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Achtes Capitel.


Herr Richter hatte seinen Auftrag pünktlich und gewissenhaft ausgeführt. Sowie er das Billet empfangen, war er in das Wirthshaus hinübergeeilt; hatte mit leichter Mühe den Fremden erfragt und war, nachdem sein mehrmaliges bescheidenes Klopfen an dessen Thür unbeantwortet geblieben, ruhig von selbst eingetreten. Richard stand am Fenster, mit beiden Händen auf das Holzwerk desselben gestützt, und sah unverwandt nach dem festlich erleuchteten Stockwerk hinüber; mit welchen Gefühlen leidenschaftlichen Zornes, höhnischer Erbitterung und tiefen Grames, möchte schwer zu beschreiben sein. Erst als Herr Richter durch ein absichtlich lautes Zuschlagen der Thür seine Gegenwart anzudeuten suchte, wendete er sich um und ging hastig ein paar Schritte auf den Eingetretenen zu.

Das ihm völlig unbekannte Gesicht des Mannes zerstörte augenblicklich den Verdacht, etwa einen Abgesandten seiner Mutter in ihm empfangen zu sollen, ja es lag etwas in der bescheidenen Anspruchslosigkeit der Erscheinung Richter's, in der fast schüchternen Miene, mit der er ihm nahte, das eher den Glauben in ihm erweckte, einen Bittsteller vor sich zu sehen.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte er freundlich, nahm den Brief, den Richter ihm schweigend darreichte, und erbrach ihn hastig, ohne zu bemerken, daß der Ueberbringer sich während dessen leise entfernt hatte.

Dieser war jedoch noch nicht die Treppe hinunter, als Richard ihm nachgestürzt kam und, da Richter sich anfänglich weigerte, mit ihm umzukehren, ihn fast gewaltsam zurück in sein Zimmer zog.

»Wer sind Sie?« lautete seine erste Frage.

Richter gab die nöthige Auskunft

»Ach, ich weiß,« sagte Richard, »die alte Dorothee hat mir von Ihnen erzählt. Ihr Gesicht sagt noch mehr. Sie würden es gewiß freundlich mit mir meinen, so weit das denen gestattet ist, die in dem Bann jenes Hauses da drüben zu leben bestimmt oder verflucht sind. Wollen Sie einen Auftrag übernehmen?«

»Gern, gern,« versicherte Richter, den die Leidenschaftlichkeit Richard's erschreckte, »gern, beruhigen Sie sich nur, trautestes Männchen!«

»Sie versprechen es mir fest?«

Richter gab ihm schweigend die Hand.

»Gut, so sagen Sie meiner Mutter,« sagte Richard zu seinem eben so bestürzten als erstaunten Boten, der jedoch genug von den Verhältnissen der Familie erfahren hatte, um nun augenblicklich den Zusammenhang zu begreifen, »sagen Sie meiner Mutter, daß ich kein Bettler bin, obgleich sie Alles gethan hat, mich dazu zu machen. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Almosen nicht will und nicht bedarf, daß mich ihr Geld auch weder dem Elend noch dem Verbrechen abkaufen würde, wenn ich nicht eine bessere Hülfe in meiner Manneskraft und meinem Gewissen hätte, mich vor dem Untergang zu bewahren. Sagen Sie ihr, sie soll dem unschuldigen Kinde, meinem Bruder, Besseres lehren, als selbstgefällige Ueberhebung über vermeintliches Unrecht Anderer, sie soll das Wort Haß lieber nicht vor ihm nennen, anstatt ihm ein Verzeihen aufzudrängen, zu dem er kein Recht hat. Ich hasse meinen Bruder nicht, ich wünsche ihm alles Gute, ich wünsche es auch meiner Mutter, obgleich sie schuld daran ist, daß ich alle Familienbande zerreißen muß, daß ich an Allem bankerott bin, was der Gerechtigkeit nach an irdischen Gütern mir zusteht. Sagen Sie ihr, es gäbe einen noch viel schlimmeren Bankerott, einen des Herzens, eine so tiefe Armuth an Liebe, daß kein aus Mitleid, aus Herzensgüte, aus Pietät gespendetes Almosen den so Verarmten aus seinem Elend emporzureißen im Stande sei: vor dem Bankerott möge sie sich hüten!

