen geben können, das ihm gefällt. Wo sich Andere aber unsertwegen gefallen, da gefällt es uns zuletzt auch, und da leuchten auch die Himmelslichter hin, die eine goldene Krone über unserm Haupte bilden, und nehmen den Weihrauch in Empfang, der auch von dem bescheidensten Herde ihnen ein Dankopfer für irdisches Glück darbringen kann.«

»Sie hat eben nicht meine Erfahrungen gemacht,« sagte Elisabeth, als sie das Blatt aus der Hand legte.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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