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VI.

Es war an einem Sonntag Morgen, als der Pfarrer Nelson aus der Kirche, wo er Gottesdienst gehalten hatte, nach Hause zurückkehrte und, die schwarze Mütze abnehmend, in dem Corridor stehen blieb, um sich in dem leichten Luftzug, der durch denselben strömte, etwas von der Sonnengluth zu erholen, die ihn in der staubigen Straße auf dem Heimwege fast zu Boden gedrückt hatte. Er trocknete sich mit dem Schnupftuch die Stirn, als Rosiana von ihrem Zimmer die Treppe herabeilte, um ihrem Wohlthäter den schwarzen Talar abzunehmen; denn sie hatte ihn durch das Gärtchen vor dem Hause kommen sehen. Sie war ihm behülflich, das Kleid abzulegen, trug es nach dem Schranke und folgte dann schnell ihrem Herrn in sein Zimmer, um ihn zu fragen, ob sie ihm außerdem noch einen Dienst erweisen könne. Der alte Herr hatte sich in dem Armstuhl zwischen den offenen Fenstern niedergelassen, und wehte sich mit einem großen Fächer Kühlung zu, als die Mulattin eintrat.

»Du warest am vergangenen Sonntag nicht in der Kirche, Rosiana, und, irre ich mich nicht, so hast Du sie auch vor vierzehn Tagen versäumt. Heute Abend wirst Du sie wohl besuchen, nicht wahr?« sagte er freundlich zu dem erröthenden Mädchen.

»Gewiß, Herr, werde ich hingehen. Ich wurde am Sonntag abgehalten!« erwiederte Rosiana mit verlegenem Tone.

»Wie gern sähe ich es, daß Du zu mir in die Kirche kämst,« fuhr der Pfarrer fort. »Die weißen Christen wollen Euch Farbige aber nicht einmal vor Gott als ihres Gleichen dulden. Wenn sie Euch denn doch wenigstens einen ordentlichen gebildeten Prediger gäben; so aber redet ein geistig vollkommen beschränkter Neger zu Euch, dessen gehaltlose Worte den Begriff über die christliche Religion bei der größeren Mehrzahl seiner Zuhörer nur verwirren können. Es war heute drückend heiß in der Kirche, seit langer Zeit ist mir das Reden nicht so sauer geworden. Der junge Mann, den vor einigen Wochen die Vorsehung vom Tode rettete, als ihn das Wasser auf der Insel überrascht hatte, saß heute in der vordersten Reihe meiner Zuhörer. Sein ernstes, andächtiges Wesen fiel mir auf, weshalb ich nach beendigtem Gottesdienst den Küster nach seinem Namen fragte und hörte, daß er der junge Advocat Lincoln sei, für dessen Erhaltung man dem Himmel in der Zeitung gedankt hatte. Ich glaube aber, der Herr hat ihm die Prüfung zugesandt, damit er in sich gehen und Seinesgleichen nicht ferner zum Thiere herabwürdigen möchte. Er ist Derjenige, der das neue Gesetz gegen Euch Farbige ins Leben gerufen hat und der Euch mit kalter Herzlosigkeit und Selbstsucht bis aufs Blut verfolgt. Man hat ihm den Namen »die Negerpeitsche« als Ehrentitel beigelegt.«

Rosiana war bei dem Beginn dieser Rede das Blut nach den Wangen geströmt und hatte sie mit brennendem Purpur übergossen, bei den letzten Worten des Geistlichen aber war sie bleicher und bleicher geworden, eine eisige Kälte lief ihr durch die Glieder, sie wankte zurück, wollte sich an dem Stuhl halten, und fiel regungslos zu Boden.

Der Pfarrer sprang entsetzt auf, beugte sich zu der Ohnmächtigen nieder, um sie aufzuheben, feine Kräfte aber reichten nicht hin; er rief die Negerin Morna mit aller Macht seiner Stimme bei Namen und lief, da dieselbe ihn nicht hörte, nach der Küche, um sie zur Hülfe herbeizuholen. Vereint hoben sie Rosiana auf das Sopha, Morna befeuchtete ihre Stirn und Schläfe mit kaltem Wasser, hielt ihr Essig vor den bleichen Mund und rieb ihre kleinen Hände; doch lange Zeit widerstand die tiefe Ohnmacht dem rücklehrenden Leben. Endlich bewegte sich mit einem tiefen Athemzuge der Busen der Mulattin wieder, sie hob die schön gewölbten Lider und Thränen netzten ihre blutlosen Wangen.

