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Viertes Capitel.


Die Krähwinkler in der Stadt, und jede, auch die größte, hat ihre Colonie dieser respectabeln Leute, die sich in alle Klassen und Kreise der Bevölkerung drängen, hatten im Lauf der nächsten vier Wochen gar gute Tage und konnten gewiß sein, daß man sie da, wo man sie, überhaupt aufnahm, mit freundlichem Gesicht empfangen würde. Es giebt gar zu viel Leute, die gern einmal etwas vom lieben Nächsten erfahren, gern einmal ein Wörtchen über ihn sprechen, und eben so Viele, die es für ein Zeichen besonderer Begabtheit halten, Alles zu wissen, über Alles die erste und genaueste Auskunft geben zu können, die keine falsche oder wahre Nachricht, oft dem innersten Familienleben abgelauscht, in die Welt schicken, ohne sich mit einer Art Stolz auf die »sichere Quelle«, aus der sie schöpfen, zu berufen, und dabei vergessen, wie unlauter meist diese sichere Quelle ist, wie häufig sie in den obscursten Räumen des Hauses, in den Domestikenzimmern Ursprung und Nahrung findet.

Man meint, diese Sucht, sich um das Thun und Treiben seiner Mitmenschen zu kümmern, es zum Inhalt öffentlicher wie vertraulicher Gespräche zu machen, sei besonders in kleinen Städten heimisch, und sucht einen Grund dafür in der größeren Abgeschlossenheit von der Welt, der Schwierigkeit, sich vielseitige geistige Genüsse zu verschaffen, und dem Streben, das Einerlei des Lebens durch irgend etwas zu unterbrechen. Man mag recht haben, die Versuchung ist da. Wer zu träg ist oder zu gleichgültig oder zu beschränkt, um geistige Ausflüge in die Welt zu wagen, und dennoch nicht einschlafen will, der sieht eben, was er in der Nähe findet, und was ist denn näher als der liebe Nächste?

Man mag also recht haben, den Begriff Kleinstädter auch durch diese, wie durch manche andere Eigenthümlichkeit zu definiren. Es sind doch Alles nur Symptome einer und derselben Krankheit, die, über die ganze Welt verbreitet, nur in kleinen Städten deshalb gefährlicher wirkt, weil sie da leicht Epidemie wird und oft ganz Gesunde ansteckt.

Das schlimmste Symptom der Krankheit bleibt freilich immer die Klatscherei, aber der giftige Hauch derselben entströmt auch einer Schmarotzerpflanze, die, wenn sie auch der günstigen Bodenverhältnisse halber am besten in eng eingeschlossenem Raume gedeiht, doch auch auf manchem weiten und freien Felde mit Glück angebaut wird.

Medisance, Moquerie, die echten Salonblüthen großstädtischer Gesellschaftskreise, entfernen sich nicht weit vom mütterlichen Stamm und beweisen nur eine raffinirtere Cultur. Der fremdartig, also vornehmer klingende Name ändert an der Sache eben nicht viel.

Wer sich um den lieben Nächsten bekümmert aus anderen Gründen und Absichten als denen der Nächstenliebe, ist und bleibt ein Kleinstädter in der schlimmsten Bedeutung des Wortes, gleichviel in welcher Residenz er lebt, gleichviel ob der liebe Nächste ein Graf oder ein Bürstenbinder ist.

Für den Forschungstrieb der Krähwinkler in der schlesischen Hauptstadt, für ihren Spüreifer floß nun seit längerer Zeit schon ein ergiebiger Quell in dem Artefeld'schen Hause, und die Abgeschlossenheit der Herrin desselben verstärkte nur den Amtseifer der Schaar. Bei allen kleinen und großen Zusammenkünften der Verbrüderung machte der Giftbecher die Runde, aber ihnen selbst ging der Trank nicht an's Leben, er erhitzte nur die Phantasie bis zu geistigen Mordversuchen, von denen sie jedoch in ihrem Delirium nichts ahnten.

Die guten und klugen Leute hatten zur Zeit genau gewußt, warum Richard das elterliche Haus verlassen, obgleich die Angehörigen des armen Knaben nie ein Wort darüber verloren hatten, ihr Wissen also auch nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmte. Sie hatten längst bedenkliche Mienen zu dem freundschaftlichen Verkehr der reichen und immer noch hübschen Wittwe und ihres gleichfalls ledigen und wahrscheinlich auch reichen Schwagers gemacht, die vielverbrauchte Ansicht wiederholend, daß wer Viel habe, doch immer noch mehr verlange. Als die Nachricht von der plötzlichen Entlassung des alten Dieners in ihre Kreise drang, wurde das Kopfschütteln noch bedeutungsvoller, aber ein wahrer Sturm brach los, als die Bekanntmachung von der Verlobung Frau Artefeld's und ihres Schwagers gleichsam den Schlußstein der langen Kette auffallender Ereignisse bildete.

Ueberrascht waren die Leute – wir sprechen immer nur von der einen besondern Klasse – natürlich nicht. Wer, der einigermaßen Einsicht und Verstand hat, wird sich denn durch eine Verlobung überraschen lassen, wer wird nicht an die aufblühende Jugend eines Mädchens, an die gesicherte Lebensstellung eines jungen Mannes, an die schwierigen Verhältnisse eines mit Kindern gesegneten Wittwers oder die Herzenseinsamkeit einer trauernden Wittwe so viel Combinationen für eine erste oder neu einzugehende Verbindung knüpfen, daß es sonderbar sein müßte, wenn nicht eine derselben zur Wahrheit würde und ihren Erfinder mit allem Ruhm hellsehender Voraussicht krönte!

