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Jahre waren vergangen nach der das Gerede der Leute so vielfach in Anspruch nehmenden Heirath, als in der frühen Nachmittagsstunde eines rauhen, unfreundlichen Herbsttages ein junger Mann in dem kleinen Gasthaus einkehrte, das dem Artefeld'schen Hause gegenüberlag. Es war ein Gasthaus zweiten Ranges, bis vor Kurzem sogar nur eine ganz gewöhnliche Ausspannung zur Einkehr der Fuhrleute bestimmt, aber seit einiger Zeit hatte es seinen Besitzer und mit diesem sein Schild wie seine Bestimmung gewechselt. Es nannte sich nicht mehr zum grünen Baum, sondern zum goldenen Löwen, führte einen stutzerhaft frisirten Kellner neben dem Hausknecht und wurde viel von solchen Gästen besucht, die ihre Ansprüche an ein anständiges Unterkommen in richtige Uebereinstimmung mit ihrem schmalen Geldbeutel zu bringen hatten. Zu dieser letzteren Klasse gehörte wohl auch der eben angekommene Fremde, wenn anders sein sicheres Auftreten, der Ernst in seiner Haltung wie in seinen Zügen und der sehr kleine Mantelsack, den er selbst von der Post zum Wirthshaus getragen, das prüfende Auge nicht täuschten. Der junge Mann schien im Hause bekannt, er bezeichnete das Zimmer, das er zu haben wünschte, und die verwunderte Miene des Wirthes richtig deutend, unterstützte er sein Verlangen mit einigen erklärenden Worten.
»Ich bin ein Breslauer Kind,« sagte er lächelnd, »und habe das Haus hier gekannt, als es noch unter dem Schirm des grünen Baumes zur Rast einlud. Der damalige Wirth war ein Kinderfreund und versammelte oft die Kinder aus der ganzen Nachbarschaft um sich. In der Stube, in die ich jetzt einzukehren wünsche, habe ich oft gespielt, von ihren Fenstern aus auf die Straße hinunter oder in die Fenster der gegenüberliegenden Häuser gesehen. Das hat mir viel Spaß gemacht. Seitdem ist's nun ein ganz vornehmes Hôtel geworden! Wo ist nur der frühere Besitzer geblieben? und hat mit ihm auch das ganze übrige Personal gewechselt?«
»Ja wohl, das ganze Personal,« bestätigte der Wirth, äußerst geschmeichelt durch die Anerkennung der günstigen Veränderung, die sein Hôtel seitdem erfahren, und beeifert, seinem Gast das gewünschte Zimmer anzuweisen.
»Sie werden es nicht wiedererkennen,« sagte er, dasselbe aufschließend und dem jungen Manne, dem er den Vortritt ließ, auf dem Fuß folgend; »Sie sehen, es hat Tapeten mit Goldleisten, statt der sonst nur weiß übertünchten Wände, und auch ein dem entsprechendes Ameublement. Für die frühere Ausspannung möchte es freilich nicht mehr passen. Es ist nun einmal Alles anders geworden und besser. Mein Vorgänger hat seinen Vortheil nicht verstanden, war nicht intelligent genug, sich emporzuschwingen, Nutzen aus der günstigen Lage des Hauses zu ziehen. Mitten in der Stadt, in einer der Hauptstraßen gelegen und eine Ausspannung! Als ich die Wirthschaft übernahm, sah ich sogleich, was sich thun ließ.«
Der Fremde schien nicht viel auf das Geschwätz des Wirthes zu achten. Er war an das Fenster getreten, hatte es geöffnet, und die Blicke auf das gegenüberliegende Haus gerichtet, dessen Fenster die auf sie fallenden herbstlichen Sonnenstrahlen reflectirten, blieb er, wie es schien, in Gedanken verloren stehen.