Die Ursache ihrer Ohnmacht stand mit dem Erwachen wieder lebendig und entsetzlich vor ihrer Seele; Lincoln, ihr einzig, innig geliebter Lincoln war ihr ärgster Feind, ihr herzlosester Verfolger, man hatte ihn zum Dank dafür »die Negerpeitsche« genannt und Rosiana, sie, eine Halbnegerin mußte ihn lieben! Sie hatte sich im Sopha aufgesetzt, ihre Hände lagen gefaltet in ihrem Schooß, ihre Thränen fielen von ihren langen Wimpern und wortlos, selbst ohne zu schluchzen, saß sie, auf den Boden vor sich niederblickend, ein Bild stummer Verzweiflung da.

»Aber liebe Rosiana, was ist Dir denn, bist Du krank? so rede doch!« sagte der Pfarrer in Angst und Schrecken und legte seine zitternde Hand auf ihre Schulter, sie aber gab keine Antwort und regte sich nicht.

»Komm, Rosiana, laß mich Dich auf Dein Zimmer führen, dort wird Dir besser werden, « sagte ihre Mutter und schlang ihren schwarzen Arm um ihr schönes Kind. Rosiana folgte willenlos der Aufforderung und ließ sich nach ihrer Stube geleiten. Dort sank sie auf ihr Lager nieder und winkte ihrer Mutter, sie allein zu lassen. Kaum aber hatte sich Morna aus dem Zimmer entfernt, als Rosiana ihre Hände vor ihr schönes Antlitz preßte und bitterlich zu weinen begann. Der Thränenstrom gab ihrem zusammengepreßten Herzen keine Erleichterung, es war ihr, als wären es Thränen bei ihrem letzten Abschied von Lincoln, und als sie sich ausgeweint hatte, war sie entschlossen, ihn nie wiederzusehen. Er liebte sie heiß und aufrichtig, das wußte sie wohl, aber sie wußte auch, daß er ein weißes Mädchen in ihr liebte, und der Gedanke brachte sie zur Verzweiflung, daß er die Farbige, wenn er sie erkannt, mit Verachtung von sich stoßen würde. Darum wollte sie selbst ihn verlassen, und wenn es ihr auch das Herz brechen sollte. In stummem Hinbrüten verbrachte sie den Tag, Morna, die wiederholt zu ihr kam, bat sie, sie allein zu lassen, und dem Geistlichen, der sich gleichfalls zu ihr begab, sagte sie, daß sie sich besser fühle und nur der Ruhe bedürfe.

Mit thränenschwerem Blick sah sie die Sonne versinken, mit ihr ging ihr Glück unter. Der Himmel war blutroth, Rosiana sah darin ihr eigenes Herzblut. Die Nacht legte sich über die Erde, und die Mulattin hatte sich an das offene Fenster gesetzt; es war ihr so eng, so beklommen, sie fühlte sich so elend, so vernichtet; wie schnell war der Glückstraum verronnen! Auch Lincoln mußte sehr unglücklich werden, das fühlte Rosiana zu gut, und sie war es, die ihn unglücklich machte; sie hatte ihn getäuscht, sie hatte Hoffnungen in ihm erzeugt, von denen sie wußte, daß sie nie in Erfüllung gehen konnten, sie hatte ihm einen Himmel geschaffen, der ihm unfehlbar über kurz oder lang zur Hölle werden mußte. Was sollte sie thun, um dies Unrecht wieder gut zu machen, um den Geliebten ihres Herzens vor Gram und Leid zu bewahren? War es weniger schmerzlich für ihn, sie zu verlieren, ohne ihre Abkunft zu ahnen, oder würde er ihren Verlust leichter ertragen, wenn er die Mulattin in ihr erkannte? Nein, er durfte, er sollte es nicht gewahr werden, daß sie ihn hintergangen hatte; von der verachteten Farbigen getäuscht zu sein, mußte ihn mehr schmerzen, als die weiße Geliebte plötzlich sich entrissen zu sehen. »Leb wohl, Edward, du sollst dich deiner Liebe zu mir nie schämen!« sagte Rosiana laut schluchzend und preßte, den thränenvollen Blick gegen die Sterne richtend, ihre gefalteten Hände gegen ihren krampfhaft bewegten Busen.

