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Die Harpyien Italiens (1–3). Astolf dringt in die Unterwelt ein. Geschichte der Lydia und des Alcest (4–43). Astolf gelangt in das irdische Paradies, von wo St. Johannes ihn nach dem Monde bringt, um von dort Rolands verlornen Verstand zurückzuholen (44–72). Beschreibung der auf dem Monde verwahrten »verlornen Erdengüter« (73–87) und des Schlosses der Parcen (88–92).
1 | Der Eingang bezieht sich auf die Zeit nach der Schlacht bei Ravenna, wo nordische Söldnerbanden, vom Papste Julius II herbeigerufen, furchtbar in Italien hausten. | O hungrige Harpyien, Geierkrallen, Die Gottes Zorn in dies verstockte Land, Vielleicht um alter Sünden willen, allen, Die heute leben, an den Tisch gesandt! Unschuld'ge Kinder, treue Mütter fallen Vor Hunger hin, indeß die Räuberhand Für eine Mahlzeit rafft hinweg, was ihnen Zum Unterhalt des Lebens könnte dienen. |
2 | Weh ihm, der jene Höhlen aufgeschlossen, Die einst verriegelt waren manches Jahr, Aus denen Stank und Freßgier sich ergossen, Bis ganz Italien verpestet war! Da ward ersäuft das Glück, das wir genossen, Der Friede ward verbannt so ganz und gar, Daß wir in Krieg und Armut, Angst und Beben Seitdem gelebt und lange werden leben; 337 |
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3 | Die Geschichte des Senapus ist der griechischen vom König Phineus von Thracien nachgebildet, welcher von den Harpyien geplagt wurde, bis die Söhne des Boreas, Calaïs und Cetes, zwei geflügelte Jünglinge, ihn befreiten. | Bis ihre Söhn' Italia bei den Haaren Aufrütteln wird vom Schlaf und zürnend schrein: So kühn wie Calaïs und Zetes waren, Will keiner unter meinen Söhnen sein, Den Tisch vor Kot und Krallen mir zu wahren Und saubren Glanz ihm wieder zu verleihn, Wie sie den Tisch des Phineus einst befreiten, Astolf des Nubiers Tisch in spätren Zeiten? |
4 | Der Herzog jagte mit dem Horn am Munde Die scheuslichen Harpyien durch die Luft Und senkte sich hinab nach jenem Grunde, Wo sie verschwunden waren durch die Kluft. Aufmerksam nähert' er das Ohr dem Schlunde, Und horch, es war als ob aus tiefer Gruft Geheul und Klag' und ew'ger Jammer schölle, So daß er merkte, drinnen sei die Hölle. |
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5 | »Höllenbolgen« sind nach dem von Dante eingeführten Terminus technicus die Stufen oder Abschnitte der trichterförmigen Terrasse, als welche er die Hölle darstellt. | Der Ritter wollte da hinuntergehn, Um die zu schaun, die keinen Tag mehr schauen, Und, um die Höllenbolgen anzusehn, Sich bis zum Mittelpunkt der Welt getrauen. Was (dacht' er) kann mir schreckliches geschehn? Denn auf mein Horn kann ich ja immer bauen. Pluto und Satan werd' ich fliehen machen Und auch den Hund mit dem dreifalt'gen Rachen. 338 |
6 | Er schwingt sich hurtig von dem Hippogryphen Und bindet draußen ihn an einen Strauch. Dann wagt er mit dem Horn sich in die Tiefen, Das ihn beschützen soll nach seinem Brauch. Kaum ist er drinnen, als die Augen triefen, Und in die Nase beißt ein schwarzer Rauch Wie Qualm von Pech und Schwefel, nur noch schlimmer, Er aber schreitet aus und vorwärts immer. |
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7 | Doch dicker wird bei jedem Schritt die Masse Des finstren Rauchs, und leicht ist einzusehn, Viel weiter geh' es nicht in dieser Gasse, Und keine Wahl bleib' als zurückzugehn. Da plötzlich sieht er über sich im Passe Ein dunkles etwas hin und wider wehn, Wie sich im Wind' ein Leichnam mag bewegen, Der lang' gehangen hat in Sonn' und Regen. |
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8 | Wenn überhaupt, ist doch so wenig Licht Auf diesem qualmigen und schwarzen Wege, Daß er nicht sehn kann, auch errät er nicht, Was droben in der Luft sich so bewege. Er führt daher, um Auskunft und Bericht Zu schaffen, mit dem Schwert zwei flache Schläge. Es muß ein Geist sein, das erkennt er gleich, Denn wie durch einen Nebel fährt der Streich. 339 |
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9 | Da hört er sprechen mit betrübtem Ton: »O steig hinab, ohn' andren Leid zu bringen. Zu schmerzlich sind die schwarzen Wolken schon, Die von dem Höllenfeuer zu mir dringen.« Starr vor Erstaunen bleibt der Königssohn Und spricht: »Gott kürze so dem Rauch die Schwingen, Daß er fortan zu dir nicht steigen könne! Mir aber Kunde deiner Pein vergönne. |
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10 | »Und wenn du willst, daß ich der Welt berichte Von deinem Schicksal, so gelob' ich's dir.« Da sprach der Geist: »Zum holden schönen Lichte Zurückzukehren dünkt so lieblich mir, Und wär's auch nur im Munde der Geschichte, Daß mir die Wort' abnötigt die Begier Und daß ich Namen und Geschick dir sage, Obwohl das Sprechen Mühsal ist und Plage. |