Der Wirth fuhr in seiner geschwätzigen Weise fort:
»Wenn's Ihnen noch Spaß macht, den Leuten in die Fenster zu sehen, so kann ich Ihnen zu heute Abend einiges Vergnügen von unserm vis-à-vis versprechen. So viel ich weiß, ist heute Gesellschaftstag drüben, da ist denn die ganze Fensterreihe erleuchtet.«
»Gesellschaftstag!« wiederholte der Fremde halb erstaunt, halb gedankenvoll, »giebt's da drüben bestimmte Gesellschaftstage?«
»Ich sollte meinen,« versicherte der Wirth, »alle Woche zwei- bis dreimal. Concerte, Diners und Soupers, und extrafein soll es dabei hergehen. Was auch sonst über den Herrn zu sagen sein mag, Geschmack hat er, das muß man ihm lassen, und in seinem Hause hält er auf Anstand.«
»Der Herr, welcher Herr?« fragte der Reisende, sich hastig vom Fenster wegwendend, fügte dann aber in gleichmüthigem Tone hinzu: »Früher wohnte dort eine Kaufmannsfamilie. Die Frau war Wittwe, so viel ich weiß, und hatte zwei Kinder. Mit dem Knaben habe ich öfter gespielt. Hat sie das Haus verkauft, das Geschäft aufgegeben? Aber nein, da ist ja das Schild noch über der Thür, die Sonne scheint hell darauf!«
»Ja wohl, da ist das Schild noch und das Geschäft beim Alten,« versicherte der Wirth, »aber im Hause ist's anders geworden, seit der neue Herr dort eingezogen. Die Wittwe hat ja wieder geheirathet, ihren Schwager, den reichen Herrn Artefeld. Wie er's gemacht hat, sie dazu zu überreden, weiß der Himmel. Er ist ein schlauer Patron, der sich von Keinem in die Karten sehen läßt. Es weiß auch Niemand recht, wie viel er eigentlich haben mag. Er that immer so anspruchslos, als lebte er von der Hand in den Mund, aber Jeder wußte, diese Einfachheit hatte einen goldenen Hintergrund. Es wissen auch Viele von seiner Schwägerin selbst, daß er vermögend war. Sie würde ihn sonst wohl auch kaum geheirathet haben. Weshalb hätte sie es auch thun sollen? Zur Verliebtheit war sie nicht mehr jung genug, und um sich einen Herrn zuzulegen? – einen Herrn duldet sie am wenigsten um sich, wenn er ihr auch noth thäte. Ich bin erst seit ein paar Jahren hier, aber man hört so mancherlei. Es soll nicht gut Kirschen essen mit ihr sein. Den ersten Mann hat sie unter die Erde gebracht durch Stolz und Hochmuth, der zweite benutzt ihren Hochmuth, lacht sie hinterher aus und weiß, wie er ihrer übeln Laune entflieht. Ihr Sohn aus erster Ehe ist auf und davon gegangen. Er hielt's nicht aus mit der Mutter. Man sagt auch, sie und ihr jetziger Mann hätten's gern gesehen, weil sie sich eben heirathen wollten und der erwachsene Sohn ihnen hinderlich war. Nun hat sie aus zweiter Ehe einen Sohn, ein hübsches Bürschchen von vier bis fünf Jahren etwa. Der Junge wird einmal Geld haben! Der bekommt Alles zusammen, denn die Töchter haben nicht viel zu erwarten. Ihr Mann hat sein Vermögen auch zum größten Theil der Handlung verschreiben müssen.«
Es war unmöglich, zu sehen, ob und in welcher Weise die ausgekramten Nachrichten den, dem sie aufgetischt wurden, interessirten; der junge Mann hatte sein Gesicht dem Fenster zugewendet, und der Wirth hätte leicht denken können, er predige tauben Ohren, wenn es ihm beim Sprechen überhaupt nicht mehr um die Sache selbst, als um Zuhörer zu thun gewesen wäre. Er wollte fortfahren, wurde aber von seinem Gast unterbrochen.
»Besorgen Sie mir Kaffee herauf, aber gleich, ich will ausgehen!« lautete der kurze Befehl, der jede weitere Mittheilung abschnitt.
Dem Wirth imponirte der befehlende Ton mehr, als daß er ihm anstößig gewesen wäre; er eilte fort, dem Auftrag Folge zu leisten. Der junge Mann rückte sich einen Lehnsessel an's Fenster, warf sich hinein, und den Kopf in die Hand gestützt, schaute er immer noch auf die im Sonnenschein glitzernden Fenster des gegenüberstehenden Hauses. War dieses sehnsüchtige Hinüberschauen zum Licht vielleicht ein Beweis der eigenen dunkeln Existenz? – Es hatte fast den Anschein, nach seiner düstern Miene, ja nach der Thräne zu urtheilen, die sich langsam über seine gebräunte Wange stahl. Aber er sagte kein Wort, machte keine Bewegung, nur einmal rang sich ein abgebrochenes:
»Verkauft, also verkauft hat sie sich, und sie war doch schon so reich!« zwischen seinen zusammengepreßten Lippen
Als der Kellner den Kaffee brachte, deutete er ihm mit einer stummen Geberde an, ihn auf den Tisch zu stellen, stand dann auf, goß sich hastig eine Tasse ein, aber das Getränk schien ihm schlecht zu munden. Er war nicht im Stande, einen Schluck hinunterzubringen.