Ihr Schmerz hatte den Höhepunkt erreicht, wo er sich in dumpfe Ergebung verwandelt, und nur noch ein Entschluß blieb ihr im Herzen zurück, der, daß sie spurlos vor Lincoln verschwinden wollte. Aber wie konnte dies geschehen? Sich hier vor ihm verborgen zu halten, war unmöglich, lebendig zu fliehen, ebenso unausführbar, was sollte sie thun, wohin sollte sie sich wenden, um ihm nie wieder zu begegnen? Nirgends Trost, nirgends Hoffnung! Was hielt sie denn aber noch in dieser Welt zurück, warum wollte sie dies Leben nicht verlassen, welches ihr nur noch Qual, Verachtung, Verzweiflung bot? Ja, es sollte zu Ende gehen, der Tod allein bot Rettung, das Herz, das schmerzende, blutende Herz sollte aufhören zu schlagen, die Augen, in denen Lincoln sich so lieb gespiegelt hatte, sollten erbleichen, und die Erinnerung an die seligen, in seiner Nähe verträumten Stunden sollte in Nacht und Finsternis verschwinden. Rosiana dachte an die Insel, an die brausende tiefe Fluth, dort wo er ihr die ersten Blumen gepflückt, wo sie ihm zuerst in die großen liebevollen Augen geschaut und wo er sie eine Heilige, einen Engel genannt hatte, dort wollte sie von ihm und von dem Leben Abschied nehmen. Sie war mit den Händen vor der Stirn auf die Fensterbank gesunken, und abermals hatten sich ihre Augen mit Thränen gefüllt, da trug der Abendwind den friedlichen Ton der Kirchenglocken aus der Ferne zu ihr herüber, wie das tröstende Wort eines Freundes in der Noth sprach er zu der unglücklichen, verzweifelnden Rosiana, und wie schmerzlindernder Balsam berührte es ihr krankes Herz. Sie richtete sich auf, sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als erwache sie aus einem bösen Traum, es war ihr, als ob Gott zu ihr rede und ihr Trost zurufe; schnell nahm sie ihren Shawl und ihren Schleier aus der Kommode, hüllte sich in dieselben ein und verließ, wie von einem rettenden Engel geleitet, das Haus, nachdem sie ihrer Mutter gesagt hatte, daß sie zur Kirche gehe.

Lincoln hatte noch lange nach eingebrochener Nacht auf der Insel vergebens der Geliebten geharrt und wanderte dann ziellos durch die Straßen Richmonds, sinnend, was wohl der Grund ihres Nichterscheinens gewesen sein möchte. Es war schon nach neun Uhr, als er die Höhe der Stadt erreichte und auf dem Platz vor dem Kapitolium anlangte. Ein mattes Licht zitterte durch die Finsterniß, die ihn umgab, er wandte sich nach Osten um und vor ihm über den fernen bewaldeten Gebirgen stieg der Mond wie die Gottheit der Nacht in seiner vollen Majestät auf. Mit frommem Staunen und kindlicher Demuth vor dem Schöpfer solcher Welten hielt Lincoln seinen Blick auf das glühende Gestirn geheftet und ein Schauer heiliger Andacht wehte durch seine Seele. Sein Herz war so sehr mit Glück überfüllt, daß es ihm vorkam, als müsse er davon an seine weniger glücklichen Mitmenschen abgeben, als habe ihm der Himmel so viel irdische Begünstigungen nicht für sich allein ertheilt. In diesem Augenblick-ertönte in der nahen Kirche der Gesang der Andächtigen und zog die Aufmerksamkeit Lincoln's auf sich. Es waren die farbigen Bewohner Richmonds, die dort Gottesdienst hielten, es waren dieselben, denen er alle Menschenrechte abgesprochen hatte, und doch verehrten sie denselben Gott als ihren Schöpfer, der ihn so eben daran erinnert hatte, daß es viele weniger glückliche Menschen gäbe, als er es war. Der Gesang klang ihm, wie ein Vorwurf über seine Handlungsweise; waren es diese Menschen, die so viel unglücklicher waren, als er selbst?

