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Auf die ungeheure Sittenfreiheit am Ende des 18. Jahrhunderts, auf die erzwungene und auf höheren Befehl erfolgte Wohlanständigkeit des öffentlichen Lebens unter dem Empire, folgte um das Jahr 1818, vielleicht schon etwas früher, in allen Ländern eine große Zurückhaltung sowohl in den Ideen und Ansichten, als in den Lebensgewohnheiten und somit auch in der Eleganz der Frau. Jedem galt als das Höchste, so unauffallend wie möglich zu sein. Korrektheit, gute Lebensart, Höflichkeit und Anstand, unglaubliche Vornehmheit bis zur Steifheit und Langweiligkeit, die höchste Dezenz in Farben und Schmuck gehörten unbedingt zu den ersten Grundsätzen der Eleganz und des guten Tons. Der aufdringliche Reichtum und das falsche Dekorum des Empire hatten einer großen Einfachheit Platz gemacht. Die Frauen waren die Trägerinnen und Verbreiterinnen dieser Bewegung. Die militärische Note war aus den Salons gewichen. Männer von Geist und Talenten spielten eine Rolle, und die Frauen mit ihrer Anpassungsfähigkeit hörten ihnen begeistert zu. Fast jede hatte ihren literarischen Salon, in dem sie die mehr oder weniger bedeutenden Größen der Geisteswelt empfing. Fast jede hatte ihren Lieblingsvortragenden, zu dem sie in die literarischen oder wissenschaftlichen Vorlesungen lief. Man schwärmte für Dichter und Schriftsteller, schrieb wohl auch oder machte zum mindesten Verse. Viele Frauen dieser literarischen Welt erlebten die Romane selbst, die sie verfaßten oder die von ihren Freunden und Männern geschrieben wurden. Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Bettina von Arnim, Luise Brachmann, Dorothea Veit, keine dieser Romantikerinnen entging dem gefährlichen Gemisch von Sinnlichkeit, idealer Schwärmerei, unbändiger Leidenschaft und Geistigkeit. In Frankreich war Lamartine der verwöhnte Liebling der Frauen. Er veröffentlichte um diese Zeit seine berühmten »Poetischen und religiösen Harmonien«. Die Zeit war eine der reichsten an Meisterwerken der Literatur und an bedeutenden Geistesgrößen. Stendhal schrieb sein »Rouge et Noir«, Balzac seine »Szenen aus dem Privatleben« und die »Physiologie der Ehe«. Theophile Gautier gab den ersten Band seiner »Poesien« heraus. Victor Hugos »Hernani« erschien auf dem Theater. Die Literatur war wie die Musik in jedem Salon ein beliebtes Thema. Es gab keine Gesellschaft, keine Familie, in der nicht wenigstens ein Instrument zu finden war. Fast jede Frau spielte die Harfe oder das Pianoforte und sang dazu zur Freude und zum ästhetischen Genuß oder auch zum Schrecken ihrer Gäste. Musiker und Dichter hatten die gleichen Chancen bei den Damen.
Eine geistreiche Unterhaltung in den Salons wechselte ab mit Pfänderspielen, Scharaden oder mit einem Konter, einer Gavotte, einem »Schottischen«, einem »Englischen«, einer Polka oder einem Walzer. Im Jahre 1817 kamen auch die ersten Tanzkarten in Paris auf. Ragueneau erwähnt diese Erfindung in seiner »Chronique indiscrète«. Zuerst hatten sie wenig Erfolg, nach und nach führte sich diese Sitte, vor allem bei offiziellen Bällen, ein und verbreitete sich über alle Länder, besonders über Deutschland, wo sie sich bis ins 20. Jahrhundert in Mode hielt. Man tanzte jedoch weniger gut und viel als im 18. Jahrhundert und am Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Herren setzten sich lieber an den Spieltisch und zogen einer jungen Tänzerin die Pik-Dame der Karten vor.
Auf allen Bällen zeichneten sich die meisten Frauen durch auffallende Einfachheit aus. Brillanten und schreiender Schmuck waren von den Kleidern und aus den Haaren verschwunden. Man trug lieber die unprätentiösen Granaten oder die schönen, in ihrer Anspruchslosigkeit um so wirkungsvolleren Perlen, am liebsten aber einen massiven Goldschmuck, an dem man die Kunst geübter Goldschmiede bewunderte.
Die Hauptattraktion der eleganten Frau aber war die Coiffure und ganz besonders der Hut. Er war in solcher Vielfältigkeit nicht einmal bei den Engländerinnen, die schon lange die schönsten Hüte der Welt besaßen, erschienen. Von 1815 bis 1830 zählte man allein in Frankreich mehr als 10 000 verschiedene Hutformen und -moden, darunter auch Hauben und Mützen. Die romantische Kokette legte ihre ganze Sorgfalt auf den vorteilhaften Rahmen des Gesichts. Alle Modejournale der Zeit widmen den Hüten weit mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt als den Kleidern und Mänteln. Es gab Hüte aus Florentiner Stroh, Seidenplüschkapotten, Samtbaretts mit Federpanaschen, Hüte aus Gros de Naples oder Crêpe Bouilloné, Kapotten aus Perkal, Turbane aus Musselin, Toques à la Polonaise, Mützen à la Österreich, moabitische Turbane, Morgenhauben, sogenannte Cornettes, aus weißem Batist mit vielen zarten Spitzen, aber auch aus schwarzem Samt mit Tüll garniert. Und was für Hüte! Welche Dimensionen in der Höhe! »Sie erinnern«, meint ein guter Beobachter der Zeit witzelnd, »an die unmöglichen Infanterie-Tschakos der Großen Armee, nur daß man diesen schweren Möbeln noch ebenso hohe Töpfe aufsetzte. Außerdem vergegenwärtige man sich die gefüllten Torten aus dem Lande des Gargantua, und man hat eine vage Vorstellung von den massiven Kopfbedeckungen der romantischen Schönen, die mit Bändern, Blumen, Kokarden, Fransen, Tuffs, Schleifen, Rüschen, Federn und Aigretten überladen waren. Es sind Hüte für Kriegerinnen, Helme, die Kopf, Gesicht und Hals bedecken, ungeheuere Monstren, fürchterliche Pickelhauben, mit einem Wort: Hüte mit Sturmbändern, Helmdecken und Windfängern! Man hat Mühe zu glauben, daß derartig bizarre Meisterwerke jemals die lachenden und liebenswürdigen Gesichter unserer Frauen beschirmt haben.