»Mir ist die Kehle wie zugeschnürt,« murmelte er vor sich hin, »also enterbt und vergessen, ausgestoßen, wirklich ausgestoßen! Meine Stelle im Hause ausgefüllt, das Andenken meines Vaters ausgelöscht, die Wittwentrauer bei Seite geworfen, die Vergangenheit verleugnet! Mag's sein, ich will sie nicht wieder wach rufen.«
Er ging in der Stube auf und nieder, bis das Blut, das ihm heftig in den Schläfen pulsirte, ruhiger geworden war und die Erbitterung, die seine Worte verrathen, sich gemäßigt hatte. Dann trank er in raschen Zügen seine Tasse Kaffee aus, mehr aus freundlicher Rücksicht für den Wirth, als aus irgend einem Verlangen nach Stärkung, nahm die grüne Mütze, die ebenso wie Farbe und Schnitt seines Rockes zeigten, daß ihr Eigenthümer Jägersmann war und schritt zum Hause hinaus.
Sein Gesicht klärte sich auf, wie er so durch die engen Straßen dahinschritt und jedes der hohen, schmalen, mit den Giebeln der Straße zugekehrten Häuser ihm einen Gruß des Willkommens zuzurufen schien. Es sind einmal nicht wegzuleugnende, unzerreißbare Bande, die den Menschen an die Heimath fesseln. Mag man auch glauben, man habe die Sehnsucht nach ihr siegreich bekämpft, der laute Herzschlag beim Wiedersehen alter Bekannten, ja auch nur beim Erblicken lebloser, aber in die Heimath gehörender Gegenstände verräth, wie das Gefühl der Sehnsucht nur in Schlummer gewiegt war.
Der junge Mann rückte sich die Mütze tief in's Gesicht, als er weiter schritt. Es war jedoch kein müßiges Umherschlendern, dem er sich hingab, sein Gang hatte ein bestimmtes Ziel und endete vor der Thür eines kleinen, unscheinbaren Häuschens. Er trat ein, tappte die wohlbekannte, finstere Treppe hinauf, und kräftig an die einzige, im oberen Hausflur befindliche Thür klopfend, öffnete er dieselbe, ohne erst ein aufmunterndes Herein abzuwarten.
Ein kleines, niederes, aber sehr sauber gehaltenes Zimmer nahm ihn auf, das in seiner schlichten Einrichtung doch den wohlthuenden Eindruck bescheidenen häuslichen Comforts machte. Aber der wohlthuende Eindruck wich dem einer schmerzlichen Ueberraschung, als die Blicke des Eintretenden auf die in tiefe Trauer gekleidete alte Frau fielen, die dem Fenster zunächst saß und so eifrig strickte, als wolle sie sich durch das eintönige Durcheinanderrasseln der Nadeln von ihrem tiefen Kummer abziehen lassen. Ihr gegenüber stand ein blondlockiger Knabe, dessen Antlitz den traurigen Ausdruck des ihrigen reflectirte, aber während der Gram in ihre Züge eingegraben schien, lag er auf dem Gesicht des Kindes nur wie ein Flor, bereit, der Einwirkung des nächsten Augenblicks zu weichen und der frohsinnigen Keckheit, der kindlichen Lebensfreude Platz zu machen, die durch den Schleier hindurchstrahlte. Bei einem Kinde bedeutet eben der Augenblick Alles.
Es war seltsam, wie die Physiognomien der beiden Leidtragenden auch das ganze Aussehen des Zimmers veränderten. Es machte sich auf einmal bemerkbar, daß etwas zu seiner traulichen Behaglichkeit in dem Ausdruck glücklichen häuslichen Stilllebens fehlte. Eine Lücke wurde sichtbar, die sich nicht wieder ausfüllen läßt, eine Lücke, die der Tod gerissen hat. Der Armsessel dort in der Ecke neben dem Kamin stand leer; des jungen Mannes Augen suchten ihn im Eintreten zuerst, ach, und dann sagten ihm die schwarzen Kleider und die betrübten Gesichter deutlich genug, warum er leer stand.