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11 | »Vernimm zuerst denn, daß ich Lydia bin; Mein Vater saß in Lydien auf dem Throne. Durch Gottes Richterspruch fuhr ich dahin In ew'gen Rauch, mir zum gerechten Lohne, Weil ich auf Erden Lieb' und treuen Sinn Vergalt mit Undank und mit hartem Hohne. Zahlloser andrer voll sind diese Schlünde, Die gleiche Qual ausstehn um gleiche Sünde. 340 |
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12 | Anaxarete wurde von den Göttern in Stein verwandelt, als der von ihr verschmähte Iphis sich erhängte. | »Anaxarete büßt in schlimmrem Grabe, Wo ärger noch der Rauch ist, unter mir. Ihr Leib ward Stein, wie ich vernommen habe, Und ihre Seele leidet Marter hier, Weil kalt sie zusah, wie der arme Knabe Erhängt sich hatte, hart gequält von ihr. Hier ist auch Daphne. Jetzt mag sie's beklagen, Daß sie Apollo ließ vergebens jagen. |
13 | »Zu lange würd' es währen, wenn ich sie, Die eine nach der andern nahmhaft machte, Die Seelen der verlornen Weiber, die Für Undank büßen in dem finstren Schachte. Nenn' ich die Männer gar, so end' ich nie, Die Männer, die Undank in Schaden brachte. Sie büßen ihre Straf' an schlimmrem Ort, Wo Rauch sie blendet, Feuer sie verdorrt. |
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14 | Jason verriet Medea, des Aegeus Sohn Theseus Ariadne, Aeneas, der Besieger des Königs Latinus, Dido. Der diesen klassischen Verrätern beigesellte jüdische ist Amnon, Davids Sohn, welcher Thamar, die Schwester Absalons, überwältigte und hernach verstieß, wofür Absalon zwei Jahre später ihn ermorden ließ. | »Leichtgläub'ger ist das Weib, und härtren Lohn Verdient deshalb der Mann, der uns bethört hat. Das wissen Jason und des Aegeus Sohn Und der Latinus' altes Reich zerstört hat. Auch weiß es jener, der den Absalon Um Thamar zu so blut'gem Zorn empört hat, Und andre noch, unzähl'ge dieser Schatten, Verräter an den Gattinnen und Gatten. 341 |
15 | »Damit ich aber jetzt dir offenbare, Wofür ich duld' und weß ich mich vermaß, – Ich war so schön und ward im Lauf der Jahre So stolz, daß nie ein Weib mit mir sich maß. Kaum weiß ich, was ich mehr von diesem Paare, Ob Schönheit mehr, ob Hochmut mehr besaß, Wennschon der Stolz und Dünkel erst entstanden, Weil meine Schönheit all' entzückend fanden. |
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16 | »In Thracien lebt' ein Ritter dazumal, Der beste Mann in allen Waffenproben; Als der vernahm, wie Zeugen ohne Zahl Bis in den Himmel meinen Ruhm erhoben, Kam er zu dem Entschluß aus freier Wahl, Mir seine ganze Liebe zu geloben, Vertrauend, daß auch ich ihn schätzen müßte, Wenn ich von seinen Heldenthaten wüßte. |
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17 | »Er kam, und seit er mich von Angesicht Gesehen, war er ganz in meinen Banden. Er trat in meines Vaters Dienst und Pflicht, Und bald erscholl sein Ruf in unsern Landen. Ich schweige, weil die Zeit dazu gebricht Von allen Kämpfen, die er kühn bestanden, Von der Verdienste Unermeßlichkeit, Hätt' er sein Schwert dankbaren Herrn geweiht. 342 |
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18 | »Pamphilien, Carien, der Cilicier Land Gewann durch dieses Helden Kraft mein Vater; Denn nie ward unser Heer ins Feld gesandt Als nur mit diesem Führer und Berater. Wie er sich nun des Preises würdig fand, Da faßt' er sich ein Herz, zum König trat er Und bat zum Dank für manch durchkämpften Strauß Und Preis der Siege meine Hand sich aus. |
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19 | »Der König wies ihn ab; es war sein Plan, Ein fürstlich Haus der Tochter zu begründen, Und zu gering deucht' ihm ein Unterthan, Dem nichts als Tugenden zur Seite stünden. Er war zu sehr dem Reichtum zugethan, Dem Geize, dieser Schule aller Sünden, Und schätzte Sitt' und Tugend edler Ritter, So wie der Esel schätzt den Klang der Cither. |
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20 | »Als nun Alcest, der Held von dem ich sage, (So nämlich hieß er,) sich verworfen fand Von dem, der zu weit höherem Betrage Sein Schuldner war, verließ er Hof und Land, Dem König drohend, daß er nächster Tage Bereuen solle seinen Widerstand. Zum Hof Armeniens ging der Selbstverbannte, Den er als unsern Erb- und Todfeind kannte, 343 |
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21 | »Und stachelte so lang' ihn auf, bis der Gen Lydien auszog auf Eroberungen, Alcest ward Hauptmann über dieses Heer, Des Ruhmes halber, den er schon errungen. Was er erobre, so versichert' er, Sei des Armeniers; nichts als meine jungen Und schönen Glieder woll' er nach dem Krieg Für sich behalten als Gewinn und Sieg. |
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22 | »Nicht könnt' ich schildern, was uns nun Alcest Für Schaden that mit seinen Kampfgenossen. Vier Heere schlug er, und den letzten Rest Des Landes nahm er, eh das Jahr verflossen, Bis auf ein einzig Schloß, das stark und fest Auf hoher Klippe lag. Darein verschlossen Der König sich und eine treue Schar, Von Schätzen rettend, was zu retten war. |