« Und wenn man die Modebilder der Zeit betrachtet, muß man diesem Kritiker recht geben. Die Taille wurde wieder länger und der Rock wieder weiter. Es gab wieder Unterröcke und sogar Beinkleider, die die Koketten unter dem ziemlich kurzen Kleid vorsehen ließen. In England wurden sie aus hygienischen Gründen empfohlen. Was noch vor einigen Jahren verpönt war, galt als elegant und smart. Durch die Verlängerung der Taille, die stark geschnürt wurde, gelangten die Damen von 1830 zur außergewöhnlichen Verbreiterung der Schultern. Die Puffärmel kamen in Mode und figurierten unter dem Namen Keulen- und Schinkenärmel oder wurden auch spöttisch Hammelkeule und Elefantenkeule genannt. Beim Dekolleté sind die Schultern ganz frei. Es ist für diese Zeit der höchste Reiz weiblicher Schönheit, einen schlanken Hals und runde Schultern zu besitzen. Und alle Damen legten Wert darauf, diese Reize soviel als möglich zur Geltung zu bringen. Das Korsett, das unter dem 18. Jahrhundert sehr primitiv ausgestattet war und unter dem Direktorium und Empire ganz verschwand, tritt von neuem in Gunst. Die Frauen schnüren sich derart, daß der Körper fast in zwei Hälften geteilt ist. Aber es sind jetzt wahre Kunstwerke von Fischbeingehäusen. Sie sind nicht mehr, wie früher, nur aus grobem, derbem Stoff, sondern aus Batist und Seide, und nur die billigen Mieder werden aus Köper gefertigt. Ein gutgearbeitetes elegantes Korsett kostete schon damals 80 bis 100 Mark. Manche dieser Mieder hatten Gummizüge und erweiterten oder verengerten sich je nach dem Körper. Das Mieder wird um 1850 erst richtig zum Gegenstand galanter Zeichnungen, und bedeutende Maler wie Rops sehen darin einen im hohen Grade erotisierenden Fetisch. Eine kleine Zugabe zu diesen Miedern ist ein kleines Kissen aus rosa oder weißem Atlas, das hinten an das Korsett angebunden wird, um der Figur mehr Rundung zu verleihen, ähnlich dem »cul de Paris« der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. »Die verschämte Lüsternheit der Biedermeierzeit hat hier zum ersten Male förmliche Orgien gefeiert«, sagt Fuchs. »Neben dem Korsett nahm man auch noch den Rock zu Hilfe. Man begann um dieselbe Zeit, die Zahl der Röcke zu vermehren, um dadurch die Hüften grotesk aufzupolstern. Damit aber entsprach man schon mehr der allgemeinen Tendenz, möglichst grob auf die Sinne zu wirken ...« Die künstliche Verbreiterung der Hüften und Schultern war die Reaktion auf die schlanke Linie des Empire. Um aber der Nacktheit den aufreizenden Nimbus des Versteckten zu geben, umhüllt ein breiter, oft pelzverbrämter Schal oder auch ein Umschlagetuch keusch die tiefentblößten Schultern. Beide Kleidungsstücke fehlen nie in den Garderobeschränken der Dame des Biedermeier, die uns Schwind, Richter und Spitzweg in ihren Bildnissen verkörpern. Es ist holde Weiblichkeit, Lieblichkeit und Grazie, aber auch viel falsche Keuschheit und Sentimentalität. Die Dame des Biedermeier stempelte die Natürlichkeit zur Unmoral. Sie mußte sich vor ihrem eigenen Geschlecht genieren. Sich zu entkleiden oder gar sich völlig hüllenlos, vielleicht im Bad, vor einer anderen Frau sehen zu lassen, galt als unschicklich. In den deutschen Seebädern lagen die Herren- und Damenbäder weit auseinander, und ein strenger Strandwächter paßte genau auf, daß die am Strande spazierengehenden Herren nicht in allzu große Nähe der schwimmenden und badenden Damen gerieten, um am Ende gar mit einem Fernglas einen kleinen, ganz kleinen weiblichen Reiz zu erspähen. Dabei war man damals im Badeanzug angezogener als im Abendkleid. Er verdeckte vom Hals bis zur Mitte der Wade den ganzen Körper. Manche Damen zogen sogar im Wasser Strümpfe an. »Die Verwechslung zwischen Nacktheit und Unmoral,« sagt Alexander von Gleichen-Rußwurm in seiner »Sittengeschichte des Bades«, »die dem Baden gegenüber theoretisch wie praktisch allzuoft ins Feld geführt wurde, brachte jenes Gefühl verletzter Schamhaftigkeit hervor, das im 19. Jahrhundert den Siegeszug der alten Badefreude noch lange aufhielt.« »Jede Woche einmal sollen wir unseren Taufbund erneuern, das heißt baden«, rät Weber im »Demokritos« der züchtig verschämten Biedermeierzeit. Man begriff immer noch nicht, daß Luft, Sonne und Wasser zur Erhöhung der Schönheit des Körpers Grundbedingungen sind.
Im Winter trugen verwöhnte Damen der Biedermeierzeit riesenhafte Muffs von Fuchspelz, Chinchilla und anderen wertvollen Fellen. Pelzboas und Federboas wurden mehrmals um den Hals geschlungen. Weniger kostbare Bibermäntel und mit Schwan besetzte Umhänge und Mäntel, sogenannte Palatins, trug man für die Straße und zu Schlittenpartien. Diese waren, wie zur Zeit Maria Antoinettes, auch unter dem Biedermeier sehr beliebt. Man konnte so herrlich dabei flirten, ohne, wie in der Enge eines Zimmers oder im Ballsaal, befürchten zu müssen, von allzu stürmischen Annäherungen der Männer bedrängt zu werden. Das gerade war der Frau des Biedermeier recht, denn es kam ihr jederzeit darauf an, den Schein einer korrekten Lebensführung aufrechtzuerhalten. So durfte eine vornehme Frau zu jener Zeit sich nicht öffentlich mit Schlittschuhen auf das Eis begeben. In Berlin hinter den Zelten liefen die elegantesten Kavaliere der Hofgesellschaft und anderer hoher Kreise Schlittschuh. Ihre Damen aber sahen entweder zu, oder ließen sich von ihnen in Stuhlschlitten lustig über die Eisfläche schieben. Es hätte ja vorkommen können, daß eine Dame beim Eislaufen hingefallen wäre, und das würde sich nicht mit der Korrektheit der damaligen Bürgermoral vereinbart haben. Reiten durften sie, aber nicht Schlittschuhlaufen. Das war noch ein ausschließlicher Männersport.