Die alte Frau blickte verwundert auf den unbekannten, unerwarteten Gast und nahm die blaue Brille von den Augen, in dem instinctmäßigen Gefühl, daß diese doch nicht ausreichen würde, die Erkennung zu vermitteln. Ueber des Knaben Antlitz aber zuckte es wie ein Blitz plötzlicher Erinnerung, die blauen Augen strahlten, alle Züge wurden lebendig, und rasch auf den jungen Mann zutretend, sagte er:
»Ich kenne Sie, Sie heißen Richard, Richard Artefeld!«
»Barmherziger Gott!« schrie die Alte, und im Augenblick lag das Strickzeug am Boden, war der vor ihr stehende Tisch bei Seite gerückt, und sie stand vor dem Ankömmling, seine Hände in den ihrigen, zitternd, mit strömenden Augen, unfähig ein anderes Wort hervorzubringen, als: »Ach, nun ist er todt und ich kann die Herzensfreude nicht mehr mit ihm theilen. Gestern haben wir meinen alten Bruder begraben! Ach, mein Herzensjunge, wärst Du nur acht Tage früher gekommen, ich glaube, er wäre nicht gestorben! Und wie Du aussiehst!« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »wie stattlich und hübsch! Ich hätte Dich niemals erkannt, ich glaube, Victor hat's nur gerathen, wer Du bist, er war ja kaum fünf Jahre alt, als Du fortgingst, was kann er noch von Dir wissen!«
»O,« fiel Victor ein, »Richard hat mir eine Violine geschenkt und hat mich auf seinem Clavier spielen lassen, und wenn er hierherkam, hat er mir immer Kuchen mitgebracht, ich kenne ihn noch sehr gut. Auch hat der Großpapa immer gesagt: Wenn Richard einmal wiederkommt, kommt er zuerst zu uns, und hat mir dann immer erzählt, wie er aussehen würde, wie groß er geworden sein müßte, daß er einen schwarzen Bart bekommen haben würde, daß er gewiß so aussähe wie sein verstorbener Vater, von dem ja das Bild dort in Großpapas Stube hängt. Und so sieht er auch aus,« fügte der Knabe mit einem raschen Aufblick zu Richard hinzu, »und dann hat er solche Augen wie Georg, so ganz schwarze Augen mit einem Lichtchen drin!«
Richard klopfte den Knaben freundlich auf den Lockenkopf.
»Was das Kind klug ist!« sagte Jungfer Dorothee bewundernd und überschüttete dann ihren Gast mit einer Fluth von Fragen. Jener warf einen bedeutsamen Blick auf Victor. »Ach, der schwatzt nicht aus der Schule,« sagte sie, »vor dem können wir getrost sprechen, was wir wollen.«
Aber der Kleine zeigte wirklich, daß er Verstand hatte, Verstand, Selbstgefühl und Tact, denn es war wohl eine Mischung von allen dreien, was ihn veranlaßte, plötzlich zu sagen: »Weißt Du, Tante Dorothee, ich muß noch zu Herrn Wagner gehen, ich sollte mir meine Violine abholen, gestern schon. Gestern aber hab' ich's vergessen, es hat jetzt Niemand an Musik gedacht.«
Die hellen Züge des Kleinen verfinsterten sich wieder bei diesen Worten. Richard bemerkte es gerührt. Er zog den Knaben an sich, streichelte ihm liebkosend die erglühenden Wangen und fragte ihn, ob er bei dem alten Herrn Wagner etwa Unterricht habe. Victor bejahte.
»Ei, dann muß wirklich etwas an Dir sein,« bemerkte Richard lächelnd, »der alte Wagner giebt sonst Kindern keinen Unterricht.«
»Das will ich meinen, daß 'was an ihm ist,« sagte Dorothee, »aus einer Reihe Straßenbuben hat Herr Wagner sich den Jungen herausgeholt, um einen großen Musikus aus ihm zu machen. Er ging an unserm Hause vorbei, als eine Bande böhmischer Musikanten davor musicirte. Vor zwei Jahren war's, und Victor hatte damals schon Unterricht, aber bei einem Bekannten meines Bruders, der selbst nicht viel konnte. Er holt sich also, sowie die Musik beginnt, seine kleine Violine und spielt wacker mit, ganz richtig nach dem Gehör, sie sagten's Alle. Sie waren so entzückt von dem Jungen, ich hatte wahrhaftig Angst, sie würden ihn gleich mitnehmen. Herr Wagner war auch stehen geblieben und hatte zugehört, dann trat er näher und fragte dieses und jenes nach ihm. Da stellte es sich denn heraus, daß er meinen Bruder kannte, daß er von Victor's Talent schon bei Artefelds gehört, daß er ihn auch schon dort gesehen hatte. So kam's denn, daß wir bekannter wurden, er uns öfter besuchte und sich dann von Victor vorspielen ließ. Dann bot er sich an, ihm Unterricht zu geben, und noch neulich hat er mir gesagt, – aber das soll, Victor eigentlich nicht hören – daß das Kind sein hoffnungsvollster Schüler, daß er mehr wie nur talentvoll wäre.«
Victor horchte hoch auf, Freude und Ehrgeiz leuchteten in seinen Augen, aber nur einen Augenblick, dann schlug er sie nieder und ein Gefühl der Beschämung über das laute Lob der Tante zauberte flammendes Roth über seine Wangen.