»Bei Gott, Lincoln, nun ist es weit genug mit Dir gekommen!« rief plötzlich Fehrmann, der mit Franval nahe zu dem jungen Advocaten getreten war, ohne von ihm bemerkt zu werden. »Du wandelst einsam und allein im Lichte des keuschen Mondes und klagst ihm das Weh, oder verkündest ihm das übermäßige Glück Deines Herzens! Warum sitzest Du nicht nieder zwischen den rauschenden Wasserfällen auf der Insel und lässest Dich von den Elfen mit Blumen schmücken?«

»Du bist ein Narr, Fehrmann; der Himmel erhalte Dir Deinen gesunden Magen und Deinen guten Schlaf, sonst würdest Du sehr unglücklich werden!« entgegnete Lincoln und reichte beiden Freunden die Hand zum Gruß.

»Laßt uns noch etwas auf- und abgehen, die Nacht ist zu reizend, als daß man sich schon in das Zimmer einsperren sollte,« sagte Franval und schlang Lincoln's Arm in den seinigen.

Sie waren mehrere Male auf dem großen Platze auf- und niedergegangen und schritten eben wieder vor der offenen Kirchthür vorüber, als Fehrmann sagte: »Kommt, laßt uns einmal in die Kirche gehen und die schönen Mulattinnen und Quadronen in Augenschein nehmen. Sie sitzen alle oben auf der Gallerie, weil sie sich so viel mehr dünken, als die Schwarzen, die in dem unteren Raume bleiben müssen.«

»Ich bin es zufrieden; man hört dort mitunter wundervolle Stimmen,« fiel Franval ein, und die drei Freunde richteten ihre Schritte der Kirche zu. Das blendende Licht der vielen Gasflammen, die darin brannten, empfing sie beim Eintreten und sie blieben gleich am Eingang zwischen den Säulen, auf welchen die obere Gallerie ruhte, stehen, da sie von hier aus schon drei Theile derselben und den ganzen unteren Raum des Hauses übersehen konnten. Dieses war dicht gedrängt mit Negern und Negerinnen angefüllt, deren wolligte Köpfe das reine afrikanische Blut zur Schau trugen. Die größere Zahl von ihnen war in groben baumwollenen Stoff gekleidet, doch hier und dort gewahrte man auch die modische Tracht eines Gentleman, einer Lady. Nirgends aber war unter ihnen ein Gesangbuch zu sehen, sie sangen das Lied aus dem Gedächtniß und gaben durch heftige Bewegungen mit den Armen, durch Klatschen in die Hände, durch Schlagen gegen die Brust, durch lautes Stöhnen und mitunter noch lautere Rufe und Schreie ihre Begeisterung zu erkennen.

Ein ganz anderes Bild gewahrte man über der Brüstung der Gallerie, es zeigte die gemischten Racen zwischen weißen und schwarzen Menschen. Alle Hautschattirungen von einem dunkeln Braun bis zu dem zartesten Gelb, welches kaum noch von Weiß zu unterscheiden war, sah man hier vertreten. Die Augen aber waren alle dunkel, groß und von blendendem Weiß umgeben und blitzten und glänzten in dem hellen Lichte der Gasflammen wie so viele Sterne. Auch das Haar war bei allen von der tiefsten schwärzesten Farbe und von unglaublicher Fülle, nur mehr oder weniger lockig. Die Schönheit der Mädchen jedoch, die dort saßen und standen, war überraschend und wunderbar und die Grazie in ihrer ganzen Erscheinung, sowie in ihren einzelnen Bewegungen unübertrefflich. Dabei war ihre Kleidung durchschnittlich sauber und mit großem Geschmack gewählt und hin und wieder sah man die reichste Toilette. Die mehrsten von ihnen waren mit Gesangbüchern versehen. Dem Eingang gegenüber vor der Orgel standen zwölf dieser dunkeln südlichen Schönheiten, die mit ihren silberreinen, zauberisch melodischen Stimmen die ganze Versammlung übertönten, und es war nicht zu verkennen, daß man die schönsten Mädchen hierzu gewählt hatte.