Ueberrascht wurden durch die Verlobung eigentlich nur diejenigen, die dem Brautpaar am allernächsten standen: Flora und Elisabeth, und die wenigen Bekannten, die zu Frau Artefeld's näherem Umgang gehörten und also aus leicht faßlichen Gründen von der Mittheilungssucht jener scharfsinnigen Geheimnißforscher verschont blieben. Sie, die zuweilen Theil an dem freundschaftlichen Verkehr der beiden Verwandten genommen, hatten nie etwas Auffallendes darin gesehen und also auch nie Schlüsse daraus gezogen; es war ihnen nie eingefallen, daß die willenskräftige, selbstbewußte Frau je daran denken könnte, einen Theil ihrer Selbstständigkeit aufzugeben, noch weniger hatten sie vermuthet, daß eine zärtliche Rückerinnerung an ein in der Jugend zerrissenes, wohlbekanntes Verhältniß den Entschluß, zu einer zweiten Ehe zu schreiten, in dem aller Sentimentalität fremden Gemüth der Kaufmannsfrau hervorrufen würde. Sie waren also wirklich überrascht, aber was ging auch sie das Motiv an, wenn die Thatsache sich durch sich selbst rechtfertigte.

Zu ihnen sagte Frau Artefeld:

»Mein Schwager besitzt mein Vertrauen und meine Achtung, deshalb heirathe ich ihn.«

Diese einfache Erklärung, die in dem Munde eines siebzehnjährigen Mädchens Blasphemie gewesen, schien ihnen in dem Munde einer Frau ihres Alters und Charakters ein genügender Beweis, daß ein reiflich überlegter Entschluß nun auch mit aller Zuversicht eines glücklichen Erfolges ausgeführt werden würde.

Wer blickt denn überhaupt so tief in eine Menschenseele hinein, um die innersten Gedanken derselben zu durchschauen, die Räthsel zu lösen, die ihr selbst oft unverständlich sind, die rasch wechselnden Empfindungen, die tausend kleinen geheimen Triebfedern, die häufig einander widersprechenden Regungen, aus denen Thaten geboren werden, so klar zu durchschauen, daß die That selbst uns keinen Ruf der Ueberraschung entlockt? Wer, der an seine nicht zu täuschende Einsicht glaubt, würde nicht oft zum Narren seiner eigenen Weisheit werden, hätte er nur so viel Erkenntniß und Wahrheitsliebe, seine Narrheit einzusehen und sie sich einzugestehen.

Es ist nun einmal hergebracht in der Welt, daß man den Todten Lob in's Grab und den Lebenden Tadel auf den Weg streut. An einem blühenden, duftenden Rosenkranz sieht und empfindet man meist die Dornen erst, wenn die Rosen abgewelkt sind. Hier versucht man's zuweilen mit einem umgekehrten Experiment: man hält die Blumen zurück und spendet die Dornen, bis derjenige, den ihr Stachel verwundet, ausgelitten hat. Dann schmückt man zur Erinnerung der Liebe sein Grabkreuz mit den Rosen und freut sich, daß dem Ueberwinder nun wohl ist. Hat doch Keiner eine Mühe davon.

Es ist sonderbar, daß man nicht zugleich gegen Todte und Lebende gerecht sein kann, daß man dem Einen entziehen muß, was ein ganz richtiges Gefühl ehrfurchtsvoller Pietät uns dem Andern zu geben treibt. Noch schwerer möchte es zu erklären sein, warum das Füllhorn des Tadels geradezu ausgeschüttet wird, wenn es der Huldigung eines verlobten Paares gilt. Wahrhaftig, hätten nicht zwei Leute, die sich die Hand zum Gott geweihten Bunde reichen, meist Lieberes und Schöneres zu denken als an die unberufene Kritik, die keine Falte in ihrem Gesicht und Herzen, keine Thräne in ihrem Auge unbekrittelt läßt, die jedes längst verhallte, unvorsichtige Wort aus dem Schacht der Erinnerung hervorholt zum Zeugniß gegen das Bündniß der Liebe, sie müßten verzagen trotz ihres strahlenden Glückes, ihrer stillen Zuversicht, ihrer sichern Hoffnung auf die Zukunft.

Von strahlendem Glück spricht man nun allerdings bei älteren Leuten nicht mehr, und das schadet auch nichts und ist, richtig verstanden, durchaus keine Herabsetzung ihres Glückes überhaupt. Es thut ja der Sonne auch keinen Abbruch, wenn sie, am abendlichen Himmel herniedersinkend, nicht mehr Strahlen wirft, die das irdische Auge blenden. Die durch sie belebte und erwärmte Atmosphäre thut doch dem Herzen wohl, und der Blick nach Oben ist um so sicherer und klarer.

War es bei Frau Artefeld der Fall? Wer konnte es wissen. Es war Niemand an ihrem Verlobungstage zugegen. Sie hatte gewünscht, dies Fest vollständig in der Familie zu begehen. Gemeinschaftlich mit Philipp hatte sie die Ehepacten aufgesetzt, so gemeinschaftlich, wie sie Alles zu betreiben pflegte, das heißt, sie hatte die nöthigen Bestimmungen getroffen, zu denen sie seine Zustimmung in Anspruch nahm. Es war nicht ganz dem Gebrauch gemäß, die Angelegenheit schon vor der definitiven Verlobung zu erledigen, aber der Fall war ein anderer, und ein geschäftsmäßiges Uebereinkommen bedarf auch geschäftsmäßiger Formalitäten.

»Wir sind keine Kinder, wir müssen genau wissen, woran wir sind,« sagte sie zu Philipp, als sie ihm den Entwurf zu dem später gerichtlich festzusetzenden Document überreichte.

»Wozu das zwischen uns?« sagte er, es flüchtig überfliegend. Dennoch hatte er den Inhalt genau gefaßt. Frau Artefeld stellte ihr Glück sicher vor den Einwirkungen von Aeußerlichkeiten, und die große Frage über Mein und Dein sollte nie zur Streitfrage zwischen ihnen werden können.