»Du bist ja ein wahres Wunderkind,« sagte Richard freundlich zu dem Kleinen, »aber nun geh zu Deinem Lehrer, bleibe aber nicht zu lange, damit ich Dich noch wiedersehe, und vor Allem sage nicht, daß ich hier bin. Ich kann mich doch auf Dich verlassen?«
»Gewiß, ein Mann ein Wort,« betheuerte Victor mit solchem Ernst, daß es Richard schwer wurde, nicht laut zu lachen, und er es wohl nur deshalb unterdrückte, um vor dem Kinde die Wichtigkeit dieses Manneswortes in seinem Munde nicht verdächtig zu machen.
Als Victor fort war, fing Dorothee auf's Neue zu fragen an. Sie wollte Alles wissen, was ihrem Liebling in den Jahren der Trennung begegnet war, von Anfang bis zu Ende sollte er seine Erlebnisse erzählen. Er wies ihre liebevolle Zudringlichkeit sanft, aber bestimmt ab.
»Ich kann nicht so viel über mich sprechen,« sagte er, »meine Erlebnisse sind zudem sehr einfach gewesen, wenn auch freilich das Leben nicht so glatt und leicht dahinfloß wie ich es mir vielleicht geträumt hatte. Ich bin überdies nie ganz aus dem inneren Zwiespalt herausgekommen, in den das Entweichen aus dem elterlichen Hause mich gestürzt. Ich habe nicht bereut, daß ich es gethan, habe es auch in meinen trübsten Stunden nicht bereut, und habe es in meinen glücklichsten nicht rechtfertigen können. Ich fürchte, der Zwiespalt wird mich verfolgen bis an meines Lebens Ende. Es zieht mich zum Vaterhause hin und stößt mich zurück, und immer, wenn ich dem Zuge gefolgt bin, ist der Stoß zurück nur heftiger gewesen. Jetzt wieder – die Mutter hat wieder geheirathet, nicht?« setzte er schnell abbrechend hinzu.
Dorothee bejahte nur mit einem Kopfnicken.
»Wann hat sie den neuen Bund geschlossen?« fragte er weiter, begierige Erwartung in den Zügen.
Dorothee nannte Tag und Stunde mit altjüngferlicher Genauigkeit.
»Also wenige Wochen, nachdem ich an die Mutter geschrieben hatte,« sagte Richard erbittert, »o, die harte, abweisende Antwort, die wieder einmal meiner Sehnsucht einen Schlag versetzte, die mir gestellten Bedingungen, von denen sie wußte, daß ich sie nicht erfüllen konnte, waren wohl schon von der neu erwachten Heirathslust dictirt worden. Die Rückkehr des erwachsenen Sohnes hätte die Lächerlichkeit dieses Schrittes nur in das rechte Licht gestellt, die Lust zur Heimkehr mußte ihm vertrieben werden! Ach, oft habe ich schon geglaubt, daß mein würdiger Oheim nicht erzürnt war, als ich ging, ja, daß er nur scheinbar bemüht gewesen, Versöhnung zu stiften, daß seine beruhigenden Worte berechnet waren, aufzureizen, statt den Streit zu schlichten.«
»Da hast Du auch recht, da hast Du ihn ganz richtig erkannt,« bestätigte Dorothee. »Mein alter, lieber Bruder wollte es nicht wahr haben, aber ich habe es gleich gesagt, der Oheim treibt nicht offenes Spiel. Schon als Dein Vormund mußte er anders für Dich handeln. Er wollte aber die reiche Wittwe für sich haben, deshalb ist er überhaupt hierhergekommen. So lange sein Bruder lebte, fiel's ihm nicht ein, sich um seine Verwandten zu kümmern. Er braucht Geld, und viel Geld, und Deine Mutter ist sehr reich, damit ist Alles erklärt. Es ist Unsinn, daß er eigenes Vermögen haben soll! Nicht einen Groschen hat er, er spielt nur so geschickt den Unabhängigen, Sorglosen, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Er betrügt Alle, er betrügt auch Deine Mutter. Eigentlich müßte sie es erfahren. Es könnte zu seiner Strafe, zu Deinem Besten dienen. Wenn sie sich überzeugte, daß ihr Mann nichts taugt, erinnerte sie sich vielleicht daran, daß sie seinetwegen einen Sohn verstoßen hat!«
»Nein, nein!« unterbrach sie Richard, »Gott behüte mich, daß ich den Zwiespalt noch weiter risse. Mag Jeder das Loos tragen, das er sich bereitet hat, er und sie ihr glänzendes Elend, ich – –« Er hielt eine Weile inne und fuhr dann leidenschaftlicher fort: »O, mein Herr Oheim mit seiner glatten Zunge, seinem glatten Gesicht und seiner glatten Liebenswürdigkeit, immer mehr lerne ich seine Verdienste als Vermittler erkennen und würdigen! Aller Welt Liebling sein, aller Welt zum Munde reden und Alle miteinander belügen, das kommt ziemlich auf Eins heraus. Entfernt mußte ich werden und fern mußte ich bleiben, damit hier das schlaue Rechenexempel das gewünschte Facit fand. Mein leidenschaftlicher Ungestüm, mein Widerwille gegen Zwang und Willkür, mein Grauen vor dem Comptoir, vor dieser Werkstatt der Zahlen, das Alles wurde gut benutzt, und zu den Fesseln, denen ich entflohen war, wurde noch eine neue hinzugefügt, um mir die Heimath völlig zu verleiden. Mir stellte man eine Heirath in Aussicht, ihm um so sicherer Raum zu geben zu der seinigen. Zu diesem Manöver war ihm selbst seine eigene Tochter nicht zu gut.«
Dorothee machte große Augen, von dieser Angelegenheit hatte sie bisher nichts gewußt, sie warf nur einen Schatten mehr auf Philipp's Handlungsweise, deren nur vorausgesetzte Zweideutigkeit sie, aus warmem Eifer für Richard, ohnedies schon im tiefsten Schwarz zu sehen sich gewöhnt hatte.