Die drei Freunde standen wie von einem Zauber erfaßt und schauten nach der Gallerie hinauf, Lincoln aber insbesondere war tief ergriffen und konnte seine Blicke nicht von den dunkeln großen Augen abwenden; unwillkürlich erinnerten sie ihn an die Augen seiner Rosiana.

Das Lied verhallte, es war das letzte, und der Gottesdienst war zu Ende. Die drei Freunde schritten bis an die Thür zurück, dort blieben sie stehen, um die Versammlung bei sich vorübergehen zu lassen und die bewunderten Schönheiten nun auch in der Nähe zu betrachten, sowie auch diejenigen zu sehen, die gerade über ihnen auf der Gallerie gesessen hatten. Eine strahlende Gasflamme nahe der Thür warf ihr blendend helles Licht auf die Vorübergehenden, so daß sie wie vom Tageslicht beleuchtet wurden. Zuerst drängten sich die Schwarzen aus dem untern Raum mit Ungestüm vorüber, und erst als diese das Haus verlassen hatten, kamen die Farbigen von der Gallerie herab. Die drei weißen jungen Herren waren der Gegenstand der Aufmerksamkeit aller vorüberschreitenden Mädchen und mancher feurige Blick wurde ihnen im Vorbeigehen zugesandt. Plötzlich kam eine schwarz verschleierte hohe Mädchengestalt dicht bei den drei Freunden hinter dem nahen Pfeiler hervor, stutzte einen Augenblick, schoß dann mit wankendem Schritt an ihnen vorüber und ein kaum vernehmbarer Laut, wie ein unterdrückter Schrei, berührte ihre Ohren. Lincoln prallte zurück an die Wand, als ob er einen Geist gesehen hätte und stierte der Verschleierten nach, bis sie die Kirchthür verlassen hatte.

»Bei Eurer Freundschaft, bei Gott, bei Eurem Leben, daß mir Keiner von Euch folgt!« rief er seinen beiden Freunden zu und stürzte wie von einem Blitz gejagt zur Thür hinaus.

Sein flammend wildes Auge hatte vor der Kirche bald, aber schon in einiger Entfernung die fliehende Gestalt der Verschleierten erkannt; wie ein Sturmwind flog er ihr nach und war in wenigen Augenblicken an ihrer Seite.

»Rosiana, um aller Heilligen Willen! Rosiana, Du dort in der Kirche!« schrie er mit entsetzlich tönender Stimme und griff nach dem Schleier des Mädchens, das jetzt seitwärts in eine öde Straße einbog und noch einen letzten Versuch machte, ihm zu entfliehen. Der Schleier glitt von ihrem Antlitz, das Mondlicht fiel mit Tageshelle darauf und Lincoln sah in die großen, Verzweiflung verkündenden Augen seiner Rosiana.

»Großer Gott, Rosiana!« stöhnte er und hob, seine Hände ringend, die Arme gegen den Himmel auf.

»Edward!« sagte die Mulattin leise; ihre Hände fielen machtlos an ihr herab, ihr Antlitz senkte sich auf ihren Busen und sie wankte einen Schritt von Lincoln hinweg, als dieser seine Arme um sie schlang und sie vor dem Zusammensinken bewahrte. Ihr Haupt war rückwärts gegen seine Schulter gesunken und das Licht des Mondes zeigte ihm ihre halb geschlossenen Augen, und das Beben ihrer Lippen.

»Rosiana, meine Rosiana, mein Leben, meine Seligkeit! Rosiana, höre mich, ich bin ja bei Dir, Dein Edward, Dein treuer Edward!« rief ihr Lincoln fetzt in voller Verzweiflung zu, preßte sie fester an sein Herz und senkte seine Lippen auf ihren Mund.

Die Sprache erkannte Rosiana's fliehende Seele, sie hielt sie zurück, die Mulattin athmete wieder stärker, sie schlug die Augen wieder auf und verbarg ihr Antlitz an der Brust des Geliebten. Plötzlich aber, wie aus einem Traum erwachend, fuhr sie zusammen und suchte sich seiner Umarmung zu entwinden.