Es kam eine ganz junge, neue Gesellschaft zur Herrschaft und mit ihr ein neuer Frauentypus. Er erblühte unter dem Biedermeier in Deutschland sowohl wie in Frankreich. Seine hervorstechendste Eigenschaft war eine zwar liebenswürdige und poetische, aber etwas erkünstelte Melancholie und Sentimentalität. Sogar die am wenigsten sentimentalen Französinnen waren nicht frei davon. Veron in seinen »Memoiren eines Pariser Bürgers« sagt von den Pariserinnen dieser Zeit: »Geistreiche Frauen von einer gewissen Schönheit, einem gewissen aristokratischen Relief, einer neuen Eleganz und Einfachheit, der man indes nicht allzusehr trauen durfte, glänzten in allen Salons ... Die Politische, die Schöngeistige, die Literarische haben die Oberhand. Man müßte die verschiedenen Gesellschaftsklassen und deren verschiedene Anschauungen neu aufleben lassen, um den vornehmen Frauen gerecht zu werden, die hier in ihren Zirkeln und Gesellschaften zusammenkamen und sich Charme, Geist und Wetteifer gegenseitig streitig machten ...« In Frankreich waren es Frauen wie die reizende Marquise de Castries, eine junge zarte Schönheit mit hellen goldblonden Haaren, die Aufsehen erregte. »Wer sie nicht auf den Bällen der Herzogin von Berry tanzen sah,« meint derselbe Pariser Bürger, »kann sich zweifellos keinen Begriff machen von dem neuen ätherischen Frauentypus, den man in jener Zeit bewunderte.« Das »Journal des Dames et des Modes« brachte 1820 einen Artikel über das damalige Ideal einer eleganten Frau der Zeit, wonach sie schöne blonde, in Zöpfen hochfrisierte oder gescheitelte Haare haben mußte. Ein zierlicher Kaschmirschal ist leicht um die zarten runden Schultern von blendender Weiße geworfen. Die Augen der Schönen glänzen bald im lebhaftesten durchdringendsten Feuer, bald haben sie einen sinnverwirrenden, sehnsuchtsvoll melancholischen Ausdruck. Die Dame ist schlank, leichtfüßig. Ihre Figur ist biegsam und wollüstig. Wenn sie an der Harfe oder am Pianoforte sitzt und singt, wiegt sie sich mit einer Koketterie, die alle Männer in Ekstase versetzt. Sie ist Sappho. Sie ist die Corinne der Frau von Staël. Sie führt das harmonischste Leben von der Welt. Morgens nach dem Frühstück empfängt sie die Blumen-, Spitzen- und Modehändlerinnen. Dutzende von Girlanden aller Art künstlicher Blumen werden aus den Kartons gepackt, über die Harfe, das Pianoforte, über Stühle, Tische und Teppiche geworfen; jedes Kleid ist nahezu mit Blumen geschmückt. Es duftet nach köstlichen Parfüms, nach Lavendel und Flieder. Die Hüte und Kapotten werden alle nacheinander vor dem Spiegel probiert, die kostbaren echten Spitzen zu einem zarten Negligé oder einem leichten Kleid, zu Wäsche, Kragen und Fichus ausgesucht, wieder probiert, um vielleicht nach langer Überlegung doch endgültig verworfen zu werden. Alles wird zurückgeschickt! – Die Verwöhnte streckt sich enttäuscht auf ihrem Sofa aus und liest, das heißt nein, sie liest nicht. Sie ist zerstreut, nervös, sie hat von all dem Probieren Migräne. Man soll sie in Ruhe lassen. Sie setzt sich an ihren Stickrahmen, stickt in ein hauchdünnes Batisttuch in eine der Ecken Girlanden von Rosen und Myrten, in die andere einen Amor mit dem Pfeil. Dieses anakreontische Motiv ist dem »Damenalmanach« entnommen. Ist sie des Stickens müde, befiehlt sie ihren Wagen, wobei sie den kurzen weiten Rock beim Besteigen der Kalesche so hoch hebt, daß ein kleiner zierlicher Fuß, ein zartes, gutgeformtes Bein bis zum Knie und das elegante Strumpfband sichtbar wird. Nach Madame Foa, der Mitarbeiterin des »Livre de Cent et un«, mußte die Elegante der Romantikerzeit, um als Modedame zu gelten, etwas mehr als zwanzig und weniger als dreißig Jahre alt sein, und mädchenhafte Allüren haben. »Die Modedame ist immer mit großer Eleganz, aber einfach gekleidet. Niemals Brillanten und Juwelen – das hebt sich die Vorsichtige auf, wenn die Herrschaft ihrer Jugend und Schönheit vorbei sein wird. Die Modedame hat keine bestimmte und berühmte Modellschneiderin. Sie erfindet ihre Modelle und den Schnitt selbst oder läßt sich nur beraten. Ein einziges Mal – aber nur ein einziges Mal im Jahre – läßt sie sich ein Kleid bei einer der berühmten Kleiderkünstlerinnen machen.