»Der Himmel segnet auch noch solchen Bund!« fuhr Richard, noch immer auf's leidenschaftlichste erregt, fort, »wahrhaftig, wenn das Kind, das dieser Ehe entsprossen, nicht der geborene Kaufmann ist, glaube ich an kein Gesetz der Natur mehr! Wie heißt der kleine Schelm, der lachende Erbe, den sie zeitig genug dazu anhalten werden, des Dummkopfs zu spotten, den die Tyrannei der Mutter und die zuckersüße Sanftmuth des Oheims in die Welt hinausgetrieben, um seine Rechte an den nachgeborenen Sohn zu verlieren? Wie heißt der Bursche?«
»Georg,« antwortete die Alte, ganz erschrocken über diese leidenschaftliche Aufwallung, die sie zwar angeschürt hatte, der sie aber jetzt nicht zu begegnen wußte. »Georg, und er ist ein lieber, kleiner, unschuldiger Knabe!«
»Ein unschuldiger Knabe war ich einst auch,« seufzte Richard, »und nun bin ich doch so weit gekommen, gegen die eigene Mutter den bittersten Groll zu hegen. – Hat meine Mutter den Kleinen lieb?« fragte er in weicherem Tone.
»So lieb, wie sie nie eins ihrer Kinder gehabt,« versetzte Dorothee, »sie verzärtelt ihn nur zu sehr, sie läßt ihn kaum von ihrer Seite; es ist, als hätte sie ordentlich Angst, es könnte ihr Jemand das kleine Herz entfremden. Sie kann unbesorgt sein! Das Kind hat ein gutes, offenes Herz für alle Welt und würde seine Mutter nicht weniger lieben, auch wenn sie ihm gestatten wollte, Anderen anzuhängen.«
Richard seufzte, sagte aber nichts weiter darüber, sondern ließ sich nun von der Alten erzählen. Er fragte nach Allen: den Leuten im Hause; seiner Schwester, seinen alten Bekannten, nur Flora's Namen nannte er nicht. Am innigsten und wärmsten erkundigte er sich nach seinem alten Freunde, dem Buchhalter, nach seinen letzten Lebensjahren, seinem Tode.
»Ich habe noch eine alte Schuld an ihn abzutragen,« sagte er wehmüthig, »nun er sie nicht mehr in Empfang nehmen kann, mußt Du es thun, gute Dorothee. Als ich damals mit dem Entschluß umging fortzugehen, borgte ich mir eine kleine Summe von ihm, freilich ohne ihm zu sagen zu welchem Zweck. Vielleicht hat er es nachher bereut, sie mir gegeben zu haben.«
»O nein,« unterbrach ihn Dorothee eifrig, »es war ihm ein großer Trost, zu wissen, daß Du nicht ohne Geld warst. ›Wenn es auch nur wenige Thaler sind,‹ pflegte er zu sagen, ›ein geschickter Kopf weiß sie zu vermehren.‹«
»Ja, das sprach der Kaufmann,« scherzte Richard, »und zu dem fehlt mir eben das Genie. Ich habe es nicht sehr weit gebracht,« fuhr er ernsthafter fort, »aber so viel habe ich doch errungen, mein Gewissen von dieser Schuld zu befreien. Du mußt das Geld nehmen, es ist für den Victor.«
Dorothee, die erst eine abwehrende Bewegung gemacht, wagte es nicht mehr, dasselbe zurückzuweisen. Er zählte das Geld auf; der Alten stürzten die Thränen aus den Augen.