Sagen Sie ihr, durch Geld verpflichte man Bettler, durch Liebe gewinne man Herzen und zwänge man oft noch die Sünder zur Umkehr. Durch harte, kalte Willkür erziehe man sich aber Sclaven, Schmeichler oder Feinde. Sagen Sie ihr das, und nun möge mir Gott die unkindlichen Worte und ihr den Dünkel, die Härte, den Despotismus vergeben, der sie hervorgerufen.«

Herr Richter zauderte noch einen Augenblick, alle möglichen Vermittlungsvorschläge waren auf seinem gutmüthigen Gesichte zu lesen, Richard kam denselben zuvor.

»Es ist Alles umsonst, ich habe meine Mutter heute gesprochen, wir haben uns so getrennt, daß ein Wiedersehen unmöglich ist. Ich scheide aus der Familie aus, ich will meine Vaterstadt nicht wiedersehen, ich reise noch heute Nacht ab. Jedes weitere Wort ist überflüssig. Sie haben mir versprochen, meinen letzten Gruß auszurichten – Sie werden Wort halten. Leben Sie wohl – –«

 

Der Nachhall dieses Lebewohls war es, der sich auf Herrn Richter's Antlitz aussprach, als er den Saal betrat und durch einen Wink Frau Artefeld's bedeutet wurde, zu ihr heranzukommen.

»Haben Sie Ihren Auftrag ausgeführt?« fragte sie so gleichgültig, als handle es sich um eine ganz alltägliche Angelegenheit.

»Ich bringe den Brief wieder mit,« sagte er entschlossen, »ich hatte ihn schweigend abgegeben und war schon auf der Treppe, als der junge Herr mir nachgestürzt kam und mir denselben wieder aufzwang.«

Frau Artefeld sah den Redenden forschend an.

»Sie haben mir noch etwas zu sagen?« bemerkte sie dann in bestimmtem Ton. Er schwieg zögernd. Er kämpfte mit seiner Gewissenhaftigkeit, die es ihm natürlich zur Pflicht machte, sein Versprechen zu erfüllen, und dem Bedenken, einen solchen Auftrag in dieser Umgebung auszurichten. »Ich habe noch eine Bestellung, möchte sie aber bis morgen lassen,« stotterte er endlich.

»Ich wünsche sie gleich zu hören, ich will die fatale Sache los sein, ehe noch mehr Indiscretionen in derselben begangen werden,« gebot Frau Artefeld.

Herr Richter zögerte nicht länger. Fast Wort für Wort, wie Richard's Auftrag sich seinem eisernen Gedächtniß eingeprägt hatte, wiederholte er diesen, sehr leise, nur den Ohren seiner Herrin vernehmbar, aber doch so nachdrücklich, daß selbst seine auffallende Ausdrucksweise dem Pathos seiner Worte keinen Abbruch that.

»Den Auftrag hätten Sie allerdings weder übernehmen, noch ausrichten sollen,« erwiderte sie, als er geendet, »aber ich will es Ihnen nicht anrechnen, Sie verstehen es wohl nicht besser. Sie hätten um keinen Preis mit dem jungen Manne sprechen dürfen, Sie haben Ihre Befugniß überschritten. Es ist wahr, ich glaube, es ist kein Mensch auf der Welt so schlecht bedient wie ich, man kann sich auf Niemanden verlassen als auf sich selbst.«

Herr Richter trat empfindlich zurück.

»Es thut mir leid, daß ich Ihnen nicht in der erwarteten Weise gefällig sein konnte,« sagte er mit einer Würde, die deutlich die Grenze seiner demüthigen Bescheidenheit bezeichnete. »Wo soll ich den Brief mit dem Gelde hinlegen?«

»Sie mögen das Geld für Ihre Mühe behalten,« sagte sie hochmüthig.

»Ich werde es Ihnen morgen auf das Comptoir bringen,« antwortete Richter in bestimmtem Tone.

»Wie Sie wollen,« sagte sie gleichgültig und wandte ihm den Rücken, sich wieder unter ihre Gäste zu mischen, für deren Unterhaltung sie sich zugänglicher erwies als vorher.