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23 | »Alcest belagert' uns, und bald entfloh Die letzte Hoffnung, daß wir ihm entrönnen. Ich merkte bald, mein Vater wäre froh Mich ihm als Weib und auch als Magd zu gönnen, Dazu sein halbes Reich, hätt' er sich so Vor weiterem Verlust bewahren können. Er sah voraus, daß er der Väter Erbe Bald ganz verlier' und als Gefangner sterbe. 344 |
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24 | »Versuchen will er, ehe das geschehe, Was sich an Mitteln noch versuchen läßt, Und mich, die Schuld ist an dem ganzen Wehe, Schickt er hinunter von dem Felsennest. Ich, mit der Absicht mich zu opfern, gehe Ins Lager der Armenier zum Alcest, Um ihn zu bitten, daß er, was er wolle, Vom Reiche nehm' und dann nicht länger grolle. |
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25 | »Kaum hat Alcest von meinem Nahn Bericht, So kömmt er zu mir, zitternd und erblassend. Für den besiegten schien mir sein Gesicht Weit mehr als für den Triumphator passend. Ich sehe, daß er brennt, und spreche nicht So wie ich's ausgedacht, vielmehr mich fassend Entwerf' ich einen neuen Plan geschwinde, Dem Zustand angemessen, den ich finde, |
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26 | »Und fluche seinem Lieben und beschwere Mich bitterlich ob seiner Grausamkeit, Der meines Vaters Land ruchlos verhere Und mich gewinnen woll' in blut'gem Streit, Was ihm weit besser doch gelungen wäre, Wenn er dem König noch für kurze Zeit Die alte Treu' und Ehrfurcht hätt' erwiesen, Die wir am Hofe stets so hoch gepriesen. 345 |
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27 | »Und habe gleich mein Vater im Beginn Sein ehrenhaft Gesuch ihm abgeschlagen, (Er habe nun einmal den rauhen Sinn Und sage nicht gleich ja beim ersten Fragen,) So sei es sündlich doch, bloß darauf hin Im jähen Zorn den Dienst ihm aufzusagen, Statt durch erhöhten Dienst den sichren Lohn Zu ernten und in naher Zukunft schon. |
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28 | »Hätt' auch noch dann mein Vater sich bedacht, So hätt' ich selbst so lang' ihn bitten wollen, Bis er den Freier zum Gemal gemacht; Und hätt' er sich verstockt in Trotz und Grollen, So hätt' ich etwas insgeheim vollbracht, Daß er, Alcest, mich hätte loben sollen. Doch nun er einen andren Weg erprobt, Hätt' ich ihn nie zu lieben fest gelobt. |
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29 | »Und komm' ich gleich zu ihm, weil meinen Mut Der Jammer um des Vaters Loos verzehre, Doch werd' er lange nicht das Glück und Gut Genießen, das ich schaudernd ihm gewähre. Den Boden röten soll' alsbald mein Blut, Sobald ich dem, was er von mir begehre, Genug gethan mit diesem meinem Leibe, Wozu allein Gewalt und Zwang mich treibe. 346 |
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30 | »Die Worte braucht' ich, stärkre noch als die, Da seine Mienen meine Macht verrieten, Und machte so zerknirscht ihn, daß man nie Bußfert'ger sah den frommsten Eremiten. Er zog den Dolch hervor und sank ins Knie Und ließ nicht ab den Dolch mir darzubieten Und bat inständig, Rache mir durch den Zu schaffen für sein schmähliches Vergehn. |
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31 | »Ihn so erblickend, wollt' ich auch sogleich Den großen Sieg verfolgen bis ans Ende, Und ließ ihn hoffen, daß es im Bereich Der Hoffnung sei, daß ich ihn würdig fände, Wenn er, die Schuld gutmachend, unser Reich Zurückerstatt' in meines Vaters Hände Und künftig sich bemüh' um meine Hand Mit Dienst und Liebe statt mit Mord und Brand. |
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32 | »Dies alles hatt' er mir versprechen müssen Und dann mich unberührt zurückgesandt, Ohne den Mut mir nur den Mund zu küssen. Du siehst, ich hatt' ihn gut ins Joch gespannt; Du siehst, daß Amor ihn anstatt mit Schüssen Durch mich allein hinlänglich überwand. Er ging zu dem Armenier, welcher glaubte, Daß ihm gehöre, was Alcest uns raubte, 347 |
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33 | »Und bat so freundlich ihn, wie er's vermochte, Das Reich dem Lydier wieder abzustehn, Das er bereits verhext' und unterjochte, Und friedlich nach Armenien heimzugehn. Der König, dem der Zorn im Herzen kochte, Antwortete, das werde nicht geschehn Und daß, so lange noch zwei Fußbreit Erde Mein Vater habe, nimmer Friede werde. |
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34 | »Und wenn Alcest dem Kriegsgewinn entsage, Um Weibergunst, so sei der Schade sein; Er gebe das nicht preis an einem Tage Was ihm ein Jahr gewann mit Müh und Pein. Noch einmal bat Alcest, dann führt' er Klage, Daß allem Bitten nichts antwort' als Nein, Und schließlich droht' er laut, der König solle Gern oder ungern thun, wie er es wolle. |