Sie blieb Herrin und Verwalterin der Handlung und des Vermögens, es sich vorbehaltend, für den Fall ihres Todes ganz nach eigenem Ermessen über beides Bestimmung zu treffen. Um jeden künftigen Conflict zu vermeiden, machte sie es sich zur Bedingung, daß ihr künftiger Gemahl sein Vermögen, ganz abgesehen von dem größeren oder geringeren Betrag desselben, nicht in ihrem Geschäft zu vergrößern suche, ja, daß auch Flora's mütterliches Erbe, wie es jetzt war, in Staatspapieren angelegt bleibe. Sie sprach den großmüthigen Wunsch aus, er möge schon jetzt sein Recht an die Zinsen desselben aufgeben und sie zum Capital schlagen, um das Heirathsgut seiner Tochter zu vergrößern, und erbot sich diesen Ausfall in seinen Einkünften durch eine Jahresrente zu ersetzen, die fast der Höhe des Capitals gleichkam und den Anforderungen genügen konnte, die man an ihn als ihren Gemahl zu erheben berechtigt sein würde. Sie sicherte seine Existenz nach ihrem Tode in wahrhaft liberaler Weise durch eine ihm auf Lebenszeit auszuzahlende höchst anständige Rente, genug, sie that Alles, nur wies sie ihm nicht den Platz zu ihrer Rechten an.

»Wozu das zwischen uns?« wiederholte er, als er ihr das Blatt zurückgab, unter das er mit einem raschen Federzuge seinen Namen gesetzt hatte. »Du weißt, Deine Wünsche sind mir Befehl, und Deine Großmuth ist für mich außer Frage.«

Nach diesem schriftlichen Abkommen hatte sie jedoch noch verschiedene Bitten, die sie unmöglich in die Zahl gegenseitiger, gerichtlich einzugehender Verpflichtungen aufnehmen konnte. Sie wünschte, daß er seine bisherigen Geschäfte als Spediteur aufgebe; an sich ein so ehrenhafter Beruf wie jeder, der durch eigene Arbeit die Unabhängigkeit sichere, passe er doch nicht mehr für den Inhaber eines solchen Hauses, wie das ihrige sei.

»Inhaber – als Pensionär,« dachte Philipp Artefeld mit einem Zucken um seine Mundwinkel, das beinah wie ein spottendes Lächeln aussah.

»Wie Du es wünschest, meine Liebe,« erwiderte er, »aber ich verlange Ersatz, nicht für den Erwerb, der gering ist, sondern für die Arbeit, die ich nicht entbehren kann. Müßiggang ist aller Laster Anfang, wie Du weißt.«

Sie lächelte.

»An Arbeit soll es Dir nicht fehlen,« versicherte sie, »besonders, bis Herrn König's Stelle wieder ausgefüllt ist.«

»Apropos, Herr König!« fiel er rasch ein, »da hätte ich beinah eine Bitte meinerseits vergessen.« Er sagte nicht, daß Herr König selbst ihm diese Bitte soufflirt, daß er in seiner Gutmüthigkeit und gerührt von dem wehmüthigen Eifer des alten Mannes, seiner ehemaligen Herrin ebenso einen Ersatz, als einem Hülfsbedürftigen eine gesicherte Existenz zu schaffen, ihm aus vollem Herzen versprochen hatte, einen günstigen Moment zu benutzen, um Frau Artefeld dem Vorschlag geneigt zu machen. Erste Bedingung dabei war, Herrn König's Namen nicht zu nennen, sondern selbst als Supplikant aufzutreten.

»Ich weiß einen vortrefflichen Ersatz für den Buchhalter,« fuhr er fort, »einen armen Teufel von Banquerottirer, aber einen rechtschaffenen, grundehrlichen Mann, der dem Unglück und Betrug zum Opfer fiel, aber aus dem Schiffbruch seinen ehrlichen Namen gerettet hat. Nach allen über ihn eingeholten Nachrichten war er seinem Beruf vollständig gewachsen und steht seine Rechtlichkeit über allen Zweifel. Er ist im Augenblick nicht im Stande, wieder ein eigenes Geschäft zu beginnen, und hat sich an hiesige Freunde gewendet, mit der Bitte, ihn gelegentlich zu empfehlen.«

»Kennst Du ihn?« fragte sie, »daß Du Dich so warm für ihn verwendest?«

»Nicht persönlich,« erwiderte er, »nur durch die warme Empfehlung Solcher, die ihn kennen und auf deren Urtheil ich Gewicht legen kann. Ich gestehe, daß ich mich für ihn interessire. Er ist unglücklich, der arme Narr, und die Schilderung seines unverschuldeten Unglücks trifft mich gerade, nun ich an der Schwelle eines unverdienten Glückes stehe.«

»Du bist ein guter Mensch,« sagte Frau Artefeld freundlich.

»Ein abergläubischer Thor bin ich,« erwiderte er mit affectirtem Leichtsinn, »ich bilde mir ein, die Götter mit meinem Glück zu versöhnen, wenn ich ihnen mit einer guten Handlung dafür danke. Bah, eine gute Handlung nenne ich das, und doch kann die Güte hierbei nur von Dir ausgehen, und ich habe kein anderes Verdienst als das, Dir den dunkeln Fleck zu zeigen, wo Du einen Sonnenstrahl hinsenden kannst – meine Aufgabe auch für spätere Zeiten.«

Sie lächelte sichtlich geschmeichelt.