 

Herr Richter zog sich in eine der Nebenstuben zurück, gesellte sich jedoch nicht zu seinen jüngeren Collegen, sondern setzte sich in eine Fensterecke, während im Saal die Saiten rauschten und »auf Flügeln des Gesangs« manchem fernen oder anwesenden Herzliebchen eine laute und doch verschwiegene Huldigung dargebracht wurde.

Flora, die ihn schon lange vermißt hatte, erspähte den Einsamen, der in trübselige Gedanken verloren vor sich hinstarrte, da ihm, der sich nie sehr heimisch in diesen Cirkeln fühlte, heute vollends all' der Glanz und die Fröhlichkeit um ihn her wie Hohn und Spott auf das Herzensweh des verstoßenen Sohnes erschien.

Der Contrast fiel ihr auf, in dem sein anspruchsloses, heute fast gedrücktes Aeußere zu seinen Umgebungen stand. Seine düstere Miene stach ebenso von der ihn umrauschenden Fröhlichkeit ab, als sein schlichter, solider Anzug von der genialen Einfachheit der Künstler, der geschmackvollen Eleganz der Jünger der Mode, der gewählten, sorgfältigen Toilette der Herren vom Comptoir. Er kam ihr vor wie eine Krähe unter den Pfauen, wie ein Stiefkind der Natur und des Schicksals, sie hatte aber ein offenes Herz für alle Zurückgesetzten. Sie ging unbefangen zu ihm hin, setzte sich neben ihn und fragte ihn freundlich nach dem Grunde seiner Verstimmtheit, ob er schlechte Nachrichten von seinen Kindern habe u. s. w.

»Ach, die trautsten Geschöpfchen!« sagte er, »mein Herzblut gäbe ich darum, könnte ich ihnen erst wieder eine Heimath schaffen, und andere Eltern treiben die Kinder, diesen Himmelssegen, gar selbst aus dem Hause. Gottchen, Gottchen, wie kann man so hart sein!«

Flora sah ihn erstaunt an.

»Das arme, junge Männchen!« fuhr er, mehr zu sich selbst als zu ihr sprechend fort, und erregte durch diese halb unbewußt gesprochenen Worte Flora's höchste Neugier. Sie errieth halb und halb von wem er sprach, wenn sie auch nicht begreifen konnte, wodurch sie jetzt gerade an Richard erinnert wurde. Ihr schwesterliches Interesse für denselben, ihre Theilnahme für Unglückliche überhaupt machte sich geltend, ebenso wie die Vorliebe ihres Geschlechts für alles Geheimnißvolle. Das erste unvorsichtige Wort, das Herr Richter gesagt, hatte zu viel von dem Dasein eines Geheimnisses verrathen, als daß es möglich gewesen wäre, es einer so eifrigen, warmherzigen, freundlichen Fragerin vorzuenthalten.

Flora ruhte nicht eher, als bis sie Alles erfahren hatte. Die unerwartete Nachricht von Richard's Anwesenheit brachte im ersten Augenblick das ruhige Mädchen fast aus aller Fassung. Sie wollte es ihrem Vater, wollte es Elisabeth sagen, die Mutter sollte gezwungen werden, den Sohn wieder aufzunehmen.

»Lassen Sie das, es ist nicht unsere Sache, sich da hineinzumischen, und wenn Mutter und Sohn einmal so bittere Worte gewechselt haben, ist es besser, sie bleiben eine Weile getrennt,« bemerkte Herr Richter verständig. »Menschen vermitteln da nicht, da muß der liebe Gott ein Ende machen. Aber daß es zu solchen Worten kommen konnte!« fuhr er nach einer Pause fort, »man wird doch mit der Liebe zu seiner Mutter geboren, was muß da Alles geschehen, sie zu ersticken, wenn man doch eben kein schlechter Mensch ist. Schlecht kann er aber nicht sein, ein verdorbenes Herz schaut nicht aus so treuen, guten Augen.«

Flora hatte immer mit Herrn Richter viel freundlicher verkehrt, als ihre Mutter es gebilligt, aber jetzt machte sie das gemeinschaftliche Interesse für Richard auf einmal zu Freunden. Sie rückten noch tiefer in die Fensterecke, und Flora erzählte ihm von Richard. Ja, das einmal angebahnte Vertrauen führte sie noch weiter, als sie anfänglich beabsichtigt hatte. Es mischte sich, in natürlichem Zusammenhang mit Richard's Entweichen, manche unwillkürliche Bemerkung über der Mutter eigenthümlichen Charakter in die Mittheilung.