»Ach, wenn mein Bruder Dich doch wiedergesehen hätte!« seufzte sie, »es wäre doch eine Freude gewesen für seine alten Tage. Er hat sich zu Tode gegrämt,« fuhr sie fort, »wenn er es auch nicht Wort haben wollte, daß der Gram an ihm zehre. Er konnte auch das Müßiggehen nicht ertragen. Wenn man sein Leben lang an Arbeit gewöhnt ist, thut die plötzliche Ruhe nicht gut. Da, hier in der Nebenstube steht das alte Schreibpult meines Bruders. Er nannte das Zimmer sein Comptoir, und Stunden auf Stunden saß er da drinnen vor dem Pult, schnitt Federn und kritzelte auf dem Papier umher. Gott weiß was er schrieb, denn er verbrannte es immer wieder. Und wenn er herauskam, sich die Hände rieb, so recht frisch und fröhlich that und sagte: ›Alte Dorothee, nun habe ich fleißig gearbeitet, nun wollen wir plaudern,‹ dann that mir das Herz weh. Es war ja Alles nur Comödie. Er wußte ja ebenso wie ich, daß seine Arbeit nichts, gar nichts bedeutete. Es war eben nur die Gewohnheit, die er festhielt und die ihm die Wirklichkeit ersetzen sollte.«
»War's denn nicht sein freier Wille gewesen, daß er sich zur Ruhe gesetzt?« fragte Richard erstaunt.
»Sein freier Wille!« wiederholte Dorothee, »wer zimmert denn selber die Bretter zu seinem Sarge, um sich schon lebendig hineinzulegen? Er hatte sich mit der gestrengen Herrin entzweit. Ich sollte es nicht erfahren warum, aber ich weiß es doch, ebenso wie ich manches Andere erfahren habe, was er mir sorgfältig verschwieg, aus Rücksicht auf das Haus, dem der saubere Herr Philipp wenig Ehre macht. Genug, er hatte sich mit der Hoheit entzweit, das heißt, er hatte ihr wie ein Freund die Wahrheit gesagt, und da hatte sie ihm gezeigt, daß er nur ihr Diener sei, daß er nicht mitzusprechen habe, und hatte ihm die Thür gewiesen.«
Richard lachte bitter.
»Wieder eine Welle, die an die Felswand schlug und zurückgeworfen wurde,« sagte er leise, »aber die Stunde wird auch kommen, wo die stürmenden Wogen den Stein zertrümmern werden. Möchten sie ihn dann nicht in den Abgrund ziehen, sondern mitleidig an's Ufer werfen. – Wovon habt Ihr denn gelebt, Ihr armen alten Leute?« fragte er nach einer Weile, »und wovon wirst Du jetzt leben und den Knaben erziehen?«
»Wir haben nicht Noth gelitten,« antwortete Dorothee, »die strenge Dame setzt den Leuten wohl gern den Fuß auf den Nacken, aber unter den Fußtritten gönnt sie ihnen das Leben. Außer der Pension, die meinem Bruder zukam, ließ sie uns manche Wohlthat angedeihen, und zwar so, daß man sie nicht zurückweisen konnte. Ich weiß z. B., daß sie dem Herrn Wagner die Unterrichtsstunden bezahlt, die er dem Victor giebt, obgleich er immer thut, als gäbe er sie umsonst, und sich darauf hin von dem Knaben Noten abschreiben läßt, weil, wie er sagt, eine Gefälligkeit der andern werth sei, in Wahrheit aber, um sich die paar Groschen zu sparen. Er ist ein geiziger alter Herr, und es thut mir leid, daß Frau Artefeld ihre Beihülfe hier nicht eingesteht, damit man es ihm beweisen könnte, wie er das Kind mißbraucht. Aber dieses ist nur eine Unterstützung ihrerseits, ungern geben thut sie nicht, und so erhalten wir noch manche andere. Sie kommt nie selbst zu uns, giebt auch nie Geld, Gott sei Dank! aber sie schickt die Mädchen und durch sie Manches, was der Haushaltung zu Gute kommt. Den freundlichen Augen Elisabeth's und den Bitten Flora's hätte ich schwer etwas abschlagen können, auch wenn mein Bruder nicht unablässig wiederholt hätte, er wolle sich nicht feindselig zu seiner früheren Herrschaft stellen und ich dürfe es um seinetwillen auch nicht.«
»Die treue Seele!« schaltete Richard ein.