»Wird ein Mann, der schon selbstständig gewesen ist, sich fügen wollen?« fragte sie dann; »daß er es muß, versteht sich von selbst, aber ich mag nicht Jemand um mich leiden, der es unwillig thut.«

»Er soll der gutherzigste Mensch von der Welt sein,« versicherte er, »zudem ist er brodlos, ist Familienvater; wer ihm hilft, wird seine irdische Vorsehung sein.«

»Verheirathet?« fiel Frau Artefeld ein, »das paßt nicht; Du weißt, mein Buchhalter muß in dem Hause wohnen, zu dem er gehört, eine Familie nehme ich nicht darin auf.«

»Das wird auch nicht nöthig sein,« versicherte er, »der Mann ist Wittwer, er kann seine Kinder leicht zu Anderen in Kost geben«

»Wie heißt der Mann und wo ist er her?« unterbrach ihn Frau Artefeld.

»Er heißt Richter und ist, so viel ich weiß, aus Elbing,« antwortete Philipp.

»Gut, so müßte er seine Familie in Elbing lassen,« entschied Frau Artefeld. »Hier am Orte mag ich sie nicht, es geht sonst geradeso wie bei Herrn König, den ich, trotz seiner Wohnung im Hause, immer von der Schwester holen lassen mußte, wenn etwas Ungewöhnliches vorfiel. Er bildete sich zuletzt schon ein, es ginge nicht anders, als daß er jeden Abend den Thee bei ihr tränke. Alte treue Diener zu haben hat den Vortheil, daß man nicht bestohlen wird, aber man muß sich auch sehr vielen Prätensionen unterwerfen.«

»Das wirst Du bei diesem nicht zu befürchten haben,« bemerkte Philipp, »wenn die Menschen im Unglück sind, machen sie keine Prätensionen. Nur im Glück wird man übermüthig,« setzte er, einen seiner gewinnendsten Blicke auf sie richtend, rasch hinzu.

Wieder flog ein Lächeln über ihre Züge, diese erleuchtend, wie ein winterlicher Sonnenblick eine Schneelandschaft.

»Ich will es mir überlegen,« sagte sie, und einen Versuch machend, auch etwas Verbindliches zu sagen, fügte sie die Bemerkung hinzu, daß es ihr vorläufig lieber gewesen wäre, ihn, Philipp Artefeld, noch eine Weile zum Buchhalter zu haben.

»Laß mich Dein erster Buchhalter sein und bleiben, und den neuen Ankömmling den zweiten,« erwiderte der gefällige Schwager rasch, scheinbar nichts einwendend gegen eine Auffassung, die ihn, den künftigen Gemahl, aufs freundlichste zu verbinden glaubte, indem sie ihn der Ehre werth erklärte, der erste Diener seiner Frau zu werden.

»Also abgemacht, Herr Richter wird Buchhalter und ich darf ihm den Vorschlag machen lassen?« fragte Philipp, entschlossen, seine Absicht durchzusetzen, jetzt vielleicht weniger um Herrn König den Gefallen zu thun und einem armen Teufel zu helfen, als um zu versuchen, in wie weit der künftige Herr Diener sein müsse, um doch auch eine Hand an's Scepter der häuslichen Regierung zu halten.

»Ich kann mir die Seligkeit nicht anders denken,« fuhr er fort, »als »daß sie uns das himmlische Vorrecht gewährt, Glückliche zu machen. Du führst mich heute schon in diesen Himmel ein, nicht?«

Sie nickte überwunden und er wagte es, die Hand seiner Königin in so feuriger Weise zu küssen, daß sie wie ein junges Mädchen darüber erröthete.

Er verabschiedete sich mit einem Blick, in dem sich schon alle die, den kommenden feierlichen Augenblicken entsprechende Rührung vorbereitete; als er fort war, brach Frau Artefeld in Thränen aus. Sie stand also doch nicht ganz unbewegt an der Schwelle eines neuen Lebens, konnte sie auch nicht mehr jene glückseligen Mädchenthränen weinen, die Herzensbangigkeit und ahnungsreiches Hoffen dem Augen einer jungen Braut entlocken. Jene süßen Thränen hatte sie nie gekannt, und die Thränen zu weinen, zu denen ihr erstes Ehebündniß ihr damals warm fühlendes Herz hinriß, hatte sie sich nie gestattet. Das Opfer, das sie einst dem kindlichen Gehorsam gebracht, war mit aller Strenge vollzogen worden, und nicht die vergebliche Sehnsucht nach den unerfüllt gebliebenen Jugendhoffnungen hatte ihre Ehe zu einer so kalten, poesielosen gemacht; eben so wenig als sie jetzt Veranlassung einer so späten Erfüllung längst überwundener Wünsche war.

Nicht Viele mögen mit dem kurzen Mädchentraum der ersten Jugendliebe so schnell, so gründlich abzubrechen und auf dem umgestürzten Altar der Liebe so leicht den weltlichen des Ehrgeizes aufzurichten im Staude sein, als es der jungen, schönen Wendula, der vielbeneideten reichen Erbin einst gelungen war. Jedenfalls mußte sie damals schon dem Herzen nur ein untergeordnetes Recht zugestanden, mußte damals schon der Keim des starken Selbstbewußtseins in ihr gelegen haben, das sich freilich dem angelernten Gehorsam sclavisch unterwarf, aber, mit dem Aufhören der väterlichen Autorität dieser Pflicht entronnen, sich um so ungezügelter entwickelte und zu einer Selbstständigkeit wurde, die an rücksichtslose Willkür grenzte.

Daß eine solche Frau irgend eine Handlung aus Pietät für die Liebe begehen wird, ist nicht denkbar, und sie würde diejenigen verlacht haben, die bei ihrer Heirath ein solches Motiv vorausgesetzt hätten, und dennoch – welche klugen Berechnungen sie auch an ihr neues Bündniß knüpfte, wie sie ihres Schwagers hellen Kopf, seine Geschäftskenntniß, seinen Speculationsgeist schätzte und im Interesse ihres Hauses zu verwerthen dachte, welche tief versteckten Gedanken sie auch geleitet haben und wie hell und kalt die Flamme brennen mochte, an der Hymens Fackel entzündet wurde, ein Gefühl, das einmal Liebe gewesen, hat immer einen wenn auch noch so geringen Antheil an Unsterblichkeit. Gegen die Liebe führt nur Verachtung eine tödtliche Waffe. Haben wir zu dieser kein Recht, mögen wir immerhin die Liebe gestorben wähnen, sie ist nicht wirklich todt, sie hat eine unsterbliche Seele, und zu einem schöneren Dasein verklärt, wird uns der selige Geist umschweben und den unsern wecken und stärken zur richtigen Würdigung der Bedeutung des Lebens.