»Der eigenthümliche Charakter der Mutter!« Es war der mildeste Ausdruck, den sie für die Herzenskälte, die Schroffheit, die Herrschsucht derselben finden konnte. Während sie so sprach, wurde ihr eigentlich erst recht klar, an welchen tiefen Gebrechen ihr häusliches Leben darniederlag.

Sie klagte die Mutter nicht in Beziehung auf sich an. Sie hatte in Folge ihrer Gemüthsart vielleicht weniger unter dem Einfluß dieser Eigenschaften gelitten als Richard, den sie in den äußersten Trotz getrieben, und Elisabeth, die sich davor scheu in sich selbst zurückgezogen. Traf sie einmal eine Härte, eine Laune, ihr Gefühl konnte nicht so davon berührt werden, denn es wurde dadurch kein von der Natur gebotener Anspruch verletzt, sondern nur Bande gelockert, die, ohne die Grundlage der Liebe, eine rein conventionelle Bedeutung haben. Worunter sie hauptsächlich litt, war eben nur die schwüle Atmosphäre der Häuslichkeit, die auch ihren Lebenshorizont wie ein Nebel einhüllte und ihr oft die Zeit zurückrief, in der sie mit ihrem Vater allein gewesen. Damals hatte sie oft nach einer Mutter geseufzt, aber das war die sanfte, liebevolle Frau, die ihre Kindheit behütet, nicht jene strenge Alleinherrscherin, der ihre Jugend unterworfen wurde. Sie hatte es immer mehr und mehr herausfühlen gelernt, daß die Häuslichkeit, in der sie lebte, nicht so war, wie sie sein sollte. Es fehlte der warme, belebende Hauch vertrauender Liebe, statt dessen bewegten Furcht, künstliche Zurückhaltung und überlegte Nachgiebigkeit das Rad an der Maschine. Der Hausfrieden war eigentlich ein Taschenspielerkunststück; man mußte an das glauben, was man sah, und wußte doch, es war eine Täuschung, die jeder ungeschickte Handgriff bloßlegen mußte. Der Vater war der erste Künstler in der Comödie häuslichen Glückes.

Flora sagte sich das nicht, aber sie empfand es ahnend. Sie durfte es sich auch nicht sagen, denn ein zweites Eingeständniß, daß diese gemachte Liebenswürdigkeit der Würde des Mannes, der Geradheit seines Charakters Abbruch that, wäre die unausbleibliche Folge gewesen. Ihre eigene Sanftmuth und Nachgiebigkeit war Ergebniß ihrer Natur, und ebenso schützte sie angeborenes Rechts- und Wahrheitsgefühl vor einer Uebertreibung dieser Eigenschaften, die sie doch bisher glücklich vor jedem ernsteren Conflict mit der Mutter bewahrt hatten. Offenbares Unrecht, an dem selbst ihre Fügsamkeit scheitern mußte, war noch nicht unter ihren Augen begonnen worden, denn der Zwiespalt, der Richard aus dem Hause trieb, war auch nicht ohne Schuld seinerseits, datirte aber jedenfalls in eine Zeit zurück, wo sie den Verhältnissen nicht nahe genug stand, auch noch zu jung und unselbstständig in ihrem Urtheil war, um sich anders als ganz passiv ihrer Mutter gegenüber dabei zu erhalten.

»Wie könnten wir Alle so glücklich sein!« seufzte sie, nachdem ihre abgebrochenen Andeutungen das eben angeführte, durch ihren Zuhörer ergänzte Resultat ergeben hatten, »und wie wenig sind wir es im Grunde!«

»Die Frau Mutter hat's eben in der Hand, und bei der fehlt's da,« bemerkte Herr Richter, auf sein Herz deutend.

»Sie hat doch Herz,« schaltete Flora ein, »sehen Sie sie nur mit Georg.«

Herr Richter schüttelte den Kopf.