»Ja, treu wie Einer,« wiederholte Dorothee, »sanft und aufopfernd und nur an das Wohl derjenigen denkend, die ihn so tief gekränkt hatte. Aber falsch war seine Schonung doch; er hätte ihr Manches in seinem wahren Licht zeigen, ihr Manches enthüllen können, was er eben so gut wußte als ich, obgleich er immer behauptete, es sei nicht wahr, und er würde ihr einen besseren Dienst geleistet haben, als durch sein Schweigen. Er hielt's aber immer für Rache von mir, wenn ich davon sprach.«
Richard schien auf die letzten Worte der Alten kaum gehört, schien in Gedanken in seinem Vaterhause verweilt zu haben.
»Wie ist Elisabeth geworden?« fragte er plötzlich.
»So hübsch wie ein Engel, aber so still wie ein Wasser, zu dem kein Lüftchen dringt. Was drinnen ist, weiß Niemand. Wie man sagt, wird sie bald heirathen,« fuhr sie geheimnißvoll fort, »und zwar ihren Vetter, den Herrn Eisenhart aus Stettin. Das wird auch kein großes Glück sein, denn sie sagen, der junge Mann warte nur auf den Tod seines Vaters – die Mutter starb im vorigen Jahre, Du weißt es wohl nicht einmal – also, warte nur auf den Tod seines Vaters, um nach Amerika überzusiedeln. Er hat dort einen Schwager, Mr. Thomson, einen steinreichen Mann, der hat ihm goldene Berge in Aussicht gestellt, und weiß der Himmel, es kann Einer so reich sein, wie er will, es hat Keiner genug.«
»Also Moritz Eisenhart Elisabeth's künftiger Mann!« sagte Richard. »Gefällt er ihr, meinst Du, daß sie ihn gern nehmen wird?«
»Ich glaube es nicht und kann es ihr nicht verdenken,« war die Antwort. »Den breitspurigen Menschen, wer würde den gern nehmen!«
»Was wird es hier helfen!« sagte Richard bitter, »wenn es die Mutter will, wird sie ihn heirathen müssen, sie kann es doch nicht so machen wie ich und davonlaufen.«
»Ich glaube, ihr gefällt ein ganz Anderer,« erzählte Dorothee. »Da ist so ein junger Mensch, ein sehr junger, ich glaube kaum einige zwanzig Jahre alt, ein Herr Dorn, der ist der Frau Commerzienräthin von einer Bekannten empfohlen worden und deshalb öfter im Hause. Er singt auch und macht Verse, und alle solche Leute gehen jetzt dort aus und ein, weil der Herr Artefeld, wie sie sagen, ein Schöngeist ist, ein Schöngeist!« Sie lachte und setzte dann spöttisch hinzu: »Nun, er mag's im Hause sein, da draußen thut er manche Dinge, bei denen weder Schönheit noch Geist ist.«
Richard schien sichtlich auf nichts hören zu wollen, was seinen Stiefvater betraf, ebenso wie er Flora's Namen noch nicht einmal genannt hatte, obgleich das gute Kind wahrlich nicht dafür konnte, daß man sie ihm so unzart zur Heirath angetragen, ja, daß sie ein Eindringling in seinem Vaterhause war.
»Ist Herr Dorn nichts weiter als Sänger und Dichter?« fragte er, auf diesen zurücklenkend.
»O nein, nein, das treibt er nur nebenher,« war die Antwort. »Er hat studirt und bereitet sich zu irgend einem Examen vor, aber weither kann die Vorbereitung nicht sein. Er wohnt hier neben mir, und hundertmal des Tages sehe ich ihn hier vorbeilaufen, besonders wenn die beiden Mädchen bei mir sind, und ich weiß es dann schon immer, daß er kommt, noch ehe ich ihn sehe, denn die kleine Elisabeth wird dann immer so roth wie eine Herzkirsche.«
»Armes Ding!« flüsterte Richard. »Er ist kein Kaufmann,« fuhr er dann laut fort, »da ist natürlich nicht daran zu denken, daß die Kleine ihn heirathen dürfte. Die Töchter des Hauses Artefeld dürfen kein Herz haben, wie die Prinzessinnen von Geblüt. Trifft es sich einmal, daß eine ihrem Herzen folgt, so ist es Zufall, nichts weiter. Arme Elisabeth!«
Ein polternder Schritt auf der Treppe unterbrach die Unterhaltung der Beiden und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Lärm hin. Vielleicht war es die Absicht des Kommenden gewesen, denn es war Victor, der mit zwei Sätzen die Treppe heraufgestürzt kam, die Thür hastig aufriß und, ganz erfüllt von der Wichtigkeit seiner Botschaft und fast außer Athem, hereinrief:
»Tante Dorothee, Georg und seine Mutter kommen!«