Zu den Stufen des Alters, auf dem alle die selbstgeschaffenen Götzen standen, zu denen die strenge, kaltherzige, ehrgeizige Frau in Andacht aufblickte, weil sie ihr Alle das eigene Antlitz wiederspiegelten, legte die in der Jugend entschlummerte und durch das Leben verleugnete Liebe doch leise ihren unsichtbaren Blumenstrauß, und dieser war's, den Frau Artefeld's Thränen benetzten.

 

Als Philipp mit Flora und Elisabeth zu der bezeichneten Stunde erschien, war von den Blumen wie von den Thränen jede Spur verwischt, und die mütterliche Umarmung, die beide Mädchen zu Schwestern weihte, war so gemessen, wie es zu dem schweren Seidenkleid der Dame paßte, das sie, der Feierlichkeit zu Ehren, angelegt hatte.

Nichtsdestoweniger waren beide Mädchen glücklich über das Ereigniß, Elisabeth, weil sie ihren künftigen Stiefvater und Flora zärtlich liebte, und Flora aus demselben Gefühl für die Freundin und weil sie die neue Mutter wenigstens nicht fürchtete. Ihr kam es zudem ganz reizend vor, ihre kleine, einsame Häuslichkeit mit der belebteren der Tante zu vertauschen, sie erfreute sich des Gedankens, nun künftig nicht nur Gast in dem glänzend eingerichteten Hause in der Stadt, in der anmuthigen Villa zu sein, sondern von nun an wirklich dazu zu gehören; eine Mutter, eine Schwester zu haben, sie, die so allein gestanden, und einen Bruder auch! Ja, Richard war nun ihr Bruder, war, was noch mehr bedeuten sollte, ihres Vaters Sohn. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß es nun der erste Beweis seines Herrenrechtes im Hause sein würde, den Sohn zurückzurufen. Ihre Freude sank allerdings, als sie, mit dem Vater allein, diesem ihre Hoffnung in Beziehung auf Richard mittheilte und von ihm mit einem hellen Lächeln zurückgewiesen wurde. Es that ihm jedoch sogleich, wieder leid, er küßte das Mädchen und sagte beschwichtigend:

»Gewiß, ich will thun, was ich kann, aber ich fürchte, ich werde in diesem Punkt wenig thun können. Wenn sich zwei ältere Leute heirathen, da ist von der besondern Autorität des Mannes wenig die Rede. Auch ist sie die Mutter, ich kann ihr das Recht nicht streitig machen, dem eigenen Sohne das Haus zu verschließen, ich kann ihn wider ihren Willen nicht zurückrufen. Ich kann nichts thun, als den Einfluß, den ich nach und nach zu erringen hoffe, zu seinen Gunsten anwenden. Das soll geschehen, duldet jedoch keine Einmischung. Du bist zudem ein täppisches kleines Ding und könntest in Deinem Eifer Alles verderben.«

Flora mußte sich seufzend bescheiden. Sie versprach dem Vater, sich künftighin jeder Anspielung auf den Gegenstand in Gegenwart der Mutter zu enthalten, und empfing dagegen seine Zusage, nach Kräften zu Richard's Gunsten zu wirken. Es war natürlich; daß Herr Artefeld im Lauf dieser Unterhaltung manche Andeutung über den seltsam schroffen, schwer zu behandelnden Charakter seiner Braut machte, Andeutungen, die seiner Tochter eigentlich nicht hätten auffallen sollen. Das gute, kleine Ding hatte sich aber nie viel mit Charakterstudien abgegeben; sie liebte die Menschen aus gutem Herzen, und aus diesem Quell floß auch ihr Urtheil über dieselben. Des Vaters Aussprüche in einem Augenblick, wo er sich mit dem Gegenstande seines Tadels verlobte, frappirten sie.

»Ich weiß wohl, daß die Tante streng gegen Richard war und es gegen Elisabeth ist, aber daß es so schwer wäre, mit ihr umzugehen, wie Du es sagst, Vater, habe ich nicht gedacht,« sagte sie seufzend.

»Schwer? O, mein Kind, man muß es sich nur leicht machen,« entgegnete er. »Manche Menschen lassen sich viel leichter in Thaten als in Worten widersprechen, und fängt man es geschickt genug an, sie zu überreden, daß sie uns zu den Thaten autorisirt, so läßt man sie herrschen und thut doch so ziemlich was man will. Das Leben ist eine Kunst, die nach allen Richtungen hin geübt sein will.«

»Heirathet man aber, um sich in der Kunst des Lebens zu üben, Vater?« fragte sie naiv.

Er lachte.

»Nein, aber man vervollkommnet sich unwillkürlich dabei in derselben,« entgegnete er, und da er die Gelegenheit für günstig hielt, benutzte er sie, der Tochter manchen guten Rath in Betreff ihres eigenen Verhaltens gegen die Stiefmutter zu geben, die, wie er meinte, in vielen Dingen zu beherrschen sein würde, wenn man ihr alle äußeren Ehren einer geborenen Herrscherin willig einräume.