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35 | »Und immer höher schwoll sein Zorn und trieb Von schlimmen Worten ihn zu schlimmren Dingen. Er traf den König mit dem Schwert und hieb Inmitten tausend hochgeschwungner Klingen Ihn nieder, daß er todt am Boden blieb. Dann wußt' er die Armenier zu bezwingen; Die Thracier leisteten hilfreiche Hand, Und was noch sonst in seinem Solde stand. 348 |
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36 | »Auf eigne Kosten folgt' er seinem Sieg, Ohn' Aufwand meinem Vater zuzumuten, Der wieder bald den alten Thron bestieg. Dann gab er von der Beut' uns einen guten Theil als Ersatz für den erlittnen Krieg, Erobert' oder zwang doch zu Tributen Der Cappadocier und Armenier Land, Durchzog Hyrcanien auch bis an den Strand. |
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37 | »Anstatt Triumph ihm bei der Wiederkehr Gedachten wir den Tod ihm zu bereiten; Jedoch aus Vorsicht eilten wir nicht sehr, Zu viele Freunde sahn wir ihn begleiten. Ich, Liebe heuchelnd, nährt' ihm täglich mehr Die Hoffnung, bald das Brautbett zu beschreiten; Nur säh' ich gern, so sagt' ich ihm, sein Schwert An unsren andren Feinden erst bewährt. |
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38 | »Und bald allein und bald mit wenig Knechten Schickt' ich Alcest auf Abenteuer aus, Die tausend andren sichres Unheil brächten; Er aber kam als Sieger stets nach Haus Und wußte alles glücklich durchzufechten, Mit Ungetümen, mit verruchtem Graus, Mit Lästrygonen und mit wilden Riesen, Die unsrem Reich gefährlich sich erwiesen. 349 |
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39 | Eurystheus hieß der König von Mycenä, der auf Juno's Anstiften dem Hercules die bekannten zwölf Arbeiten auferlegte, in der Hoffnung, ihn dadurch aus dem Wege zu räumen. | »Nicht vom Eurystheus ward noch auch von seiner Stiefmutter Hercules umhergesandt Nach Ländern der Aetolier, der Lateiner, Nemea, Lerna, Thracien, Erymanth, Numidien und noch weiter, wie von meiner Blutgier, die immer neue Wünsch' erfand, Alcest umhergejagt ward auf der Erde, Damit ich seiner los und ledig werde. |
40 | »Als dies nicht half, sucht ich mit andern Ränken Ihm beizukommen und ich trieb ihn an, Die treusten seiner Freunde schwer zu kränken, Und macht' ihn so verhaßt bei jedermann. Er, der gewohnt war nur an eins zu denken, Mir zu gehorchen, und nichts andres sann, Folgt' ohne Zaudern blindlings meinen Winken Und schaute nicht zur Rechten noch zur Linken. |
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41 | »Als nun die Feinde Lydiens ganz und gar Auf diese Weise ausgerottet schienen Und durch Alcest Alcest geschlagen war Und keiner mehr geneigt war ihm zu dienen, Da sagt' ich endlich ihm ganz dürr und klar, Was ich vorher verhehlt mit falschen Mienen, Daß ich ihn stets gehaßt hab' und verflucht Und immer sein Verderben nur gesucht. 350 |
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42 | »Nur fürchtet' ich, wenn ich ihn selber tödte, Zu grausam vor den Menschen dazustehn; Denn allbekannt war, wie er uns erhöhte, Und große Schmach würd' über uns ergehn. So schien's genug mir, wenn ich ihm verböte Vor mich zu treten und mich anzusehn. Ich woll' ihn nimmer sehn noch mit ihm sprechen, Noch Boten hören oder Brief' erbrechen. |
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43 | »So unerhörter Undank und Verrat Hatt' ihm das Herz im Leibe umgewendet. Nachdem er um Erbarmen lange bat, Erkrankt' er schwer und hatte bald geendet. Zur Strafe jetzt für meine Missethat Triefen die Augen mir, mein Antlitz schändet Der schwarze Rauch. So wird es ewig sein, Denn keine Gnade giebt's für Höllenpein.« |
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44 | Da Lydia nicht weiter zu ihm spricht, So sucht Astolf nach mehr Vermaledeiten; Die Finsterniß wird aber bald so dicht, Des Undanks Rächerin, auf allen Seiten, Nur einen Schritt zu thun erlaubt sie nicht. Zurückzuschreiten gilt's – was sag' ich? schreiten? In vollem Laufe muß der Paladin, Damit der Rauch ihn nicht ersticke, fliehn. 351 |
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45 | Der rasche Wechsel seiner Sohlen glich Mehr scharfem Rennen als gelindem Trabe. Dem Abhang stets entgegen hielt er sich Und sah die Oeffnung aus dem Felsengrabe, Als ob die Luft, jüngst noch so schauerlich, Schon einen Streifen Lichtes an sich habe. Am Ende kam er keuchend aus dem Bauch Des Bergs hervor und ließ zurück den Rauch. |
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46 | Und um den Ausgang jenen zu verbau'n, Den grimmen Bestien, wenn sie wiederkommen, Schleppt er Gestein, eilt Bäume umzuhau'n (Das waren Pfefferbäum' und Kardamommen) Und macht aus diesen eine Art von Zaun Am Loch der Höhl' und macht ihn so vollkommen, Daß keine der Harpyien fortan Zur Oberwelt zurückgelangen kann. |