»Ein Schwälbchen macht noch keinen Sommer!« sagte er, und nun begann er seinerseits von seiner verlorenen, zerstörten Häuslichkeit zu erzählen. Er hatte es schon oft gethan, schon oft vor Flora das Gemälde glücklichen, einfach glücklichen Familienlebens entrollt. Sie wußte genau, wie Alles gewesen war und wie es geendet hatte; sie hatte es schon hundertmal gehört, welche Krone aller Frauen sein Frauchen gewesen und wie hübsch dazu, wie Linchen und Traudchen der Mutter wie aus den Augen geschnitten seien, wie Lorchen und Röschen sich dagegen hatten mit seinem alten dummen Gesicht begnügen müssen, wie es aber auch trautste, liebe Seelchen wären. Sie hatte es schon oft gehört und ließ es sich immer wieder gern erzählen. Heute schweiften aber ihre Gedanken doch davon ab und eilten zu Richard hinüber. Einmal glaubte sie auch eine dunkle Gestalt an einem der Fenster drüben zu sehen, aber als sie genauer hinblickte, zog sich diese zurück. Sie forderte Herrn Richter auf, wenn die Gesellschaft zu Ende sei, mit ihr hinüber zu gehen, sie wolle und müsse Richard sehen. Er versuchte es ihr auszureden.

»Lassen Sie ihn seinen Kampf mit sich selber auskämpfen,« sagte er, »mischen Sie sich nicht hinein, das thut nicht gut, auch könnte es nicht ohne Aufsehen geschehen und würde bösem Gerede Raum geben«

Sie seufzte. »Wann will er reisen?« fragte sie.

»Er sagte mir, in dieser Nacht noch,« entgegnete Herr Richter, »ich weiß aber nicht wohin, also auch nicht mit welcher Post.«

»Gehen verschiedene Posten in der Nacht ab?« fragte Flora.

»Ja, eine um zwölf, eine um zwei Uhr,« antwortete er.

Sie brach davon ab, fragte aber nun nach Allem, was Richard gesprochen, wie er sich benommen, wie er ausgesehen, ja was er angehabt hatte.

»Er ist ein stattliches junges Männchen,« berichtete er, »hat ein hübsches, sonnenverbranntes Gesicht, eine große, kräftige Gestalt und trägt eine schmucke, grüne Jacke. Ich sah neben ihm aus wie ein verhungertes Dachshündchen neben einem Edelhirsch.«

Flora lachte, und damit schloß das ernsthafte lange Gespräch, denn in demselben Augenblick wurde das Zeichen zum Beginn des Soupers gegeben, und paarweise, nach Laune und Gefallen, rrangirten sich die Gäste um die gedeckten Tische. Eben gingen Moritz und Elisabeth vorüber.

»Geben Sie mir den Arm,« sagte Flora zu Herrn Richter, »wir wollen uns zu Elisabeth setzen, Moritz ist unausstehlich.«

Der Charakter der Heiterkeit, der, wenige Ausnahmen abgerechnet, den Abend geherrscht, wurde durch das Souper nur erhöht. Es giebt Viele, deren Laune erst den rechten Höhepunkt erreicht, wenn der Wein das Blut in raschere Wallung bringt. Auch Herr Artefeld gehörte zu diesen, obgleich er da, wo es ihm nöthig schien, immer Maß zu halten verstand, und wenn auch leise Gerüchte auftauchten, als finde er dies nicht überall nöthig, so mußte er doch die gehörige Vorsicht angewendet haben, sich in solchen Fällen den Zimmern seiner Gemahlin fern zu halten. Die Weinlaune, die sie an ihm kannte, war nur die einer leicht erhöhten Heiterkeit, und nur bis zu diesem Grad gestattete er auch seinen Gästen die Steigerung ihres natürlichen Humors. So standen die kleinen Soupers im Artefeld'schen Hause in dieser Beziehung im besten Renommee, obgleich ein Hang zu üppigem Lebensgenuß sich dabei mehr von dem entfernte, was man eigentlich comme il faut nennt. Sie hielten nicht glücklich die Mitte zwischen Frugalität und Schwelgerei, sie verirrten sich meist zu letzterer, und obgleich Frau Artefeld selbst wenig Werth auf derartige materielle Genüsse legte, gab sie doch hierin der Neigung ihres Mannes nach, weil sie, durch ihn geschickt geleitet, ihre Würde nun auch noch auf größere Schaustellung ihres Reichthums begründete.