»Tödte mich, Edward!« rief sie mit verzweifelter Stimme, »tödte mich, ich habe Dein Glück, Deine Ruhe vernichtet, tödte mich, ich bin Deiner nicht werth, ich habe Dich hintergangen, ich habe Dich glauben lassen, ich sei Deinesgleichen; ich bin Mulattin, die verachtete Farbige, laß' mich sterben, laß mich zu Deinen Füßen sterben!«

»Sei ruhig, Rosiana, ich liebe Dich dennoch, ich würde Dich lieben und wenn Du schwarz wärest; es giebt kein Glück, kein Leben mehr für mich ohne Dich, Du bist meine Seligkeit, mein Leben!« Mit diesen Worten zog Lincoln die Mulattin abermals an seine Brust und schlang seine Arme fester um sie.

»Edward, Du darfst mich nicht lieben, Deine weißen Brüder, das Gesetz des Landes verbietet es Dir; ich kann, ich darf Dich nicht länger glücklich machen. Ich wollte heimlich von Dir scheiden, Edward, ich wollte Dir den Schmerz ersparen. Dich Deiner Geliebten zu schämen; der Himmel hat es nicht gewollt!«

»Ich frage nicht nach den Menschen, nicht nach dem Gesetz, Du bist mein und mein sollst Du bleiben, so wahr der Allmächtige auf uns niedersieht. Es giebt ferne Länder, Rosiana, wo Niemand uns kennt, dorthin wollen wir fliehen, dorthin wollen wir unser Glück mit uns nehmen. Komm, mein Alles, laß mich wieder in Deine treuen, frommen Augen schauen, sei wieder meine gute, meine liebe Rosiana.«

Ueberwältigt von dem Zauber, womit die Mulattin ihn an sich fesselte, glühte sein langer inniger Kuß wie ein heiliger Schwur auf ihren Lippen, und in der Seligkeit des Augenblicks vergaß Rosiana den ungeheuren Schmerz, der noch vor wenigen Minuten ihr Herz zu zerreißen drohte.

»Edward – ist es möglich – darf ich es glauben, willst Du mein bleiben, darf ich Dich ferner lieben?« sagte Rosiana mit flehender, vor der Größe ihres unverhofften Glückes bebender Stimme. »So nimm mich hin mit dem letzten Hauch meiner Seele, ich will Dich lieben, wie noch kein Mann auf dieser Erde von einem Weibe geliebt worden ist; ich will Dein sein in dieser und in jener Welt!«

Mit dem überströmenden Gefühl ihres neugeborenen Glückes schlang sie ihre weichen Arme um den Geliebten und Beider Thränen flossen zusammen.

In seliger Wiedervereinigung standen sie lange unbeweglich da, ehe der Sturm ihrer Gefühle verwogte, und dann schmiegte Rosiana sich in inniger Hingebung an die Seite ihres Verlobten und ließ sich, von ihm umschlungen, ihrer Wohnung zu geleiten.

»Gehst Du mit mir, süßestes Mädchen, wohin ich auch ziehen mag?« fragte Lincoln sie zärtlich.

»Wohin Du mich auch führst, ja ging es an das Ende der Welt, ich folge Dir.«

»Hast Du einen Herrn, Rosiana?«

»Der Pfarrer Nelson ist mein Herr, mein Wohlthäter, ich war immer frei vor ihm, und vor dem Gesetze wollte er mich jetzt frei geben; aber das neue Gesetz –« Hier stockte der Mulattin das Wort auf der Lippe und Lincoln drückte sie mit einem Seufzer und einem reuigen Blick zum Himmel fest an seine Brust.

»Wir fliehen zusammen; fern von diesem Lande erkennt Niemand die Farbige in Dir; wir gehen nach dem Westen an die Frontiere, an die Grenze von Mexiko, dort wird man Dich für eine Spanierin halten.«

»Wie Du willst, mein Edward, ich folge Dir bis in den Tod,« flüsterte Rosiana und legte ihr lockiges Haupt gegen Lincoln's Schulter.