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47 | Der schwarze Rauch von jenem finstren Peche Im ruß'gen Schachte hatt' ihn nicht allein Besudelt auf der äußren Oberfläche, Auch unterhalb der Kleider drang er ein. So mußt' er denn sich umthun, ob er Bäche Und Quellen find', und unter einem Stein Fand er ein Brünnlein zwischen Kraut und Busch, Woselbst er sich am ganzen Leibe wusch. 352 |
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48 | Dann steigt er auf sein Flügelroß und schwebt, Zum Gipfel des Gebirgs empor sich wagend, Der fast zur Mondessphäre sich erhebt, (So glaubt man) alle Berge überragend. Von der Begier zu schaun entzündet, strebt Gen Himmel er, nichts nach der Erde fragend, Und höher steigt er, immer höher noch, Bis er erklommen hat des Berges Joch. |
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49 | Rubinen, Chrysolithen, dem Safir, Topasen, Golde, Demant und Opalen Sind alle Blumen ähnlich, welche hier Die Lüft' auf die beglückten Fluren malen. Der Rasen würde, wenn hienieden wir Ihn hätten, die Smaragden überstrahlen. Nicht minder herrlich ist der Bäume Grün, Die immer Früchte tragen, immer blühn. |
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50 | Die Vögel singen in dem schatt'gen Reiche, Purpurn und gelb und grün und weiß und blau. Rauschende Wasserbäch' und stille Teiche Zieren mit leuchtendem Krystall die Au. Ein leiser Windhauch, der wie immergleiche Musik dahinfließt, nimmer scharf und rauh, Schaukelt die Lüfte rings, damit am Tage Die Hitze nicht beschwerlich fall' und plage; 353 |
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51 | Und jeder Blum' und Frucht und jeder Pflanze Stiehlt er den Duft, wie er vorüberfährt, Und mischt die Wohlgerüche, daß das Ganze Mit Wonn' und Süßigkeit die Seele nährt. Im Feld' erhebt sich ein Palast, vom Glanze Lebend'ger Flamme wunderbar verklärt, Der solche Strahlen hellen Lichts entsendet, Wie ihr es nie auf unsrer Erde fändet. |
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52 | Zu diesem Wunderbau, der stolz und prächtig Wohl sieben Meilen in die Rund' umfaßt, Lenkt jetzt Astolf sein Luftroß fein bedächtig, Das Land bewundernd und den Lichtpalast, Und denkt bei sich, wie wüst und niederträchtig Und Gott und der Natur zugleich verhaßt Ist die von uns bewohnte garst'ge Welt! So schön ist's hier, so hell und wohlbestellt. |
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53 | Das Staunen aber wird zum heil'gen Schauer Als er den leuchtenden Palast erreicht: Ein einz'ger Edelstein die ganze Mauer, Vor dem Karfunkels rote Pracht erbleicht! O Wunder! o dädalischer Erbauer! Wo ist ein Menschenwerk, das diesem gleicht? Verstummen mag nur jeder, der die sieben Weltwunder uns so herrlich hat beschrieben. 354 |
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54 | Ein Greis trat aus dem lichten Säulengange Des sel'gen Hauses zu dem Paladin. Rot war der Mantel, weiß das Kleid, das lange, Der Milch gleich dieses, jener dem Karmin. Weiß war das Haupt und weiß vom Bart die Wange, Der bis zur Brust herabfloß, und es schien, Als komm' ein Seliger des Paradieses. Nie sah Astolf ein würdig Haupt wie dieses. |
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55 | Mit heitrem Antlitz war der Greis genaht, Und ehrerbietig stieg Astolf vom Pferde. Dann sprach er: »Prinz, der du nach Gottes Rat Emporsteigst in das Paradies der Erde, Obwohl du nicht das Ziel auf deinem Pfad Verstandest, noch was dir begegnen werde, Doch war's ein hoch Geheimniß, das im Flug Dich nach des Südens Hemisphäre trug. |
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56 | »Um zu erfahren, wie du helfen mußt, Karl und den heil'gen Glauben zu erretten, Kömmst du zu mir, des Zwecks dir unbewußt, Und suchest Rat an diesen heil'gen Stätten. Nicht glaube, Sohn, daß deine Wagelust, Dein Wissen dich hieher geleitet hätten. Dir hätte nicht dein Horn noch Flügelpferd Geholfen, hätt' es Gott dir nicht gewährt. 355 |
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57 | »Wir werden später noch die Art und Weise Besprechen, wie wir Kirch' und Reich befrein; Erst aber stärke dich mit Trank und Speise; Denn langes Fasten muß dir lästig sein.« So sprach er, und Astolf ging mit dem Greise, Und sein Erstaunen war gewiß nicht klein, Als er vernahm, er sei bei dem zu Gaste, Der einst das Evangelium verfaßte. |
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58 | Dies bezieht sich auf die Stelle Evangelium Johannis Cap. 21 V. 20 ff. »Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus lieb hatte und der auch an seiner Brust am Abendessen gelegen war und gesagt hatte: Herr, wer ist's, der dich verrät? Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: so ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es dich an? folge du mir nach. Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: dieser Jünger stirbet nicht. Aber Jesus sprach nicht zu ihm, er stirbet nicht, sondern: so ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es dich an?« | Des Heilands Liebling war es, Sanct Johann, Von dem in der Gemeinde ging die Sage, Daß er nicht sterben werde, was sodann Ursache ward, daß Gottes Sohn die Frage An Petrus that: was geht es dich denn an, Wenn ich ihn schone bis zum jüngsten Tage? Er sagte nicht, daß er nicht sterben sollte, Doch sieht man wohl, daß er es sagen wollte. |