So fehlte auch an dem genannten Abend nichts, was den Feinschmecker befriedigen konnte, während heiterer Gesang das Mahl würzte und mit belebter Unterhaltung abwechselte. Fröhliche Toaste wurden ausgebracht, hell klirrten die Gläser gegen einander – die Champagnerpfropfen flogen – die Damen verfehlten nicht durch leise Schreckensrufe den Verdacht von sich abzulenken, als könnten sie unpassender Weise nicht an Nervenschwäche leiden.

 

Das laute Durcheinander der Stimmen, Gesang und Gläserklang tönte durch die stille Nacht hindurch über die enge Straße zu dem einsamen Lauscher hinüber, der noch immer am offenen Fenster saß und dem bunten Treiben schweigend zuschaute. Er sah durch die Vorhänge die Gestalten der sich um die Tafel bewegenden Diener, hörte die Hochs ertönen, hörte das Rücken der Stühle. Wie dumpfer Geisterton klang das verhallende Gemisch der vielen verschiedenen Stimmen in sein Ohr, er konnte die Melodien der gesungenen Lieder unterscheiden. Eitel Fröhlichkeit, eitel Glanz und Lust, wie er es in seinem Vaterhause nie gekannt, tönte ihm jetzt aus demselben entgegen. Er schaute sehnsüchtig hinüber, nicht weil ihn der Glanz gelockt, aber weil die vielen hellen Lichter, die ihm dort entgegenglühten, spottend seiner dunkeln Zukunft zu lachen schienen. Was hätte er darum gegeben, hätte er sie auslöschen und dafür die kleine Lampe wieder aufglühen sehen, die in seines Vaters Stube zu brennen pflegte! Ach, das war aber Alles vorbei, und sein Vaterhaus unwiderruflich für ihn verschlossen.

Er wollte auch nicht zurück, der Preis war ihm zu hoch. Mit der Aufopferung des angeborenen Rechts der Freiheit wollte er selbst die Heimath nicht erkaufen. Er war ja der Knabe nicht mehr, der die Banden des Gehorsams in unverständigem Trotz zerrissen, weil man sie überstraff angezogen und er die Sclavenketten fürchtete, an denen man ihn durch das Leben führen wollte; er vertheidigte jetzt das Recht der Selbstbestimmung über die Verwendung seiner geistigen Kräfte, er vertheidigte das Eigenthumsrecht seines Herzens, die Freiheit seiner Entschlüsse, die Selbstverantwortlichkeit für seine Handlungen. Kindliche Pflicht im Streit mit natürlichem Selbstgefühl lag überwunden am Boden, und der schmerzhafte Triumph des Siegers klagte diejenige mit bitterem Vorwurf an, die beide Gewalten in den Streit gerufen.

Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder, heißt es, weil einer Mutter Fluch etwas Unerhörtes ist, weil es undenkbar scheint, dem natürlichsten, dem am reichsten strömenden Quell irdischer Liebe, dem Mutterherzen, einen so vernichtenden Wetterstrahl des Zornes entströmen zu sehen. Aber echt und bewährt und geprüft bis auf's äußerste wenigstens muß die Liebe sein, die, in Fluch verkehrt, Gott zum Vorkämpfer ihres beleidigten Rechtes zu machen wagt; unantastbar muß die Mutter dastehen, die dies finstere Wort auch nur als Drohung in das Leben eines ihr von Gott geschenkten Geschöpfes schleudert. In welchem Lichte mußte aber wohl dem Sohn die Liebe einer Mutter erscheinen, der, von ihrer Schwelle verwiesen, in Bitterkeit und Unwillen den Tönen fröhlichen Gesanges lauscht, die in ihrem geschmückten und erleuchteten Hause erschallen, denen sie, an festlicher Tafel die Wirthin machend, zuzuhören vermag, während sie weiß, daß dem Verbannten der heitere Klang wie Spott und Hohn in die Seele schneiden muß.

Um sie her helles Lachen, munteres Gespräch, leuchtende Augen, wenige Schritte von ihr entfernt ein Abschiednehmen auf Nimmerwiederkehr, der Abschied des eigenen Sohnes vom Vaterhause.