« Aber die großen Schneiderinnen wiederholen sich, und es ist so ärgerlich, auf einem Ball Kleider zu sehen, deren Physiognomie sich aufs Haar gleicht ... da könnte man Zustände bekommen! Die Modedame kommt zum Ball. Sobald sie aus dem Wagen steigt, wird sie von den sie erwartenden Kavalieren zum Tanz engagiert: auf der Treppe, auf dem Treppenabsatz, überall wird sie aufgefordert! Man hat sie gestern, vorgestern, ja bereits auf dem letzten Ball für die heute stattfindende Gesellschaft vorengagiert, so daß sie, wenn sie endlich den Ballsaal betritt, viel mehr Kontertänze und Walzer vergeben hat, als die ganze Nacht hindurch getanzt werden. Sie wird umschwärmt, umworben. Sie kann sich kaum bewegen; man bestürmt sie mit Fragen und Liebeserklärungen, auf die sie kaum Zeit findet zu antworten. Aber sie bleibt nicht lange in einer Gesellschaft. Wie ein Meteor erscheint, blendet und verschwindet sie. Und das wiederholt sie an einem Abend mehrmals in verschiedenen Gesellschaften. Dennoch kehrt sie sehr früh zurück, denn sie hält auf ihre Jugendfrische und hütet sich, ihre Schönheit allzufrüh durch nächtliches Schwärmen zu verderben. Noch ehe Tanzen und Müdigkeit den Glanz ihrer Augen matt gemacht haben, noch ehe ihre reizende Frisur in Unordnung geraten, noch ehe ihre Toilette zerdrückt ist, kehrt sie in ihr Ankleidezimmer zurück, um sich sorgfältig für die Nacht herzurichten. Dann schläft sie mit dem befriedigenden Gedanken ein, daß ihr Abend ausgefüllt war und harmonisch verlaufen ist. Man wird von ihr sagen: Sie war nur einen Augenblick da! Sie hat so viele gesellschaftliche Verpflichtungen! Kaum, daß man sie einen Augenblick zu Gesicht bekommt. Aber nie, nie war sie so schön wie heute! Die Dame von 1850 steht spät auf, verbringt ihren Vormittag in ihrem Boudoir, wo sie entweder malt, musiziert oder singt, ihre Kinder, wenn sie welche hat, selbst versorgt, ihren Haushalt leitet. Denn die eleganten Frauen des 19. Jahrhunderts machen das alles selbst und geben es sogar zu! Gegen vier Uhr besteigt sie ihren Wagen und fährt aus. In Paris ist ihr Ziel das Bois de Boulogne, in London der Hyde Park, in Berlin der Tiergarten. Manchmal erwartet der Diener sie mit einem gesattelten Pferd. Sieben bis acht Kavaliere, ihre Tänzer von gestern, sind ihre Begleiter. Bei schlechtem Wetter macht Madame Besuche und Einkäufe. Abends besucht sie die Oper oder Operette, Bälle, Diners etc. So geht es weiter bis zum Frühjahr, wo die Dame, die etwas auf sich, ihren Ruf und ihre Schönheit hält, die Großstadt verläßt und aufs Land oder an die See geht. Im Herbst kehrt sie dann schöner und frischer denn je zurück und ist aufs neue für die Anstrengungen des Winters gestärkt und gewappnet. Der einzige Sport, den die Frau in Deutschland und Frankreich betreibt, ist der Reitsport. Während sie in England bereits seit langem Tennis spielt und sich an anderen Rasensports beteiligt, ebenso auf dem Eise sich tummelt wie der Mann, darf die Dame des Kontinents nur als Amazone ihrem Körper Bewegung verschaffen. Die Mode des Reitens verbreitete sich unter den Frauen zwischen 1830–1835 ungemein. Man wollte es den englischen Reiterinnen gleichtun. Auf jeder Promenade begegnete man eleganten Reiterinnen. Aber der gute Ton verlangte es, daß jede Dame mindestens zwei bis drei Kavaliere neben sich hatte, während ein Stallmeister einige hundert Meter hinterherritt. Das sehr lange Reitkleid war aus farbigem Tuch mit einer weißen Batistweste. Um den Hals ein weißer Batistkragen mit einer karierten Krawatte, oder auch einer Schleife in der Farbe des Reitrocks, Reithosen mit Stegen, kleine Stiefeletten, sämisch lederne Handschuhe, die Reitpeitsche aus Rhinozerosleder oder die zierliche Reitgerte vervollständigten das Reitkostüm. Dazu trugen die kühnen Amazonen sehr unpraktische Hüte aus starkem Seidenstoff mit Pfauen- und Fasanenfedern. Nur die Praktischen und Sportlichen setzten eine Mütze, eine Kappe, vielleicht auch einen Filzhut auf, was ihnen den für die damalige Zeit seltenen knabenhaften Typus verlieh.
Die Frauen von 1830 waren jünger, frischer, anmutiger und lieblicher als die Damen des Empire. Vielleicht weniger schön, besitzen die Frauen dieser Zeit einen größeren mädchenhafteren Charme. Sie sind sanft, hingebend, mehr zärtlich als leidenschaftlich, wenigstens dem äußeren Anscheine nach – sie scheinen der wilden, unbändigen Sinnlichkeit des vorigen Jahrhunderts entsagt zu haben, wo kein Liebhaber, kein Gatte seiner Geliebten oder Gattin sicher war. Sie wissen, was sich gehört, was sich schickt, und wenn sie auch nicht auf verbotene Früchte verzichten, so vermeiden sie doch jeden Skandal, jede Auffälligkeit. Fast jede Frau hat zwar einen Geliebten, aber sie tut sehr tugendhaft, und in der Beichte erleichtert sie ihr sündhaftes Herz. Es sind die Frauen Balzacs. Sie sind weiblicher. Alle haben das Wesen junger Mädchen, auch Frauen in reiferen Jahren. Rassefrauen! Wie die Gräfin Anastasia von Restaud im »Père Goriot«. »Sie hatte wunderschöne Hände,« heißt es darin, »kleine schmale Füße, lebhafte Bewegungen. Nicht mit Unrecht nannte sie der Marquis Ronquerolles ein Vollblut. Ihre nervöse Zartheit beeinträchtigte ihre übrigen Reize nicht. Sie besaß schöne gerundete Formen, ohne zur Fülle zu neigen. Vollblut! Eine rassige Frau!« In ihren weißen duftigen Kleidern, mit ihren Unschuldsmienen und sentimentalem Augenaufschlag wirken diese Rassefrauen dennoch alle wie himmlische ätherische Wesen.