59 | Hieher ward er entrückt und traf dort oben Henoch bereits, den Patriarchen, an; Auch der Prophet Elias weilte droben. Noch brach für die kein letzter Abend an, Und über unsre Seuchenluft erhoben, Genießen sie den ew'gen Lenz fortan, Bis die Posaun' ankündigt allem Volke, Daß Christus wiederkomm' auf weißer Wolke. 356 |
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60 | Freundlichen Willkomm fand bei diesen frommen Ehrwürd'gen Männern unser Paladin, Und auch der Gaul ward bestens aufgenommen, Und gutes Korn in Fülle gab's für ihn. Man ließ dem Ritter Früchte Edens kommen, So köstlich von Geschmack, daß es ihm schien, Den ersten Eltern sei es ein'germaßen Zu gut zu halten, daß sie davon aßen. |
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61 | Nachdem er der Natur auf alle Weise Den Zoll, den man ihr schuldet, dargebracht, Auch den der Ruhe, nicht nur den der Speise, (Denn alles war dort oben wohlbedacht,) Und als Aurora schied von ihrem Greise, Der trotz des Alters sie nicht mürrisch macht, Da trat ihm auch der Jünger schon entgegen, Der einst am Herzen Gottes hat gelegen, |
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62 | Nahm bei der Hand ihn und gab ihm Bericht Von mancherlei des Schweigens würd'gen Dingen; Dann sprach er: »Sohn, du weißt vielleicht noch nicht, Was für Gericht' im Abendland ergingen. Vernimm denn, euer Roland, der die Pflicht Verabsäumt hat, für's heil'ge Kreuz zu ringen, Wird drob von Gott gestraft; denn Gott vergiebt Am schwersten dem, den er am meisten liebt. 357 |
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63 | »Roland, dem Gott die höchste Tapferkeit Und höchste Stärke zum Geschenke machte, Den er vor allen Menschen so gefeit, Daß ihm kein Eisen jemals Schaden brachte, Weil er zum Schützer seiner Christenheit Auf solche Art ihn zu bestellen dachte, Wie er den Simson gegen Philistäer Zum Schützer hat bestellt für die Hebräer, |
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64 | Die Zerwürfnisse des verliebten Roland mit seinem Vetter Rinald kommen in Bojardo's Gedicht vor. | »Roland, dem solche Gnade ward gespendet, Vergalt es seinem Herrn mit schlechtem Lohn. Er hat vom gläub'gen Volk sich abgewendet Da Christi Feind' am ärgsten es bedrohn. Fluchwürd'ge Liebe hat ihn so verblendet, Zu einer Heidin, daß er zweimal schon Und öfter nah daran war, des getreuen Leiblichen Vetters Leben zu bedräuen. |
65 | »Darum hat Gott mit Wahnsinn ihn geschlagen Und hat verdunkelt seines Geistes Licht, Daß nackt er seine Scham zur Schau getragen Und keinen kennt, zumal sich selber nicht. So traf ja auch in den vergangnen Tagen Nebukadnezar Gottes Strafgericht, Der sieben Jahre lang von sich nicht wußte Und Heu und Gras, gleich Ochsen, fressen mußte. 358 |
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66 | »Weil aber Rolands Schuld geringer ist Als die, womit Nabuko sich beladen, So setzte Gott der Strafe kürzre Frist, Und nach drei Monden will er ihn begnaden. Zu keinem andren Zweck hat Jesus Christ Dich hergeführt zu uns auf weiten Pfaden, Als daß du hören sollst durch unsren Mund, Wie Roland wieder klug wird und gesund. |
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67 | »Du mußt nun freilich eine neue Reise Mit mir antreten, fern von dieser Welt. Entführen muß ich dich zum Mondeskreise, Der von Planeten uns zunächst sich hält. Denn dort ist die Arznei, durch die er weise Wie früher werden wird und hergestellt. Sobald der Mond uns wird zu Häupten stehen, Soll heute Nacht die Fahrt von statten gehen.« |
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68 | So und noch mancherlei sprach der erlauchte Apostel mit dem edlen Paladin. Als aber nun ins Meer die Sonne tauchte Und hoch im Blau des Mondes Horn erschien, Ließ er den Wagen rüsten, den man brauchte, Um durch die Himmel dort umherzuziehn, Auf dem Elias einst vor tausend Jahren Von Juda's Bergen war emporgefahren. 359 |
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69 | Das »ewige Feuer« ist hier nicht etwa das höllische, sondern die Feuersphäre, welche nach dem Ptolemäischen Weltsystem die Mondsphäre von der Erde trennt. Nach diesem System liegen zwischen dem Fixsternhimmel und der Erde sieben durchsichtige sich drehende Kugeln oder Sphären, jede einem der sieben Planeten (mit Einschluß der Sonne und des Mondes) entsprechend; der Mond ist der uns nächste dieser sieben Himmel, und die Erde wird als gemeinsamer Mittelpunkt aller Sphären »die letzte Kugel« genannt, von oben nach unten gerechnet. | Vier Rosse, röter als glutrote Blitze, Spannt' er ins Joch; dann ließ der heil'ge Mann Sich mit dem Herzog nieder auf dem Sitze Und nahm die Zügel und fuhr himmelan. Der Wagen stieg empor und durch die Hitze Des ew'gen Feuers flog das Viergespann. Der Greis indessen, durch ein Wunder, kühlte Das Feuer so, daß man die Glut nicht fühlte. |