Er gelobte es sich, nie wiederzukehren, er sprach den Schwur leise in die Nacht hinaus, die Sterne waren seine Zeugen. Alles, was mit der Heimath zusammenhing, gelobte er zu fliehen, sie sollte ihm, er wollte ihr fremd werden für immer. Er hatte nicht den Muth, auch nur den Wunsch zu hegen, seine Schwester Elisabeth noch einmal zu sehen, er wollte Alles fliehen, was seinen Entschluß erschweren konnte, wollte mit den Fesseln auch die Bande zerreißen, die Geschwisterliebe mit Blumen umwand. Nichts von der Vergangenheit sollte ihn in sein neues Leben begleiten, selbst seinen Namen warf er in seinem Gelübde auf's Neue und für immer fort. Er hätte auch gern die Erinnerung aus seinem Geiste getilgt, aber Erinnerung läßt sich nicht verbannen. Sie heftet sich, ein riesiger Schatten, an die Sohle des Flüchtigen, sie leuchtet ihrem Freunde wie ein Stern in der Ferne. Sie schließt ein Bündniß mit den Gedanken jedes Einzelnen, sie pocht an das Herz, sie schleicht sich selbst in die Träume ein. Sie ist der Engel mit dem flammenden Schwert und der Friedenspalme zugleich, sie legt Blumenkränze auf Schutt und Trümmer und drückt Dornenkronen auf eherne Stirnen.

Sie stand auch vor Richard, obgleich er sie nicht sehen wollte, und mit ihren wehmüthig lächelnden Augen strahlte ihm seine Kindheit entgegen, seine kurze, glückliche Kindheit, in der sein Vater ihm die Häuser baute, die seine Mutter niedergerissen hatte. Der Gedanke an den Vater besänftigte sein grollendes Herz. Es wurde still in ihm, wie es auch drüben im Hause still wurde. Mit dem Schlage elf entfernten sich die Gäste, er sah und hörte sie in fröhlichem Gespräch vorübergehen. Einzelne abgerissene Reden drangen zu ihm herauf.

»Seht doch den Nachtwandler da drüben,« sagte der Eine, »das ist wahrhaftig Dorn, hat der die Straßenpromenade dem feinsten aller Soupers vorgezogen?«

»Er schwärmt mit dem Mond,« bemerkte ein Anderer.

»Mit dem Mond?« lachte ein Dritter, »der heute in der nebligen Luft nicht heller scheint, als die elendeste Straßenlaterne!«

»Er sucht im Monde einen Verleger für seine Verse,« spottete wieder der Erste.

»Das ist auch gut, auf Erden möchte er so viel Barmherzigkeit nicht finden,« war die lachende Entgegnung, die schon in der Ferne verhallte.

Richard hatte kaum hingehört. Was gingen ihn die Leute und ihr lustiges Treiben an? Wie in einer Laterna magica zogen sie an ihm vorüber. Ganz zuletzt kamen noch zwei in Mäntel gehüllte Männer.

»Es ist nicht möglich, um elf Uhr zu schlafen; wer die Nacht nicht mit zum Tage macht, lebt nur ein halbes Leben,« sagte der Eine.

Richard meinte die Stimme seines Stiefvaters zu erkennen.

»Es gehört aber doch eine gute Natur dazu,« sagte der Andere, »ich werde es nicht so lange aushalten wie Du.«

»Bah,« sagte der Erste wieder, »Uebung macht den Meister! man muß nur haushalten mit seinen Kräften. Schließlich kommt Alles auf Gewohnheit an. In dem ersten langweiligen, soliden Jahre meiner Ehe bin ich nicht gesünder gewesen wie jetzt.«

Ein beifälliges Lachen tönte noch in Richard's Ohr, dann waren die Sprechenden zu weit vorüber, als daß ihre doch nur halblaut gesprochenen Worte ihm noch hätten verständlich sein können.

Er zog sich vom Fenster zurück und schloß dasselbe. Drüben wurden die Lichter ausgelöscht, nur in der oberen Etage, wo die Schlafzimmer der Familie waren, glühten sie in mattem Schimmer auf. Noch einen Blick that er hinüber, dann wandte er sich hastig ab und warf sich auf's Sopha, dort die kurze Zeit bis zu seiner Abreise der Ruhe, womöglich dem Schlaf zu widmen.


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