Selbst die Damen vom Theater, die noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts beinahe als Parias der Gesellschaft angesehen wurden und es zum Teil auch waren, umhüllen sich mit dem Mantel der Tugend und Keuschheit. Die entzückende Henriette Sontag wurde förmlich von Anbetern, jungen und alten Lebemännern, umlagert, aber sie hielt sie alle mit ihrer Unschuld und Tugendhaftigkeit in Schach. Weder Fürsten noch Herzöge hatten bei ihr Glück. Sie gewährte ihnen wohl bisweilen kleine harmlose Zärtlichkeiten, einen »Kuß in Ehren«, aber zur Mätresse konnte sie keiner bekommen, wie sehr sich auch mancher ihrer Verehrer danach sehnen mochte. Fürst Pückler, der von ihr sagte, »c'est le plus joli petit genre«, und sie müßte wohl eine allerliebste Mätresse abgeben, hoffte vergebens auf dieses Glück. Im Jahre 1828 sah er sie in den hohen aristokratischen Kreisen Londons wieder, wo sie sowohl durch ihre fabelhafte Stimme als auch mit ihrer reizenden natürlichen Anmut und ihrem heiteren naiven Wesen Triumphe feierte. Pückler hatte das Glück, sie eines Abends in einer geschlossenen Kutsche nach Hause zu fahren. Aber außer ein paar Küssen und Zärtlichkeiten gestattete ihm die schöne Künstlerin nicht das geringste. Er schrieb über diese romantische Heimfahrt am 4. Mai noch in der Nacht um 1 Uhr an Lucie: »Bis es dunkel ward, wurde geritten, gelaufen, schöne Aussichten und dann Greenwichs Merkwürdigkeiten besehen. Bei Licht und Sonnenschein zugleich aßen wir über dem Wasser am offenen Fenster, und um 12 Uhr erst fuhren wir im vollzugemachten Wagen zu (!) Haus. Du kennst meine Art, solche Gelegenheiten nicht unbenutzt zu lassen, wenn ich gleich vor ihr auch fürchten würde, unzart zu sein. Im Anfang war man scheu, bös – am Ende gab man doch ein wenig nach, und ehe wir zu (!) Hause kamen, war zwar nichts Unanständiges geschehen, aber doch, was Zärtlichkeit eingeben kann, ausgetauscht. Te voilà satisfait maintenant, denn die Eitelkeit ist wenigstens befriedigt, wirst Du sagen – aber weiter kann ich auch nicht gehen wollen, wenn es mir auch gelänge –, es wäre schlecht auf der einen, unvernünftig auf der anderen Seite, weil es mich, wenn fortgesetzt, in der Verfolgung meiner Pläne hindern müßte! Aber das muß ich sagen, weil es wahr ist – ein reizenderes Geschöpf, eine lieblichere Natur, ganz anders wie ich glaubte, fand ich noch nie.« Fürst Pückler stellte noch vielen schönen Damen der Bühne nach und überhäufte sie mit Geschenken, er mußte sich aber auch noch von anderen als von Henriette Sontag Absagen und Zurechtweisungen gefallen lassen. Die Schauspielerinnen und Sängerinnen des Biedermeier waren bürgerlich eingestellt und wiesen im allgemeinen alle galanten Abenteuer von sich. Sabine Heinefetter, deren »schwarze orientalische Augen«, das »heroische vortreffliche Spiel und der herrliche Gesang« den Fürsten Pückler so hinrissen, daß er ihr kostbare Schmucksachen in die Loge schickte mit der Bitte, ihm ein Rendezvous zu gewähren und seine Freundin zu werden, antwortete ihm in sanft abweisendem Ton, aber doch sehr bestimmt: »Zu einer solchen Liebe und Freundschaft ist eine galante Dame weit besser an ihrem Platz. – Ich bin es mir und Ihnen schuldig, ganz aufrichtig mich auszusprechen. Glauben Sie denn, Sie wären der Erste, der mir solche glänzende und freundschaftliche Anerbieten macht? – Wenn mein Herz auch töricht genug war, zuweilen nicht gleichgültig für solche Männer zu sein, so machte mich doch immer noch zu guter Stunde die Vernunft aufmerksam, zu welchem niedrigen Zweck die Liebe und Freundschaft dieser vornehmen, vom Glücke und der Welt verwöhnten Menschen führt.« Dabei war die schöne Sabine durchaus nicht als Kind von sorglichen Mutterhänden vor den Gefahren des Lebens behütet und bewacht worden. Sie stammte aus sehr armen Verhältnissen und verdiente sich schon als kleines Mädel als Harfenspielerin in Gasthöfen und Schänken ihr Brot. Dennoch blieb sie ehrbar.
Man könnte noch eine Menge Beispiele von sittenreinen Künstlerinnen aus der Biedermeierzeit anführen. Auguste Crelinger, Madame Devrient, die Gattin Ludwig Devrients, waren wohl sehr hübsche und elegante Frauen, aber viel eher Hausfrauen und gute Mütter als Damen, die mit ihrer Theaterkarriere das Leben von Hetären verschmolzen, wie es im 18. Jahrhundert als selbstverständlich betrachtet wurde. Sogar die Sängerin Caroline Bauer, deren Leben durchaus nicht frei von Liebesverhältnissen war, fühlte sich verpflichtet, in ihren Memoiren ihre Tugend in den Vordergrund zu stellen. Ihr Erlebnis mit dem größten damaligen Berliner Don Juan, Prinz August von Preußen, einem Bruder des Prinzen Louis Ferdinand, beschäftigte ganz Berlin im Jahre 1825. Caroline Bauer war nicht nur empört über die Zudringlichkeit und den Zynismus, womit der Prinz sie zu erobern suchte, sondern sie urteilte auch streng über seine zahlreichen Liebesverhältnisse, die sogar vom König Friedrich Wilhelm III. öffentlich anerkannt wurden. Als Prinz August das hübsche Mädchen zum erstenmal bei einer Theateraufführung im Palais sah, entflammten sich sofort seine Sinne. »Er kam«, nach Carolines eigener Schilderung, »mit seinem Faunlächeln« auf die anwesenden Schauspielerinnen zu – »wie ein siegesbewußter Pascha, der seine Sklavinnen mustert: welcher er sein Taschentuch zuwerfen soll!« Er redete sie allein von allen Künstlerinnen an, und seine Worte waren derart, seine dunklen Augen ruhten so verzehrend auf ihrer schönen Figur, daß Fräulein Bauer erröten mußte. Wie ein Sportsmann ein schönes Pferd lobt, so hatte er alle Einzelheiten ihres Körpers gepriesen. In den nächsten Tagen erhielt sie die prachtvollsten Blumen, und schließlich glaubte er sie mit Juwelen erobern zu können. Er war der reichste Prinz am preußischen Hofe und hatte »Hunderte von Mätressen«; darunter als anerkannte Sultaninnen die beiden Schönheiten Mademoiselle Wichmann, spätere Gräfin Waldenburg, und die reizende Jüdin Arens, die als Frau von Prillwitz in den Adelsstand erhoben wurde. Caroline Bauer sollte wohl zur dritten anerkannten Haremsdame ausgewählt werden. Und da sie nicht aus freiem Willen auf des Prinzen Werbung einging, machte er es ganz ähnlich wie die französischen Herzöge des Rokoko. Er gebrauchte List und Gewalt, vergaß indes, daß er nicht mehr in jener galanten Epoche lebte, wo die Frauen auf solche Abenteuer warteten und eingingen. Caroline lebte in der Zeit des Biedermeier und besaß bürgerliche Moral! Prinz August hatte eine ehemalige Geliebte, Madame Kracau, ins Geheimnis gezogen. Sie mußte die junge Sängerin unter einem Vorwand bewegen, mit in ihre Wohnung zu kommen. Als Caroline eine Weile bei der skrupellosen Dame gesessen hatte, ging plötzlich die Tür auf, und Prinz August »näherte sich mit siegessicherem Faunlächeln«. – »Gleichzeitig hörte ich,« fährt Caroline in ihren Memoiren fort, »daß die Tür, durch die ich dies Zimmer vom Flur betreten hatte, von außen leise verschlossen wurde. – Noch zwei Schritte, und Prinz Don Juan hätte mich in seinen Armen gehalten. – Da kam über mich, die sonst so leicht Eingeschüchterte, eine Courage – der höchsten Angst. Mit lautem Hilfeschrei sprang ich auf, warf dem Prinzen den schwarzen Klavierstuhl vor die Füße – stürzte ans Fenster, riß die Töpfe mit den verführerischen weißen Blumen herab und den Flügel auf – und sprang schreiend auf die Straße ... noch ehe der verdutzte Verfolger mich am Gewande erhaschen konnte ... In höchster Aufregung – ohne Hut, ohne Schal und unter dem Zusammenlaufen der fragenden, rufenden, drängenden Nachbarn und Passanten eilte ich in fliegender Hast und fast sinnlos aus der Neuen Wilhelmstraße den Linden zu.« – Dort rannte die Geängstigte zum Glück einem guten Bekannten in die Arme, der sie dann nach Hause brachte. Die Geschichte hatte noch ein Nachspiel. Madame Kracau wurde wegen gewaltsamer Kuppelei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und der stürmische Prinz August mußte auf Befehl des Königs eine Zeitlang dienstlich Berlin verlassen.