»Ich selbst,« schloß der Vater seine Rede, »lege wenig Werth auf äußere Kundgebungen der Achtung, bin mit den Formen, die Deine Liebe findet, so zufrieden, daß ich mich weiter nicht darum kümmere, ob sie allgemeinen Geboten der Convenienz entsprechen. Deine künftige Mutter ist förmlicher. Es ist einmal ihre Eigenthümlichkeit, wir müssen sie achten. Es hat ja mit dem Charakter weiter nichts zu tun.«

»Doch, doch,« entgegnete Flora leise.

Ihr Verständniß war nun auf einmal geweckt.

»Füge Dich in sie, mir zu Liebe,« bat der Vater.

Sie flog ihm um den Hals.

»O, gern, gern!« versicherte sie, »ich will Alles thun, es soll mir auch nicht schwer werden. Doch sage mir nur eins, Vater, warum heirathest Du diese Frau, die so schwer zu behandeln ist, der man seine Meinung nicht gerade sagen darf, der man auf Umwegen sagen muß, was Recht und Pflicht ist?«

Herr Artefeld zögerte einen Augenblick verlegen, dann half er sich mit einem Theatercoup. »Ich habe sie in meiner Jugend geliebt,« sagte er mit ausbrechendem Gefühl.

»O Vater, dann will ich sie lieben und ehren, wie sie es haben will,« versicherte Flora ernst. – –

 

Kurze Zeit nach der Verlobung wurde die Hochzeit gefeiert, und durch das neue Verhältniß, in das Flora zu ihrer Tante trat und das sie immer genauer mit dem Charakter derselben bekannt machte, läßt sich annehmen, daß ihr schöner Vorsatz oft genug auf die Probe gestellt wurde, obgleich weder ihr Vater noch Elisabeth vielleicht etwas davon gewahr wurden.

Trotz aller übeln Prophezeiungen der Leute konnten sie doch für's Erste nichts herausfinden, was ihren Vorhersagungen Grund und Boden gegeben hätte. Alle Veränderungen, die in der nächsten Zeit in den Lebensgewohnheiten der beiden Eheleute eintraten, sprachen nur von vollständigem Einverständniß. Er suchte die kostbaren Stoffe aus, mit denen sie ihre, früher fast schlichte Garderobe ihm zu Liebe vertauschte, er gab den Ton in den Cirkeln an, die sie einlud. In der neuen, eleganten Equipage, die angeschafft wurde, sah man sie fast täglich zusammen spazieren fahren, ja, wenn es der Eine oder der Andere belächelte, daß er sich Reitpferde anschaffte, längst vergessene Jugendkünste hervorholend, um auch in diesem Punkte ein Gentleman zu sein, so konnte man doch nicht zweifeln, daß es mit ihrer Zustimmung geschah, da sie es war, die ihm heimlich das eleganteste Sattelzeug aus England kommen ließ.

Ebenso schien sie ihm auch den angemessenen Antheil an den Geschäften eingeräumt zu haben. Sie selbst rühmte oft seinen anstelligen Kopf und sagte mit anerkennender Beschützermiene:

»Es fehlt ihm nur die Routine, und die kann er nirgends besser erlangen, als in meinem Hause.«

Genug, die Geigen am ehelichen Himmel musicirten, und gab es gelegentlich falsche Töne, so verhallten sie doch, draußen ungehört, im Hause.

 

Am wenigsten konnte sich Dorothee mit der Heirath aussöhnen. Da sie selbst unvermählt geblieben war, konnte sie es, trotz ihrer Gutmüthigkeit nicht recht ertragen, wenn eine Andere gar zweimal heirathete, hier hielt sie es ohnedem für ein offenbares Unrecht gegen ihren Liebling, den armen Richard. Sie hatte den Knaben von Kindheit an gekannt und lieb gehabt. Bis er in die strenge Zucht seiner Mutter kam, hatte er manche Stunde bei ihr zugebracht, hatte die Alte Tante und Du genannt, worüber er sehr viel Schelte von seiner hochmüthigen Mutter bekommen, hatte sich von ihr Geschichten erzählen und mit Kaffee tractiren lassen und ihr so viel Anhänglichkeit bewiesen, daß die alte weichherzige Seele noch jetzt nicht ohne Thränen daran denken konnte.

»Sie ist immer wie eine Stiefmutter gegen den Knaben gewesen, nun macht sie das Maß voll und giebt ihm noch einen Stiefvater!« seufzte sie, als wieder einmal ihr Gespräch mit dem Bruder diese Wendung nahm, was stets in Victor's Abwesenheit zu geschehen pflegte, da Herr König keinen Tadel über seine Prinzipalin in des Kindes Gegenwart litt. »Du hast zwar gesagt, das könnte zu seinem Glück dienen, der Mann würde dafür sorgen, ihn zurückzurufen. Flora, das gute Geschöpf, schwört auch noch Stein und Bein auf den Vater, aber ich glaube es nicht! Sie sind ja nun schon eine ganze Weile verheirathet, und der Richard ist und bleibt fort.«

»Herr Artefeld kann sich nicht an dem Erbe des Knaben bereichern, wenn er nicht ganz gewissenlos ist,« behauptete Herr König.

»O, Der!« sagte Dorothee verächtlich, »Der kann Alles!«

»Du kennst ihn ja kaum,« wandte der Bruder ein.