70 | So durch die Feuersphäre ging's in einer Geraden Linie weiter nach dem Mond; Der nahm sich aus, als wär' es fleckenreiner Polirter Stahl, vom Roste ganz verschont, Etwa so groß, vielleicht ein wenig kleiner Als diese Kugel, die der Mensch bewohnt, Die letzte Sphäre, die man Erde heißt, Mit ihrem Meere, das sie rings umkreist. |
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71 | Zwei Wunder hatt' Astolf beim ersten Schauen; Daß in der Näh' so groß erschien dies Land, Das uns, wenn wir es ferne sehn im Blauen, Klein wie ein Teller scheint mit rundem Rand; Dann daß er nur mit eingekniffnen Brauen Die Erde mit dem Meer, das sie umspannt, Erkennen konnte; denn ohn' eignes Licht Wirft sie ihr Bild in weite Fernen nicht. 360 |
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72 | Andre Gefilde, andre See'n und Bäche Sind dort als unsre Felder, Bäch' und Seen, Andre Gebirg' und anders Thal und Fläche, Auf denen ihre Städt' und Burgen stehn Und Häuser, wie der Held, von dem ich spreche, Sie auf der Erde nie so groß gesehn. Auch hohe Wälder sieht man einsam ragen, Wo Nymphen stets die wilden Thiere jagen. |
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73 | Zu langer Umschau hat Astolf nicht Frist; Der Zweck, weshalb er kam, würd' es nicht dulden. Ihn führt der heilige Evangelist In eins der Thäler oder tiefen Mulden, Wo alles wunderbar beisammen ist, Was je ein Mensch verlor, sei's durch Verschulden, Sei es durch Zufall oder Zeitenlauf. Was hier verloren geht, dort hebt man's auf. |
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74 | Nicht Herrschaft nur und Reichtum, Heer' und Flotten, Darüber stets sein Rad der Wechsel schwingt, Ich mein' auch Güter, die Fortuna's spotten, Die uns der Zufall weder nimmt noch bringt. Auch Ruhm ist droben, welchen wie die Motten Die Zeit hier unten allgemach verschlingt; Dort oben sind Gebete, die wir baten, Gelübde zahllos, die wir Sünder thaten. 361 |
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75 | Die Thränen und die Seufzer heißer Liebe, Die leeren Stunden, die beim Spiel vergehn, Die lange Muße roher Tagediebe, Die eitlen Pläne, die wie Wind verwehn, Die nicht'gen Wünsch' und unfruchtbaren Triebe, Dies alles ist in Fülle dort zu sehn. Kurz, alle Dinge, die euch hier entschwinden, Dort könnt ihr sie, wenn ihr hinaufsteigt, finden. |
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76 | Astolf begann die Haufen zu durchspähen; Sein Führer, wann er frug, belehrte ihn. Da war ein Berg von Blasen, die sich blähen, Daraus Geschrei und Lärm zu tönen schien, Und er vernahm, das seien die Trophäen Der Griechen, Perser, derer vom Euxin, Der Lydier und Assyrer, großer Leute Zu ihrer Zeit und fast vergessen heute. |
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77 | Angeln von Gold und Silber sah er dann Und hörte, daß es die Geschenke seien, Die einem Fürsten oder mächt'gen Mann Die Menschen, auf Belohnung hoffend, weihen. Auch Schlingen unter Blumen traf er an, Und er vernahm, dies seien Schmeicheleien. Die Lobgedicht' auf ein regierend Haus Sehn droben wie geplatzte Heimchen aus. 362 |
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78 | Goldketten mit Juwelenschmuck bedeuten Schlimm ausgelaufne Liebeszärtlichkeit, Und Adlerklau'n die Macht, die seinen Leuten Ein König oder hoher Herr verleiht. Die Blasebälge mit gefüllten Häuten Sind Gunstbezeugungen, wie sie auf Zeit Die Fürsten ihren Ganymeden spenden, Die aber mit dem Lenz der Jugend enden. |
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79 | Da waren Städt' und Burgen in Ruin Und obendrauf viel Beutel voll Ducaten. Verträge sind's, belehrt Johannes ihn, Und die Complotte, die ein Freund verraten. Schlangen mit Mädchenköpfen sah er ziehn; Das sind der Dieb' und Münzer Missethaten. Dann sah er allerlei zerbrochne Flaschen; Das ist der Dienst bei Herrn mit leeren Taschen. |
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80 | Die angebliche Schenkung Kaiser Constantius an den Papst Sylvester, durch welche der Papst die Stadt Rom und anderes Gebiet zum Eigentum erhalten haben soll, wird von Ariost nicht als unächt, sondern als verderblich für die Kirche, deren weltfremde Reinheit damit verloren ging, einem stinkenden Haufen verfaulter Blumen verglichen. | In Massen sah er ausgelaufnen Brei, Und als er fragte, was denn der bedeute, Erfuhr er, daß es das Almosen sei, Das einer hinterläßt für arme Leute. Er kam an einem Blumenberg vorbei, Der gut gerochen hat, doch stinkt er heute; Dies (mit Verlaub) war Land, das Constantin Dem guten Papst Sylvester hat verliehn. 363 |