Es gab natürlich auch zur Biedermeierzeit und in Berlin Theaterdamen, die es mit der Moral ebensowenig genau nahmen wie ihre Kolleginnen in Frankreich zur galanten Zeit. Von den Nachtfesten der überaus verschwenderischen, eleganten und schönen Henriette Baranius weiß die Chronique scandaleuse nicht nur am Ende des 18. Jahrhunderts, sondern auch noch in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. viele Geschichten zu erzählen. Sie skandalisierte durch ihr herausforderndes Auftreten ganz Berlin und lebte im größten Überfluß und Prunk. Schließlich wurde sie aus der Stadt und von der Berliner Bühne verwiesen, kehrte indes wieder zurück und lebte ihr verschwenderisches Leben weiter. Etwas später, etwa um 1835–1846, erregte Charlotte von Hagn als Schönheit und geistsprühende deutsche Bühnenkünstlerin Aufsehen. Auch sie war nicht prüde und hatte stets einen großen Kreis Verehrer um sich. Sie verkörperte das Schönheitsideal des Biedermeier so vollkommen, daß Alexander Freiherr von Ungern-Sternberg in seinen höchst interessanten »Erinnerungsblättern« begeistert ausruft: »Diese Künstlerin hatte den vollendet schönsten Körper, den ich je gesehen. Alles an ihr war Ebenmaß und Grazie. Der Ansatz des Kopfes, das Verhältnis der Schultern, der Nacken und die Oberarme waren köstliche Vorbilder für den Meißel, und selbst die Antike hatte nichts Schöneres aufzuweisen ... Zu diesen Reizen des Körpers denke man sich noch die vollendetste Kunst der Toilette, ein ›nicht zu viel‹ an Putz, eine kokette Einfachheit, ein Kunstsinn in Seide und Spitzen übertragen, eine Ästhetik in Perlen und Armbändern, und man wird mir recht geben, daß diese Künstlerin ein Juwel erster Schönheit auf den Brettern war.« Sie war es übrigens auch im Privatleben. Sie verstand ihre außerordentliche Schönheit mit einer geistvollen Unterhaltung und viel Witz noch reizvoller zu machen. A. W. von Schlegel, Gutzkow und viele andere Geistesgrößen ihrer Zeit waren von ihrem prickelnden Unterhaltungston und ihrer außerordentlichen Liebenswürdigkeit hingerissen.
»Der Umschwung, oder wenn man sagen will: Das Ende der Flegeljahre des bürgerlichen Zeitalters«, sagt Fuchs, »trat zuerst in England, und zwar in der Zeit von 1820–1830 ein. Dieser Umschwung war hier so gründlich, daß man auf den ersten Blick wähnen konnte, um diese Zeit sei wieder ein völlig neues Zeitalter angebrochen; derart diametral verschieden ist die gesamte Physiognomie der Menschen und Dinge von nun ab gegenüber der eben abgeschlossenen Epoche. In Wahrheit hatte sich am Inhalt aber nur so viel geändert, als eben das neue Kostüm unbedingt erforderte. Und nur einen neuen Frack hatte man sich angelegt: den Soliditätsfrack des respektablen Bürgers, den hinfort jeder öffentlich tragen mußte, wenn er zur anständigen Gesellschaft zählen wollte. In Frankreich und Deutschland war der Übergang, als er eintrat, nicht entfernt so auffällig, wenn auch ebenso gründlich, weil hier die Menschen des neuen Zeitalters nie ganz aus ihrem Philisterfrack herausgeschlüpft waren, so brauchten sie nur eine ernste und ›gesetzte‹ Miene aufzuweisen, um sich den neuen Bedingungen des Lebens alsbald würdig anzupassen ... ›Wahrung des äußeren Anstands‹, so lautete also hinfort das Gesetz der bourgeoisen Gesellschaftsordnung, dem sich jedermann unterwerfen mußte.« Zum mindesten war die Gesellschaft weniger terre à terre, weniger heidnisch in ihren Neigungen und Leidenschaften, als sie es am Ausgang des 18. Jahrhunderts gewesen war. Man kultivierte eine äußerst feine Lebensart, einen ritterlichen Geist, eine vielseitige Intelligenz. Literarische und wissenschaftliche Fragen beherrschten sowohl die Akademien wie die Salons der vornehmen Welt. Die Ritter des Geistes wurden belohnt durch unverbrüchliche Treue ihrer Gattinnen oder Freundinnen oft bis über den Tod hinaus. Die Frau des Biedermeier konnte Opfer bringen, wie jene rührende Dichtersgattin Charlotte Stieglitz. »Sie gab sich«, sagt Scherr, Kulturgeschichte der Deutschen Frau. In drei Bänden nach den Quellen von Johannes Scherr. Hrsg. v. Max Bauer. Paul Aretz Verlag, Dresden. »in der Nacht vom 29. auf den 30. Dezember 1854 in Berlin mit einer Ruhe und Gefaßtheit, mit einer keuschen Würde ohnegleichen in der Fülle ihrer Jugend und Schönheit den Tod, um durch das Entsetzen über eine ungeheure Opfertat den von ihr geglaubten Dichtergenius ihres Gatten zu entbinden.«