»Was ich von ihm kenne, ist genug,« fuhr sie hitziger werdend fort, »und weil Du nicht aufhörst ihn zu vertheidigen, will ich Dir erzählen, was ich von ihm weiß. Er ist mir einmal des Abends auf der Straße nachgelaufen und hat mir keck unter den Hut gesehen. ›Brrr, die alte Jungfer!‹ sagte er dann und lief davon. Mit der alten Jungfer hatte er nun wohl recht, aber so viel ist auch gewiß, daß er dachte, unter dem Hut ein junges Gesicht zu finden. Was hat er aber denen nachzulaufen, er, der eine erwachsene Tochter hat und eine Wittwe heirathen wollte! Solche Menschen taugen nichts. Er wird des Knaben Erbe nehmen, wenn die Mutter es ihm giebt. Es ist ja Alles ihr Eigenthum, es steckt ja Alles in der verwünschten Handlung, und wer's nicht mit diesem Alp zugleich auf sich nimmt, kann sterben und verderben und wenn's zehnmal der eigene Sohn ist. Und Gott weiß, ob sie nicht noch Kinder bekommt, Söhne! Ach, dann ist's vollends um Richard geschehen; denn schenkt ihr der Himmel einen Sohn, den bringt sie schon mit der Wiege in's Comptoir, damit er sich bei Zeiten an sein künftiges Paradies gewöhnt.«

Herr König schüttelte über den Feuereifer seiner Schwester halb und halb mißbilligend das Haupt, mußte aber doch darüber lächeln. Sie fuhr sorgenvoll fort:

»Wenn sie Dir nur nicht die Pension entzieht. Sie versteht es auch zu rechnen, und ein Mann im Hause kostet Geld, besonders ihr Mann, der wahrlich das Sparen nicht erfunden hat.«

»Sie kann sie mir nicht entziehen, sie ist mir contractlich noch von ihrem Vater zugesichert. Du weißt es ja,« antwortete Herr König, »auch würde sie es nicht thun, denn sie ist schroff und hart, aber großmüthig. Da, frage Herrn Richter,« fuhr er, auf einen eben eintretenden Mann, dem er mit ausgestreckter Hand entgegenging, deutend fort, »er wird Dir dasselbe sagen wie ich.«

Herr Richter, der neue Buchhalter, war seinem Vorgänger von früherer Zeit her bekannt, und nie ganz außer Beziehung zu ihm getreten, hatte er sich zuerst an den alten Freund gewendet, als widrige Umstände ihn zwangen, sein schon lange Jahre bestehendes, bescheidenes Geschäft aufzugeben. Wie bereitwillig und auf welche Weise ihm dieser zu Hülfe kam, wissen wir. Es war sein Glück, daß Frau Artefeld nicht persönlich mit ihm verhandelt, daß sie erst seine Bekanntschaft gemacht hatte, als der Contract abgeschlossen war. Sie hatte jedoch nicht übel Lust gehabt, ihn bei seinem Ablauf nicht wieder zu erneuern, ein Gedanke, der jedoch immer wieder durch die Brauchbarkeit des Mannes verscheucht wurde. Sie hing allerdings genug an äußerlichen Dingen, um auch bei ihrer Umgebung, bis auf ihre Diener herab, auf äußeres Ansehen zu halten, war aber doch nicht beschränkt genug, reelle Eigenschaften nicht höher zu stellen. Und obgleich sie noch nicht darüber hin konnte, daß ihr erster Buchhalter so unansehnlich aussah, obgleich sie höchst intolerant gegen seine Zutrauen und Harmlosigkeit ausdrückenden Manieren, die sie unbescheiden nannte, war, hatte sie sich doch entschlossen, ihn vorläufig trotz dieser Uebelstände zu behalten.

Abschreckend häßlich war Herr Richter nicht, dazu hatte er ein gar zu gutes, treuherziges Gesicht. Er sah eigentlich mehr lächerlich als häßlich aus. Eher klein als groß, standen Oberkörper und Piedestal doch im schlechtesten Verhältniß zu einander, und letzteres, das immer ein paar Zoll hätte länger sein können, hatte eine leichte, nach außen gehende Krümmung, als beuge es sich jetzt schon einer später wahrscheinlich eintretenden Corpulenz, zu der jedoch erst eine schwache Anlage vorhanden war. Das Gesicht war plump, ebenfalls auf eine größere Fülle angelegt; aber jetzt noch hager und farblos, trug es einen unverkennbaren Zug des Kummers, aber eines so resignirten, die Seele sanft und mild stimmenden Kummers, daß man sich durch das Gesicht angezogen fühlte und kaum länger als eine Minute daran denken konnte, daß man es nicht mit einer eleganten Erscheinung zu thun hatte, die ja auch zu seinem Metier nicht nöthig war. Für dies und seine Qualification dazu gab sein Gesicht die beste Bürgschaft. Auch nicht ein Zug war in demselben, der nicht die offenste Ehrlichkeit gepredigt hätte. Seine Augen waren so gut und so treu wie die eines Hundes.

Er lächelte zustimmend, als Herr König die Behauptung von der Großmuth Frau Artefeld's wiederholte.

»Ach was, Sie sind auch solcher Kindskopf, wie mein alter Bruder da,« fuhr Dorothee, auf ihrer Meinung beharrend fort, »und beurtheilen die Menschen nach dem eigenen guten Herzen und nicht mit unparteiischem Verstande. Eine Frau, die einen alten treuen Diener fortjagt, weil Er sich erlaubt hat, ihr in aller Ehrfurcht die Wahrheit zu sagen –«

»Nein, ich war heftig,« unterbrach sie Herr König.

»Nun gut,« fuhr Dorothee, die sich nicht aus dem Concept bringen ließ, fort, »eine Frau, die also einem alten treuen Diener eine Heftigkeit nicht verzeihen kann, ist nicht großmüthig, denn großmüthige Menschen tragen Keinem eine Schuld nach. Ich will Euch sagen, was sie ist: hochmüthig – und Hochmuth kommt vor dem Fall, sagt das Sprichwort. Sie bildet sich ein, sie hat alle Weisheit der Welt in ihrem Kopf und der ganze Handelsstand des In- und Auslandes muß sich ihren Anordnungen fügen und existirt nur von den Brocken ihrer Weisheit. Ohne meinen alten Bruder da wäre das Geschäft schon lange gar nichts gewesen, ohne Sie, Herr Richter, würde es jetzt nichts sein, und was daraus werden wird, wenn sie einmal ihrem Filou von Gemahl in die Hände fallen sollte oder nicht mehr so treue Diener um sich haben, das weiß der Himmel. Eine Frau kann das nicht leisten, was sie thun zu können sich einbildet. Ihr ganzes Arbeiten auf dem Comptoir ist doch nur eitel Schein, im Vergleich zu dem, was ein Mann thun kann, und wenn sie auch selber Alles unterschreibt und sich mit Rechnungen abquält und abmüht, ausgeführt wird nur, was sich Andere für sie ausdenken.«

Ein kaum merkbares Lächeln flog über Herrn Richter's Gesicht, Dorothee sah es so gut wie ihres Bruders Stirnrunzeln und legte beides zu ihren Gunsten aus.