81 | Er sah unzähl'ge Ruten voller Leim, Und das sind eure Reize, schöne Frauen. Unmöglich wüßt' ich das in Vers und Reim Zu bringen, was er sah in jenen Auen; Denn nichts, was hier geschieht, bleibt dort geheim, In tausend Proben konnt' Astolf es schauen, Nur nicht die Narrheit; nirgend sah er die; Die bleibt hier unten und verläßt uns nie. |
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82 | Es traf sich, daß er viele Tag' und Thaten, Die er verloren hatte, droben fand. Daß sie es seien, hätt' er nicht erraten, Ging' ihm der kund'ge Deuter nicht zur Hand. Dann sah er, was wir nie von Gott erbaten, Weil jeder es zu haben glaubt: Verstand; Von diesem war ein Berg da, eine Menge Größer als alles sonstige Gepränge. |
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83 | Er war wie eine feine Flüssigkeit, Die man verschließt, damit sie nicht verrauche, Und ward verwahrt in Krügen, schmal und weit, Hoch oder niedrig, je nach dem Gebrauche. Der größte dieser Krüge trug zur Zeit Rolands gewaltigen Verstand im Bauche; Leicht war es zu erkennen; denn es stand Daran mit klarer Schrift »Rolands Verstand.« 364 |
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84 | An jedem Kruge stand der Name dessen, Der einst auf Erden den Verstand besaß. Astolf sah ein'gen, den er selbst besessen, Am meisten aber staunt' er, als er las, Wie viele, denen nach Astolfs Ermessen Auch nicht ein Quentchen fehlt am vollen Maß, Zu wenig hatten, wie er jetzt gewahrte, Weil man den größren Theil im Mond verwahrte. |
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85 | Der büßt' aus Liebe, der um Ruhm ihn ein, Der auf den Meeren bei der Jagd nach Schätzen, Der hinter magischen Alfanzerein, Auch manche die Vertraun auf Fürsten setzen, Der um Gemäld', um köstliches Gestein, Kurz all' um das, was sie vor allem schätzen. Sophisten, Astrologen und Poeten Waren daselbst in großer Zahl vertreten. |
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86 | Astolf nahm seinen mit; denn gern gewährt' es Er, der die dunkle Offenbarung schrieb. Er roch am Krug, und nicht sehr lange währt' es, So stieg der Geist ins Hirn. Und lange blieb Seit dieser Stund' Astolf (Turpin erklärt es) Vernünftig, und die Weisheit hatt' er lieb, Bis dann ein Fehltritt, den er sich erlaubte, Zum zweiten Male den Verstand ihm raubte. 365 |
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87 | Den größten, vollsten Krug, wo der Verstand Darin war, der einst Roland weise machte, Ergriff Astolf, und schwerer in der Hand Wog das Gefäß, als er zuvor sich dachte. Eh er herabfuhr in das tiefre Land Von jener lichterfüllten Kugel, brachte Der heil'ge Greis ihn in ein herrlich Schloß, An dessen Seit' ein Strom vorüberfloß. |
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88 | Ganz voll von Flockenbündeln war der Bau, Baumwoll' und Wolle, Seid' und Flachs war drinnen, Die trugen Farben aller Art zur Schau. Beschäftigt diese Rocken abzuspinnen, Saß vorn am Eingang eine alte Frau, Wie man zur Sommerszeit die Bäuerinnen Den Würmern von dem angenetzten Kleide Abhaspeln sieht des Jahres neue Seide. |
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89 | War dann ein Bündel fertig, kam ein Mann, Der neuen Vorrat bracht' und niedersetzte. Ein andres Weib schied das, was jene spann, Grobes und feines, so wie sie es schätzte. »Welch Werk ist dies, das ich nicht deuten kann?« So frug der Herzog, und der Greis versetzte: »Die Weiber sind die Parzen, die das Leben Euch Sterblichen aus solchen Fasern weben. 366 |
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90 | »Solang' ein Bündel währt, so lange nur Währt auch das Leben, bis auf die Secunde. Stets lauern hier der Tod und die Natur, Wann einer sterben soll, und holen Kunde. Die andre wählt jedwede schöne Schnur, Weil sie aus solchen nach der Todesstunde Schmuck für das Paradies und aus den schlechten Für die Verdammten scharfe Stricke flechten.« |
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91 | Wann sie ein Bündel von dem Spindellauf Abnahmen und es so gesondert hatten, Band man ein kleines Namensschild darauf, Eiserne, silbern' oder goldne Platten, Und legte dann in Schobern sie zuhauf, Von denen sie ein Alter ohn' Ermatten Hinwegtrug sonder Ruh und sonder Rast, Und immer wieder holt' er neue Last. |
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92 | So schnell und flink ist dieser alte Mann, Als wär' er nur geboren um zu rennen. Im Saum des Mantels schleppt er, was er kann, Von Schildern weg, die andrer Namen nennen. Wohin er ging und was er da begann, Das werdet ihr das nächste Mal erkennen, Wenn ihr nach alter Weise mir bekundet Durch freundliches Gehör, daß es euch mundet. 367 |