Aber den feinsten Geist dieser Zeit verkörperte wohl Rahel Levin, die spätere Gattin Varnhagen von Enses. Sie war sicher die größte Gesellschaftskünstlerin, die es je gegeben hat. Nach dem Zeugnis eines ihrer Zeitgenossen von 1850 war sie, ohne schön und elegant zu sein, »immer und überall dieselbe heitere, erfreuende Erscheinung, belebt und belebend, aufrichtig, klar, freundlich, immer und überall übte sie ihr angeborenes Talent des edelsten Menschenumgangs, nicht vordringend, aber auch nie zurückgezogen, sondern recht eigentlich gegenwärtig, mit gutem Willen und reger Seele. Doch hatte sie bei sich zu Hause noch den Vorzug, daß die unbestrittene Verpflichtung der Fürsorge für alle Anwesenden ihren wohltuenden Eifer nur erhöhte und ihn auch in unscheinbaren Dingen wirksam eintreten ließ; dagegen sie auf fremdem Boden sich mehr enthielt, solange nicht ein auffallender Anlaß ihr reizbares Gefühl zum Besten des Ganzen oder Einzelnen in lebhaftere Tätigkeit setzte. Dann konnte auch sie mit aller Geistesmacht hervortreten und mit schöner Leidenschaft und rücksichtslosem Mute das Unrecht bekämpfen, die Verkehrtheit berichtigen und anmaßlichen Unsinn durch das volle Licht der Wahrheit in seine Nichtigkeit auflösen. So war sie denn mehr als eine vortreffliche Dienerin der Geselligkeit, wozu meistens eine gebildete, feine, wohlmeinende Negation ausreicht: sie war zugleich eine Meisterin der Gesellschaft, welche ihr das Gute mit mutiger Entschlossenheit aufzuerlegen, ihr das Schlechte schonungslos abzustrafen nie müde wurde.« – Es mutet daher um so seltsamer an, wenn die Gattin Clemens Brentanos, eine Nichte des hochangesehenen Bankiers Bethmann in Frankfurt, wenige Tage nach der Trauung ihren Ehering zum Fenster hinausschleudert oder zum Ärger ihres Mannes im »wunderlichsten Aufzug, mit Schwungfedern auf dem Kopf und roter, weithin fliegender Pferdedecke durch die Straßen von Kassel sprengte. Die Fertigkeit, mit der Frau Auguste mit den Füßen an die Bettstatt die Trommel zu schlagen verstand, wo dann dem Wirbel regelmäßig ein mit den Nägeln der Zehen ausgeführtes Pizzicato folgte, wurde dem Dichter zuletzt so unerträglich, daß seine Standhaftigkeit erlag und er davonlief.« Solche Frauen mögen Ausnahmen gewesen sein, die die »blaue Blume« der Romantik mit Füßen traten. Aber auch andere geistvolle Frauen dieser Zeit, die den Ruf genossen, eine »Elfenseele« zu besitzen, ein ewiges »Kind« zu sein, »das uns seine wunderlichen Einfälle vorplauderte, wann, wo und wie sie ihm gerade durch den Kopf fuhren«, begingen Verstöße gegen den guten Ton in dieser bürgerlichen Atmosphäre. In den Salons der vornehmen Berliner Gesellschaft legte Bettina von Arnim ungeniert ihr Bein über den Stuhl, so daß man ihre mit vielen Volants besetzten Unterröcke und vor allem ihre Waden zu sehen bekam. Denn trotz allem Männlichen, das in ihr war, besaß diese exzentrischste aller Romantikerinnen eine große Dosis Koketterie und echt weiblicher Gefallsucht. Vor allem aber machte es ihr Spaß, den damaligen gezierten Ton, die Heuchelei des Bürgertums, besonders in den sehr in Mode gebrachten Teegesellschaften, zu verspotten und herauszufordern. Einmal erschien sie als erste in einer solchen Gesellschaft und versteckte sich hinter einem Wandschirm. Nach und nach kamen die Freundinnen und man ging daran, über die abwesende Bettina zu reden. Plötzlich trat die Geschmähte, nachdem sie alles angehört hatte, unbefangen hervor und sagte: »Ja, ich bin eine abscheuliche Person, aber ich will mich bessern.«
Diese Tees waren in Deutschland besonders beliebt. Es wurde bald zur wahren Sucht unter den Frauen der guten Gesellschaft, solche Teeabende zu arrangieren, ebenso wie eine jede ihren »literarischen« Salon haben wollte. Die Verlogenheit und Falschheit des gesellschaftlichen Lebens kam bei diesen »ästhetischen Tees« so recht zum Vorschein, und viele geistreiche Köpfe der Zeit haben sich darüber lustig gemacht. Am besten charakterisiert diese geschraubte Geselligkeit jenes Gedicht des Bruders der Rahel Varnhagen:
Blumen und Kerzen,
Spiegel und Lichter.
Geschnürte Herzen,
Bewachte Gesichter. –
Dort Federn und Spitzen
Und türkische Schale,
Sind Damen, die sitzen
Im Kreise im Saale.
Und ferne stehen
Die Söhne, die Gatten,
Schwarz wie die Krähen
Mit weißen Krawatten. –
Grüßendes Neigen,
Tonloses Summen,
Verlegenes Schweigen,
Sprödes Verstummen.
Ein laulich Gebräue
Mit Zucker und Sahne,
Und immer aufs neue
Die schwache Tisane,
Und Kuchen und Backwerk,
Und Backwerk und Torte;
Man eröffnet zum Hackwerk
Das Pianoforte. –
Nun trillern und stümpern
Die Virtuosen
Und Tassen klimpern
Und Diener tosen.