»Verschließe Dein Herz gegen Jedermann, Rosiana, nenne meinen Namen nicht, sieh mich nicht an, wenn wir uns in der Straße begegnen sollten, damit man Dein Verschwinden und meine Abreise von hier nicht in Zusammenhang bringen kann; Du darfst keine Spur hinterlassen.«

»Ich habe Niemanden, mit dem ich über Dich reden sollte. Der gute Pfarrer aber würde mich gern sogleich frei geben, wenn er wüßte, daß er mein Glück dadurch gründete,« erwiederte Rosiana halbfragend.

»Um Gotteswillen nicht, gäbe er Dich jetzt frei, und wir beide verließen Richmond in einer und derselben Zeit, so würden die Zeitungen bald ihre Muthmaßungen uns nachsenden. Nein, Du mußt heimlich fliehen und sobald ich kann, sende ich dem Pfarrer die Summe, die Du ihm als Sclavin werth warest, ohne daß er gewahr wird, woher das Geld kommt. Er soll es nicht verlieren; aber wissen darf er über Dein Schicksal Nichts,« entgegnete Lincoln rasch und bestimmt.

»Schreiben muß ich ihm aber doch bei meiner Flucht, und ihn um Vergebung bitten; er ist so gut, so liebevoll gegen mich, kein Vater kann sein Kind besser behandeln; und wenn ich ihm sage, daß ich meinem Glück entgegengehe, so wird er den Einflüsterungen seiner bösen Schwester kein Gehör geben und wird mich nicht verfolgen lassen; davon kannst Du überzeugt sein, Edward.«

»Das magst Du thun, theuerste Rosiana. Ich werde nun überlegen, auf welche Weise wir die Reise am Besten machen, vor Allem aber muß ich meine Geschäfte hier aufwinden und erklären, daß mir der Aufenthalt hier nicht zusage, damit meine Abreise Niemandem auffällt. Du machst während dieser Zeit gar keine Aenderung in Deiner Lebensweise und zeigst Dich so wenig, als möglich in der Stadt. Hat nicht der Pfarrer einen großen Garten hinter dem Hause und könnten wir uns dort nicht treffen, beste Rosiana? ich fürchte, man möchte uns auf der Insel doch einmal zusammensehen und dann gäbe es gleich Verdacht nach Deiner Flucht.«

»Der Garten hat an seinem Ende eine Thür, die nach einer anderen Straße führt; ich könnte Dir den Schlüssel dazu geben und ich würde dann in den Garten zu Dir kommen können, wenn der Pfarrer zur Ruhe gegangen ist. Auch ich fürchte mich nun, nach der Insel zu gehen,« entgegnete Rosiana, dem Wunsche ihres Geliebten entgegen kommend.

So riesenhaft und fürchterlich drohend auch das wenige schwarze Blut, welches in der Mulattin Adern floß, zwischen die beiden Liebenden und ihr Glück getreten war, so vollständig vernichtet war seine Gewalt über ihr Schicksal jetzt, nachdem sie sich vereinigt und beschlossen hatten, dieselbe zu bekämpfen. Für keine Welt hätte Lincoln nun die gelbe Farbe Rosianas gegen die weiße vertauschen mögen, alle weißen Mädchen kamen ihm schal und fade gegen sie vor, und er fühlte, daß keine ihn so hätte lieben können, wie die Mulattin. Auch Rosiana selbst hätte jetzt ihr gemischtes Blut nicht für rein weißes hingegeben; so wie sie war, hatte sie ja das Herz ihres Geliebten gewonnen, wäre sie weiß gewesen, so hätte er sie vielleicht gar nicht beachtet; kurz Beide fühlten, daß sie nur so, wie sie waren, für einander paßten, um den höchsten Grad irdischer Glückseligkeit zu erlangen.

Ihre Zukunft beredend, langten sie in der Nähe von Nelsons Behausung an, blieben in dem Schatten einer alter Eiche stehen, um noch einen herzinnigen Abschied zu nehmen und dann glitt Rosiana schnell durch das Mondlicht ihrer Wohnung zu, nachdem sie Lincoln nochmals die Versicherung gegeben hatte, ihn in der kommenden Nacht an der Gartenpforte zu treffen.


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