»Sagen Sie einmal offen und ehrlich,« wandte sie sich an den Ersteren, »was meinen Sie zu Ihrer Frau Prinzipalin? Wie gefällt sie Ihnen?«

»Sie hat mir nicht zu gefallen und ich komme gut mit ihr aus,« war die Antwort. »Sie ist nicht gerade ein so frommes, stilles Lämmchen wie ihre Elisabeth, auch nicht solch' seelengutes, mitleidiges Geschöpf wie Fräulein Florchen, die mich immer zum Schwatzen bringt, sich von meinen trautesten Kindern erzählen läßt, mein Röschen, Linchen, Lorchen und Traudchen ordentlich schon lieb hat und mir mit ihrer englischen Theilnahme über das Heimweh forthilft, so ist Frau Artefeld freilich nicht, aber so kann auch nicht Jeder sein. Es geht mir aber gut bei ihr, ich klage nicht über sie.«

»Auch nicht über ihn?« forschte die neugierige alte Person weiter.

»Ich habe mit ihm wenigen thun,« sagte Herr Richter, »ich sehe ihn meist nur bei Tisch, und da ist er sehr heiter und freundlich gegen uns Alle.«

»Das glaube ich, er schmeichelt sich bei Allen ein,« bemerkte Dorothee; »aber kommt er denn nicht aufs Comptoir, der große Handelsherr?« fragte sie.

»O ja,« entgegnete Herr Richter, »aber er wird wohl nicht lange mehr kommen.«

»Warum nicht?« fragte Dorothee eifrig.

»Zu viel Köche verderben den Brei,« versetzte er lakonisch.

»O, ich verstehe!« lachte Dorothee, »sie giebt den Kochlöffel nicht aus der Hand, ist's nicht so?«

 

Für Herrn König waren solche Gespräche meist eine Qual. So wenig Herr Richter sich auch über die Persönlichkeit seiner Prinzipalin und deren Verhältnisse äußerte, so war ihm doch jedes Wort zu viel, das Dorotheens übler Meinung von derselben Vorschub gab und sie zu Ausfällen reizte. Das alte Band treuer Anhänglichkeit, das ihn an das Artefeld'sche Haus knüpfte, war innerlich nicht zerrissen. Er konnte nicht los von der Zuneigung, sie war ihm fast ebenso zur Gewohnheit geworden, wie die Thätigkeit, die ihm jetzt genommen war. Er wußte die Lücke nirgends auszufüllen, am wenigsten verstand er es, durch Zorn über seinen Kummer hinwegzukommen.

Alles was mit dem Hause Artefeld zusammenhing, berührte sein Herz. Er liebte jedes Glied der Familie, das Wohl jedes Einzelnen war ihm theuer. Er wollte nichts davon hören, daß Philipp Artefeld sich die Hand der Wittwe ihres Vermögens wegen erschwindelt, wollte nicht glauben, daß er im Stande sein könnte, auf den Verlust eines armen, verstoßenen Knaben zu speculiren, ja er war überzeugt, daß es der thätigen Verwendung des Stiefvaters gelingen würde, die Versöhnung zwischen Mutter und Sohn zu vermitteln und dem Letzteren zu seinem Recht zu verhelfen. Hatte er doch von ihm selbst die Versicherung erhalten, daß Alles geschehen solle, um dieses glückliche Resultat zu erreichen.

»Nur Zeit, mein lieber Freund,« hatte Philipp Artefeld zu dem alten Manne gesagt, »Zeit und Geduld, und es wird sich Alles finden. Meine Frau ist nicht in einem Augenblick umzustimmen, aber ich bürge dafür, daß es geschieht. Treiben Sie mich nicht zu einer Uebereilung an, warten Sie es ab.«

Und so wartete denn der alte Mann von Tag zu Tag, wartete, hoffte, aber das Warten und Hoffen füllte weder die Gedanken noch die müßigen Stunden aus, und sein Geist verzehrte sich in Sehnsucht und Müßiggang.

 

Auch Flora wartete, dem Wort ihres Vaters vertrauend, geduldig und enthielt sich sogar jeder leisen Mahnung an Erfüllung seines Versprechens. An seinem Willen zu zweifeln fiel ihr nicht ein, aber sie mochte es wohl bei dem täglichen Zusammenleben mit ihrer neuen Mutter begreifen, daß ihr gegenüber eine trockene Willensäußerung nichts durchsetzte. Sie hoffte also auf ihren Vater, auf die Zukunft und gab sich indessen mit vollem Herzen den Eindrücken der Gegenwart hin, die mit gar manchen unerwarteten Erfahrungen an sie herantreten mochte. Oft vielleicht stand sie denselben verwirrt gegenüber, aber wenn man in der Jugend auch nicht jeder Erfahrung gewachsen ist, wächst man doch in sie hinein, und ein kindlicher, harmloser, vertrauender Sinn, der nicht vor jedem Querweg zagend stehen bleibt, nicht gleich bei jedem Schwanken des Lebensschiffleins seine fröhliche Lebenszuversicht über Bord wirft, findet auch im verwirrenden Dunkel den richtigen Pfad.


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