Es flüstern und zischen
Die Frau'n unersättlich
Und rufen dazwischen:
Ah! bravo! Wie göttlich! –
Es werden die Zimmer
Stets heißer und enger
Und immer und immer
Die Weile länger. –
Und diese Langeweile erstreckte sich bis auf die Wohnungen der Biedermeierzeit. Sie waren zwar geschmackvoll, aber sehr einfach und in mancher Beziehung kalt eingerichtet, alles machte einen bürgerlichen Eindruck. Nicht nur in Deutschland, das verarmt war, sondern auch in Frankreich. Selbst die Schlafzimmer und Boudoirs der Pariserinnen, die zu jeder Zeit den größten Wert auf diese intimen Räume gelegt hatten, entbehrten jener Wärme und verführerischen Wohlbehagens, mit denen sie in den vorhergehenden Jahrhunderten ausgestattet waren. Man betrachtete sie als eine Art Salon, eine Art Prunkzimmer, aus dem alles Intime verbannt war. Die Einrichtung bestand gewöhnlich aus einer Kommode, einem Sekretär, einem Handarbeitskorb, einem großen Spiegel, der sogenannten »Psyche«, und einem kleinen Kanapee neben dem Bett. Nicht selten befand sich auch ein Pianoforte im Zimmer. Das Bett stand diskret in einer Nische oder einem Alkoven und wurde von weißem Mull oder bunten Vorhängen verdeckt. Da alles auf Repräsentation gestimmt war, war auch das Ankleidezimmer einer eleganten Frau kalt und förmlich, ohne Komfort und beinahe einfach. Nichts schloß auf verheißende Liebesstunden; keine weichen wollüstigen Polster, keine schwellenden duftigen Kissen, wie im 18. Jahrhundert, lockten im Schlafzimmer der Koketten zu tändelndem Liebesscherz. Alles war kühl, beinahe jungfräulich. Die Kanapees, die Sessel mit den steifen Lehnen, sogar das Bett schien jede Hingebung, jede Zärtlichkeit aus diesen Heiligtümern der Frauen zu verbannen. Man träumte hier nur im blauen Dunst der Ideale. Dazu besaß die Frau, wie in keiner anderen Zeit, eine Unmenge spielerische Nippes. Ihre Nähtische und Schreibtische waren voll davon. Besonders liebte die Berlinerin sich mit diesem nötigen und unnötigen Kleinkram zu umgeben. Hans Ostwald hat alle diese Sächelchen in seiner »Berlinerin« mit großem Verständnis für die Bedürfnisse einer verwöhnten Biedermeierdame aufgezählt. »Whistkarten so klein, als wenn sie für Puppen bestimmt wären, in fein ziseliertem Silberschächtelchen. Silberne Nähbestecke in Zwergformat, fein graviert und mit Edelsteinen besetzt, in zierlichen Lederetuis. Niedliche Häuschen aus Zitronenholz mit Intarsien oder Silberbeschlägen öffneten unter einem leichten Fingerdruck sechs oder acht Türen und boten bei einer lieblichen Spieldosenmusik verschiedene Parfüms in fein geschliffenen vergoldeten Flakons. In dem Berlin von damals, das nach den Kriegen noch nicht zweihunderttausend Menschen bewohnten, das sich aber in den Jahrzehnten vor der Revolution verdoppelte, gab es schon mehrere Luxusläden, in denen die Herren Aufmerksamkeiten für ihre Damen kaufen konnten. Dosen, Necessaires, Schnallen, Bonbonnieren, Flakons, Regenmäntel, Reise- und Badekappen, Geldschatullen, englische Sattel- und Reitzeuge, Pariser Schuhe, elegante Silber- und Goldwaren, Stahlwaren, Schnallen, Scheren und viele andere Gegenstände und Gebrauchsartikel für elegante Damen. Alle diese Sachen und Sächelchen waren mit einem köstlichen Geschmack und einer feinen formvollen Empfindung ausgestattet ... Viel Interesse wurde den Glückwünschen zugewendet. Sie dienten der Freude, der heute die illustrierten Zeitschriften entgegenkommen: kleine gefällige Lebensabbildungen und unterhaltsames Bildermaterial zu bringen. Wer sie sammelte, konnte zugleich schöne Erinnerungen gewinnen. Die Damen hatten wohl noch Zeit, ab und zu die vieldeutigen Glückwünsche aus dem Kästchen zu nehmen und sich die Freuden und Schmerzen ins Gedächtnis zu rufen, die sie ihnen gebracht. Da gab es aufklappbare Kärtchen, in denen sich ein junger Mann als Freund in allen Lebenslagen anpries. Auf anderen Kärtchen waren Blumen herauszuziehen, die den Lebensweg der Empfängerin schmücken sollten. Paradiesische Landschaften, denen kleine Spiegel als Seen eingefügt waren, blumenumkränzte Sinnsprüche, Häuschen mit Liebespaaren, hinter papiernen Spinnennetzen versteckte Schönheiten, Mädchen, die sich zum Kusse neigten – alles das wurde auf Glückwunschkarten verschickt.«
Die Dame des Biedermeier zeigt nach Moreck die Haltung eines auf Repräsentation bedachten Menschen, dem Adel die Verpflichtung vorbildlicher Lebensführung bedeutet. Ein sicherer Geschmack, der alle modischen Extravaganzen bewußter Koketterie verpönt, hat den Anzug gewählt, der die charakteristischen Grundformen der Mode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennen läßt. Dieses Kleid läßt ein Stück des Ancien régime wieder aufleben, aber nur als Erinnerung an eine feudale Geschmackskultur mit ihrem Formenreichtum und ihrer festlichen Gehobenheit ... Der runde Courausschnitt entblößt die Achseln und läßt die Schönheit einer sanft geschwungenen Nackenlinie, jene hinreißende Kurve körperlicher Anmut, voll zur Geltung kommen, während die leichtgeschwungene Herzlinie des oberen Taillenrandes den Reiz der mit leichter Schwellung sich erhebenden Brust beim verwirrenden Schauspiel des wogenden Atems erblicken läßt. Diese schönen, sanftblickenden Frauen, diese ästhetischen vornehmen Gestalten, diese zarten weiblichen Wesen, denen selbst in reiferen Jahren etwas Schamhaftes und Keusches anhaftet, haben die einzige Verpflichtung, anmutig und lieblich zu sein. Die Schmachtlocken und der Mittelscheitel tragen zur Verwirklichung dieses keuschen Frauentypus bei. Auch die um den Kopf gelegten Flechten, die manche Frauen bevorzugen, verleihen den Gesichtern etwas Tugendhaftes und Sittenstrenges. Die Männer fühlen sich von diesen idealen Frauengestalten gehoben. Schon Theodor Körner schrieb von seiner Braut, der Schauspielerin Toni Adamberger, die die Lebemänner des Wiener Kongresses zynisch »Tugenddragoner« nannten, an seinen Vater 1812: »Ich darf es ohne Erröten gestehen, ohne sie wäre ich wohl untergegangen in dem Strudel neben mir. Du kennst mich, mein warmes Blut, meine ungeschwächte Kraft, meine wilde Phantasie; male Dir dies ungestüme Gemüt in diesem Garten von blühender Lust und berauschender Freude und Du wirst begreifen, daß mich nur die Liebe zu diesem Engel so weit brachte, daß ich keck aus der Schar heraustreten darf und sagen kann: Hier ist einer, der sich ein reines Herz bewahrt hat.«